6545213-1947_11_02.jpg
Digital In Arbeit

Ein Volk auf Arbeitssuche

Werbung
Werbung
Werbung

Der allgemeine Tiefgang der Wirtschaft hat das Flüchtlingsproblem in Bayern erneut in den Vordergrund der Erörterungen gestellt. Als Krisenherd erster Ordnung bedroht es gerade diesen der süddeutschen Staaten, der (nach der Volkszählung vom letzten Oktober) bei einer Stammbevölkerung von 6,633.000 Personen 2,364.916 Zuwanderer aufnehmen mußte. 900.000 kamen aus dem Sudetenland, 544.000 aus Schlesien, 330.000 aus anderen Zonen Deutschlands, 194.000 aus den Südostländern und 401.000 “werden als Displaced Persons gezählt. Rund ein Viertel'der Bevölkerung setzt sich nach der Umsiedlung demnach aus „Fremden“ zusammen und soll für immer ein Bestandteil des Staates werden. Man wirft der im Dezember zurückgetretenen Regierung Dr. Högner nidit mit Unrecht vor, daß sie die Tragweite der dadurch aufgetretenen Fragen nicht erkannte oder erkennen wollte und daß die Planung der Umsiedlung und Seßhaftmachung infolgedessen ins Stocken geriet. So sei es vor allem ihr Verschulden, daß das bereits im November vom Länderrat verabschiedete Flüchtli'gsgesetz in Bayern noch immer nicht in Wirksamkeit getreten ist, daß bei der Regelung der Flüchtlingsfragen somit noch immer kein gesetzlicher Zustand Ordnung schaffe. Es ist klar, daß die Spannung zwischen Alt- und Neubürgern mittlerweite nicht gelindert wurde, sie wird durch die kaum zu überbrückende Kluft /.wisdien Besitzenden und Besitzlosen überlagert. Eine Klasse verbitterter Proleten scheint sich herauszubilden, die um so radikalere Ten lenzen zeigt, als sie durchwegs aus einem gehobenen Lebensstandard her aus deklassiert wurde. Das Wort vom „Fünften Stand“, das man in diesem Zusammenhang prägte, hat im überfüllten Rumpfdeutschland gewiß seine Berechtigung, wenn es nicht gelingt, durch tiefgreifende Maßnahmen jenen sozialen Ausgleich herbeizuführen, den der gemeinsam verlorene Krieg allen Deutschen auferlegt.

Angesichts dieser Sachlage hat die Regierung Dr. E h a r d nunmehr ein bayrisches Staatssekretariat für Flüchtlingsfragen geschaffen und damit den bisherigen Staatskommissar für das Flüchtlingswesen, Doktor J a e n i c k e, betraut. Der für die Umsiedlung verantwortliche Verwaltungsträger hat damit Ministerrang erhalten und wird im Kabinett alle jene Fragen zu vertreten haben, cTie sich auf dem Wege von der bloßen Zusiedlung zur endgültigen Seßhaft-machung ergeben. Im politischen Bereich ist dies fürs erste die Forderung nach staatsrechtlicher Gleichstellung, die im Flüchtlingsgesetz verankert werden muß und die den Neubürgern, welche bei den letzten Wahlen trotz mannigfacher Versprechungen nur drei, statt dreißig Parlamentsvertreter erhielten, auch die ihnen zustehenden demokratis .'ien Rechte einräumt. Im sozialen Sektor ist die Unterbringung und die Versorgung mit Kleidung und Hausgerät nach wie vor das große Problem der zuständigen Stellen. 150.000 Ausgewiesene aus dem Sudetenland verbringen den frostkalten Winter in Barackenlagern, trotzdem noch gar manche Altbürger auch über das alte Ausmaß ihres Wohnraumes verfügen. Die Auszahlung der Renten und Pensionen kommt erst langsam in Gang. „Widerruflich und unter Vorbehalt eines Erstattungsanspruches“ werden Höchstsätze von 120 bis 200 Reichsmark gewäh.t, die für die Masse der überalteten Flüchtlinge zum Leben zu wenig und zum Sterben zuviel bedeuten. Die überaus härte Steuerschraube drückt besonders auf die Umsiedler, die aus den laufenden Bezügen keinerlei Rücklagen bilden können, um damit auch nur die dringendsten Neuanschaffungen zu besorgen. Auch das Denazifizierungsgesetz trifft mit seinen Sühne- und Ge-bührnisbeträgen die Neubürger besonders hart, die ja durch den Verlust ihrer Heimat und ihres Gesamtbesitzes von sich aus schon weit über die Höchstsätze bestraft worden sind. Kommt noch dazu, daß ihre Spareinlagen und sonstigen Bankkonten annulliert wurden, so steht nun tatsächlich fast jeder Flüchtling vor der Frage, ob er ein Bürger werden kann oder Bettler werden muß.

Einbau in das Wirtschaftsleben

Die Frage ist, ob es gelingt, das Heer der Entwurzelten sinnvoll in das Wirtschaftsleben Bayerns einzugliedern. Erst dann würden die karitativ-sozialen Mittel der Flüchtlingsbetreuung durch produktive, an den Kern des Krisenherdes vorstoßende Maßnahmen abgelöst werden. Heute sind von 1,700.000 Flüchtlingen aus den ostdeutschen Gebieten rund 550.000 als arbeitsfähig gemeldet. 150.000 = 25 Prozent davon sind arbeitslos. Der größte Teil der übrigen ist berufsfremd eingesetzt, half bisher in der Landwirtschaft aus und stellte etwa 18 Prozent der Bauarbeiter, während der Anteil der einheimischen Bevölkerung in dieser Sparte nur 1,4 Prozent beträgt. Zur Änderung dieses Tatbestandes werden die kommenden Monate eine neuerliche Binnenwanderung erforderlich machen, die durch ein nun allgemein gefördertes Aufsuchen angestammter Arbeitsplätze gekennzeichnet sein wird. Das Um und Auf bildet dabei die große Planung, die den Einbau der Fachkräfte und die Neuerrichtung der Spezialindustrien von oben her in die Wege leitet. Wohldurchdachte Grundsätze der Industrieumsiedlung sollen dem bayrischen Wirtschaftsleben vor allem durch die Übernahme des sudetenländischen Industriepotentials erhöhte Produktivkraft bringen. Das vergangene Jahr hat es hierin freilich nur zu Ansätzen gebracht. Von 32 sudetendeutschen Industriezweigen, die wegen ihrer Exportkraft besonders erwünscht erscheinen, sind nur wenige seßhaft gemacht — teils aus Gründen der allgemeinen Wirtschaftsnot, teils aus gewissen Tendenzen, die noch im Dritten Reich erlassene Gewerbegesetze dazu benützten, um die Existenzgründung neuer Handwerker, Handelstreibender und Unternehmer zu erschweren. Neben dem erforderlichen Produktionsraum und den falsch verteilten Facharbeitern fehlt es vor allem an den nötigen Maschinen. Aufbau-, Anl tuf- und Betriebskredite wären vonnöten, um zusammen' mit der Gewährung von Steuererleichterungen den zahlreichen Betnebs-gründungen einen gesunden Start zu ermöglichen.

Die neuen Industrien

Nur zähester Unternehmergeist konnte die Barrieren überwinden, die sich dem Existenzstreben der Neubürger somit entgegenstellen. Ihm ist es in erster Linie zu verdanken, daß heute in Bayern bereits rund 600 Spezialbetriebe von Flüchtlingen, freilich zunächst nur auf mitt-lererN und kleiner Basis, laufen Die G a b-lonzer Glas- und Schmuckwarenindustrie, deren Exporthäuser ehedem einen Jahresumsatz von 2,4 Milliarden Reichsmark errelten, hat sich in der Gegend von Warmensteinach-Bayreuth und in Kaufbeuren niedergelassen, wo die „Allgäuer Glas- und Schmuckwaren G m. b. H.“ nach einem eben veröffentlichten Entwicklungsbericht in 230 Betrieben 2133 Menschen beschäftigt. Im Dezember lief hier die erste Hütte für die Erzeugung von Kompositionsglas an. 131 Drucköfen und 97 Lampenstellen werden durch weitere ergänzt und helfen ein Produktionsprogramm erfüllen, das neuerdings auch für italienische Aufträge arbeitet. Die böhmische Wertglaserzeugung aus Steinschönau ließ sich in Vohenstrauß nieder, wird aber noch nach anderen Produktionsstätten (unter anderem in Kraiburg) Ausschau halten. Die Schönbacher Musikinstrumentenerzeuger haben in Erlangen die „Fränkische Musikinstrumentenerzeugung K. G.“ geschaffen und nehmen, wie demnächst die Graslitzer Musikinstrumentenbauer in Kraiburg ihre alten Exportverbindungen, vor allem nach den

USA, wieder auf. In Offenburg an der Donau bildet sich aus dem Kreis der ehemals weltberühmten Lederhandsrhu herze u-ger aus Bärringen und A b e r t,h a m ein „Verband der Lederindustrie“ In Wolfratshausen (Oberbayern) konzentriert sich die holzverarbeitende Industrie aus dem Böhmerwaldstädtchen T a c h a u, deren Knopferzeugnisse in USA, in Kanada, in Südamerika und Ostasien ihre festen Märkte hatten. Hier wie in vielen anderen Fällen hängt das volle Anlaufen der Erzeugung von der Frage ab, ob das Gebäudesystem ehemaliger Sprengstoffwerke als dem Frieden dienende Produktionsstätte erhalten bleibt.

Ein „Textildorf“ entsteht

Im Textilsektor soll die amerikanische Rohstoffanlieferung auch den Flüchtlingsbetrieben zugute kommen. Daß trotz schlechter Maschinen- und Energieverhältnisse bereits Bedeutendes geschaffen wurde, beweist die im Allgäu wiedererstandene Firma „Kunert“ (in Warnsdorf ehemals die größteStrumpffabrik Europas), die neben anderen Textilerzeugnissen bereits wieder 500 Strümpfe täglich herstellt. Erwähnenswerte Leistungen weisen Betriebe von Taschentucherzeugern (Marktoberdorf), Kunstblumen- und Schmuckfedernherstellern (Traunstein) und Spitzenklöpplern auf. welch letztere sich in München zu einem Verband zusammenschlössen und ihre zum großen Teil auf Heimarbeit basierende Erzeugung in Marktoberdorf, Grafenau, Zwieseln usw. wiedererrichteten. Die einstmals größte Haarhutfabrik Deutschlands, „H ü c k 1 & C o.“, hat sich bei Weilheim Produktionsansätze geschaffen und strebt, wie zahlreiche andere Unternehmungen der einst mit Millionen von Spindeln und Hunderttausenden von Webstühlen arbeitenden sudetenländischen Textilindustrie, eine neue Arbeitsba'ij an. Neben den Unternehmern streben nun allmählich Tausende von Textilfacharbeitern in die alteingesessenen Produktionszentren. Hier wie ebenso in der exportwichtigen Porzellanindustrie vermögen die Ausgewiesenen empfindliche Lücken in der ansässigen Spezialarbeiterschaft zu füllen. (200 von 800 Betriebsmitgliedern einer Augsburger Spinnerei sind Flüchtlinge aus dem Sudetenland). — Großes Interesse erwecken verschiedene industrielle Siedlungsvorhaben, die der Seßhaftmachung der Ausgewiesenen durch Neugründung von ganzen Städten und Produktionszentren das Gewicht tiefgreifender Binnenkolonisation geben: so in Osterhofen (Niederbayern), wo ein „Textildorf“ ^basierend auf verschiedenen Betrieben der Bekleidungsindustrie sowie auf Boden- und Bauwirtschaft) entstehen ; soll, in Kraiburg am Inn, in Wolfratshausen oder in Eschenbach, wo ein fortschrittliches Stadtregiment den Königsberger Möbeltischlern die Ansätze zu einer großzügigen Werksiedlung geschaffen hat. Die „Bayreuther Siedlungswerkstätten G. m. b. H.“ beschäftigt in ähnlichen Niederlassungen 600 Arbeitskräfte, die Möbel und Lederwaren für den Inlandmarkt und für den Export herstellen.

Allerorts sieht man solcherweise neues Industrie- und Gewerbeleben in Bildung begriffen. Ein Weg von geschickten Improvisationen wird beschritten, und in manchem Betrieb stehen die Flüchtlingsbündel noch neben der Werkbank, die man sich mühsam aus den Schutt- und Eisenresten der zerbombten Städte zusammensuchte. Die bevorstehende Bodenreform, deren Durchführung gleichfalls durch mancherlei Traditionen gehemmt wird, soll vom agrarischen und vom Wohnungssektor her die ökonomische Seßhaftmachung der Flüchtlinge unterstützen. Fürs erste will man auf 40.000 Hektar freigewordenen Lande 70.000 bis 100.000 landwirtschaftliche Nebenberufs- und Gartensiedlungen schaffen, für späterhin will man den Neu bürgern 180.000 Hektar zur Verfügung stellen.

Was will das alles aber im Vergleich zu dem 10- bis 20fach größeren Bedarf bedeuten? Was will es bedeuten, wenn bisher ganze 200 sudetenländische Bauern wieder auf eigener Scholle untergebracht wurden? Hier tuen sich die Grenzen auf, die das Fassungsvermögen der deutschen Aufnahmeländer stellt und die auch in Bayern die Folgen von Potsdam deutlich sichtbar machen. Am Vorabend der Moskauer Verhandlungen blicken daher vor allem die Flüchtlinge nach einem Ausweg, welcher der in Deutschland zusammengedrängten Bevölkerungsmenge wenigstens einigermaßen wieder Luft und Raum zum Leben gibt.

Nun sei hereit

Verbraucht und grau — so liegt der Schnee auf Feld und Wegen. Das Gehn macht müd'. Und irgendwie riecht es nach Regen. Zwar sieht das Land so winterlich wie gestern aus. Und doch hält es dich nicht im festverschloßnen Haus, denn in der Luft liegt erstmals wieder jenes Sehnen nach weichem Wind, in dem sich Haar und Kleider dehnen, nach Duft von warmem Wald und breiten Ackerschollen, die feucht und dunkel sind und schon besät sein wollen.

Da willst du deine Arme spannen — weit, so weit, und bist selbst wie ein Feld gelockert und bereit, um deine Kraft dem Werk zu geben — es zu tragen, bis es erblüht und Frucht bringt hoch in Sommertagen. —

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung