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Höhenflucht

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Aus einem Vergleich der Einwohnerzahl unserer Berggemeinden in den Jahren 1869 und 1951 ergibt sich ein ständiges Zurückbleiben hinter der Entwicklung der niederer gelegenen Gemeinden: Während die Einwohnerzahl der unter 500 m gelegenen Gemeinden innerhalb von 82 Jahren um 61 Prozent anstieg, vermehrte sich die Zahl der Einwohner der höher als 1000 m gelegenen nur um 17 Prozent, was zum erheblichen Teil auf die Abnahme der selbständig bewirtschafteten Bauernhöfe zurückzuführen ist: auf die fortschreitende „Höhenflucht“.

Die Höhenflucht ist nicht auf Oesterreich beschränkt. Ueberall, in allen Hochtälern wandern die Menschen ab, erst die jungen Männer, nachdem — da nicht mehr lohnend — der Ackerbau aufgegeben und dann die Viehzucht eingeschränkt wurde. Höfe verschwinden und die bisher landwirtschaftlich genutzten Grundstücke werden zu Wald oder — in leider sehr vielen Fällen — zu Oedland.

Die Gründe sind verständlich. Das Leben auf dem Berg ist mühsam und eintönig, hart im ständigen Kampf gegen eine erbarmungslose Natur. Die dem kargen Boden abgerungenen Er träge sind bescheiden, die gewonnenen Erzeugnisse im Wettbewerb gegen die Talbauern oft unanbringlich. Die Zahl der Pflanzen, die mit Aussicht auf Erfolg gezogen werden können, wird mit steigender Seehöhe immer geringer und schließt im Falle einer Aenderung der Absatzverhältnisse eine Umstellung auf die Kultur anderer Pflanzen aus. Selbst das heute so gesuchte und geschätzte Holz ist wegen der schlechten Bringungsverhältnisse oft nur schwer zu verwerten, soweit es nicht überhaupt schon zur Bestreitung der dringendsten Auslagen längst geschlägert würde.

Viele Stellen, besonders das Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, bemühen sich, die Höhenflucht zu verlangsamen, indem sie gefährdete Betriebe weitgehend stützen und dur.ch Begünstigungen fördern. Auch die Landesregierungen und Landwirtschaftskammern arbeiten im selben Sinn, erfreulicherweise oft mit vollem Erfolg. (Besonders wohltätig wirkt sich — bei dem großen Kinderreichtum verständlich — die Kinderbeihilfe aus.)

Wenn trotz all dieser Hilfen, die sich freilich auf rund 167.000 Bergbauerngüter (unter insgesamt 43 3.000 Betrieben überhaupt) verteilen, die Höhenflucht noch immer unvermindert anhält, ist die Frage berechtigt, ob es nicht richtiger wäre, an Stelle einer Förderung sämtlicher Liegenschaften, also auch jener, denen aller Voraussicht nach nicht mehr zu helfen ist, nur den lebensfähigen und für die Gesamtwirtschaft wichtigen Betrieben zu helfen.

Bei den Untersuchungen sollten vorerst die Ursachen festgestellt werden, die den Notstand herbeiführten. In leider sehr vielen Fällen wird die Hilfe zu spät kommen, wenn z. B. die alten, kinderlosen Bauersleute den Hof verfallen, die Gründe verwildern und die Holzbestände Schlägern ließen. (Eine Rettung wäre vielleicht noch vor Jahren möglich gewesen, wenn der „auslaufende“ Hof einer leistungsfähigen Jungbauernfamilie gegen die Zusicherung des Ausgedinges übergeben worden wäre.) Dagegen mag noch mancher Hof zu retten sein, der nur deshalb in Notlage geriet, weil die Mittel fehlen, um die durch Feuer oder Lawinen zerstörten Gebäude wiederaufzubauen. Ungünstiger wieder liegen die Verhältnisse in jenen häufigen Fällen, wo die Voraussetzungen zur einstigen Begründung des Hofes im Laufe der Zeit weggefallen sind. Wir wissen, daß im 12. und 13. Jahrhundert, in einer Zeit wirtschaftlichen Aufstiegs, die Besiedlung unserer Alpentäler auch noch über den Talboden vorangetrieben wurde, besonders dort, wo in benachbarten Bergwerksbetrieben und Hüttenwerken günstige Absatzmöglichkeiten für alle Erzeugnisse der bäuerlichen Wirtschaft, insbesondere auch für Holz, bestanden: Ueberall, neben jedem Stollen, neben dem Hammer entstanden bis in Seehöhen von 2000 m, auch wenn der Boden noch so schlecht und die Witterung noch so rauh war, Bauernhöfe, die aber wegen des Wegfalles der Absatzmöglichkeiten ihre Lebensfähigkeit eigentlich schon damals einbüßten, als der Bergsegen erschöpft und der Geldbeutel der Bergherren leer geworden war und — bald nach dem Einsetzen des Goldstromes aus Amerika — die Bergleute die nun dem Verfall anheimfallenden Schächte verließen.

Andere Höfe, deren Lebensfähigkeit auf der Belieferung der Hüttenwerke mit Lebensmitteln und Holzkohle beruhte, mußten in Schwierigkeiten geraten, als diese durch den Wettbewerb der großen, Steinkohle verwendenden Industrien beeinträchtigt wurden und schließlich eingingen, als die Zahlungen für nach Rußland gelieferte Sicheln und Sensen — als Folge des ungünstigen Verlaufes des Krieges mit Japan — ausblieben. Vielen Bauern gelang es wohl, in mühsamster Arbeit, bei Verzicht auf jede Annehmlichkeit des Lebens, sich trotz alledem eine Zeitlang über dem Wasser zu halten, so lange sie vorwiegend nur von den Erzeugnissen des Hofes lebten und die Fabrikwaren noch nicht die selbst gewebten Stoffe verdrängt hatten. In dem Maße aber, als höhere — im Grunde genommen aber noch immer ungemein bescheidene — Ansprüche an das „Leben“ gestellt wurden, immer mehr Gegenstände des täglichen Gebrauches angekauft wurden und keine Schlägerungen mehr vorgenommen werden konnten, mußte es zum Zusammenbruch kommen. Die Liebe zur angestammten Heimat, das Glück des freien Lebens auf stolzer Höhe weit über dem engen Tal, hält wohl viele auf dem Hof zurück, doch auch nur so lange, bis sie anfangen, ihr Leben mit jenem des Städters zu vergleichen!

Der Bergbauer, für den gesunde Lebensgrundlagen bestehen, soll unbedingt und weitgehend gefördert und erhalten werden. Denn die Berg- . bauernschaft stellt die beste und sicherste Lebensquelle des Volkes dar. (Auf je 1000 Wiener entfallen 7, auf die Bewohner der Täler 11, auf die auf dem Berge Hausenden 23 Geburten im Jahr.) Ihr Ausharren auf der Höhe und ihre Arbeit schützen das tief liegende Tal (in Tirol nehmen 64 Prozent aller Lawinen ihren Ausgang von den nicht mehr bewaldeten Höhen), sichern die Wasserführung der Gerinne und die Aus- ' geglichenheit des Klimas. Ihre Erzeugnisse sind — und auch das rechtfertigt die für ihren Schutz notwendigen Aufwendungen — mengen- und gütemäßig sehr beachtlich und — eine planmäßige Lenkung und Fortsetzung des glücklich in Angriff genommenen Kampfes gegen die Tuberkulose und andere Viehkrankheiten vorausgesetzt — noch sehr steigerungsfähig: In ihrem unter härtesten Bedingungen aufgezogenen Vieh schlummern Eigenschaften, die es zum besten Zuchtvieh, zur Grundlage der wirtschaftlichen Viehhaltung der Ebene und Tälgebiete machen. Die Milcherzeugnisse entsprechen den höchsten Anforderungen, und das in den Bergen wach-

sende kleinporige Holz entspricht den strengsten Anforderungen. Es darf bei allen Lieberlegungen auch nicht übersehen werden, daß der zunehmende Besuch der Bergwelt durch Erholungsuchende dem Bergbauern neue Einnahmsmöglichkeiten eröffnet.

Das wichtigste für den Bergbauern wird aber immer eine glücklich abgestimmte Zusammenarbeit mit dem Bauern in der Ebene sein, mit dem ihn eine vielfältige, dem oberflächlichen Beobachter nicht immer sichtbare Interessen-

gemeinschaft verbindet: So gewinnt z. B. auch er durch einen kostendeckenden Getreidepreis (selbst dann, wenn er seinen Brotbedarf im Laden deckt!), da er den Talbauern in die Lage versetzt, Einstellvieh in den Bergen zu kaufen, und ihn zugleich davon abhält, selbst Vieh zu züchten.

So sind die Aussichten für die Existenzsicherung der Bergbauern keineswegs so ungünstig, als es angesichts der eingangs angeführten Zahlen erschien. Freilich müssen viele einschneidende Umstellungen vorgenommen werden, die der kapitalarme Bergbauer nicht ohne Hilfe der Allgemeinheit durchführen kann. Diese Allgemeinheit hat bisher für seine Schwierigkeiten nur herzlich wenig Verständnis gezeigt. Maßnahmen müssen aber in Angriff genommen werden. so lange es — noch Bergbauern gibt!

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