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Krank, „wenns nimmer anders geht“

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Die Arbeitnehmer sind hier besser gestellt als die Bauern selbst. Schon durch das Landarbeiterversicherungsgesetz vom 18. Juli 1928 kam es zur gesetzlichen Regelung der Kranken-, Unfall-, Alters- und Invalidenversicherung der Landarbeiter mit den Arbeitnehmern in Industrie und Gewerbe. Es nimmt nicht wunder, daß der Gesundheitszustand der Arbeitnehmer in der Landwirtschaft, vielerorts daher besser ist als jener der Bauernfamilie. Die Gründe dafür sind einleuchtend: Der Landarbeiter sucht schon bei geringen Beschwerden den Arzt auf, der Bauer — er muß ja selbst für das Arzthonorar aufkommen — geht dann, „wenn's nimmer anders geht“. Daß die Arzt-, Heil-und Spitalskosten in den letzten Jahren bedeutend angestiegen sind, braucht nicht besonders erwähnt zu werden. Ein schwerer Krankheitsfall in der Familie kann einen Kleinbauern vor den Ruin bringen. Die nicht unbedeutende Inanspruchnahme des Unterstützungsfonds der landwirtschaftlichen Zuschußversicherungsanstalten ist ein Beweis, daß viele — vor allem kleinere Bauern — durch Krankheitsfälle in akute Not geraten.

Den selbständigen Landwirten und ihren mitarbeitenden Familienangehörigen ist gemäß § 18 ASVG lediglich die Möglichkeit einer freiwilligen Selbstversicherung gegeben, von der übrigens auch viele Gebrauch machen. Die Nachteile der Selbstversicherung sind bekannt:

• der Ausschluß der sogenannten alten Leiden;

• Altersbegrenzung für den Beitritt;

• schlechte Riskenauslese, wodurch die Notwendigkeit höherer Beiträge besteht.

Die soziale Einrichtung einer Pflichtversicherung kann also durch die Möglichkeit dieser freiwilligen Versicherung nicht ersetzt werden. Es ist daher unverständlich, daß ein Teil, vor allem größere Bauern und Bauernvertreter, für die obligatorische Versicherung noch immer zuwenig Verständnis aufr bringt — sie müßten doch sehen, daß im Zeitalter der vorbeugenden Therapie, der Gesundenuntersuchungsstellen, die Gesundheit des Bauernstandes immer mehr ins Hintertreffen kommt.

Für den Bauern der dreißiger und vierziger Jahre genügte es, über einige Kunstdüngersorten Bescheid zu wissen. Der Landwirt von heute braucht ein solides theoretisches Wissen. Ist das auch weitgehend vorhanden? Rationalisierung, Technisierung, Produktionsund Qualitätssteigerung verlangen entsprechende Kenntnisse der Betriebsund Marktwirtschaft. Die enorme Arbeitsüberlastung verhindert aber eine fundierte Weiterbildung. Unzeitgemäße Bewirtschaftung, Fehlinvestitionen und viele unnötigen Arbeitsleistungen sind die Folge. Gibt es kein Entrinnen aus diesem Teufelskreis?

Gerade in den letzten Jahren haben die Kammern das Beratungswesen und das sogenannte Fortbildungsschulwesen ausgebaut. Es hat lange gebraucht, bis man allgemein zur Einsicht kam, daß man dem Bauern von morgen die Fachausbildung zur Pflicht machen muß. Niederösterreich hat hier eine neue Initiative angekündigt: Die in den Dörfern bestehenden Fortbildungsschulen werden aufgelöst und durch Internatsschulen ersetzt. Bereits im Herbst dieses Jahres werden die ersten neuen „Agrarinternate“ den Unterricht aufnehmen. Der Lernerfolg in diesen Berufsschulen, in denen auch entsprechende Fachkräfte zur Verfügung stehen werden, wird wahrscheinlich bedeutend größer sein als in den oft sehr locker geführten Fortbildungsschulen in den Dörfern und Märkten.

Es wäre wahrlich zu wünschen, daß man den Jungbauern in Hinkunft auch etwas mehr Wissen um die wirtschaftlichen Spielregeln der modernen Marktwirtschaft vermitteln würde. In den Industriebetrieben weiß man heute — auf Grund der Marktforschung — ganz genau, was der Konsument will und was er braucht. In der Landwirtschaft steht man leider noch meist auf dem Standpunkt: Verkauft muß werden, was erzeugt wird. Natürlich kann sich der Bauer nicht so weitgehend nach den Wünschen der Konsumenten richten wie ein anderer Unternehmer. Die Kuh kann nun einmal nur Milch erzeugen und nicht Bier!

Aber kann der Bauer sich nicht trotzdem weitgehend den modernen Markterfordernissen anpassen? Ein Beispiel: Im Mostviertel werden heute noch tausende Hektoliter Most erzeugt, obwohl der Arbeiter Bier und Coca-Cola, der Angestellte Apfelsaft trinkt. Der früher so begehrte Most verdirbt in den zum Bersten gefüllten Kellern, wird zu Schleuderpreisen, die weit unter den Gestehungskosten liegen, verkauft.

Warum erzeugt man nicht mehr Süßmost? Der Stolz der Mostviertier mag einmal der herbe Apfelmost gewesen sein, morgen könnte es der Apfel s a f t sein. Wer fragt da nach den Wünschen des Verbrauchers, die durch das vorhandene Produkt offenbar nicht mehr befriedigt werden? Könnte man hier nicht auf genossenschaftlicher Basis durch die vermehrte Erzeugung von Apfelsaft viel erreichen?

Der Mangel an Berufsausbildung, an Allgemeinwissen, war Kennzeichen des Proletariats von gestern. Der Bauer von heute wird nur dann Anschluß an die übrigen Gesellschaftsschichten finden, wenn ihm diese beiden Faktoren ausreichend vermittelt werden.

Die Desintegration des dörflichen Milieus durch die modernen Kommunikationsmittel, durch Pendler und Fremdenverkehr hat es mit sich gebracht, daß es die seit alters her gepflegte Nachbarschaft als Hilfsgemeinschaft, als religiösen und kulturellen Lebenskreis weithin nicht mehr gibt. Das Bauerntum wird immer mehr in einzelne Betriebe aufgespalten. Da die Unselbständigen immer weniger werden, scheint der Familienbetrieb die typische Wirtschafts- und Lebensgemeinschaft von morgen zu sein.

Nach Prof. Dr. Priebe, Frankfurt am Main, ist der Familienbetrieb eine sozial-ökonomische Einheit, ein Gebilde, das überhaupt nur existieren und die Vorteile seiner Arbeitsverfassung nutzbar machen kann, wenn es sich um eine wirklich echte Familiengemeinschaft handelt. Sie muß in sich genau so gesund sein wie der Betrieb, sonst funktioniert beides nicht. Schlechte Wirtschaftsergebnisse mancher Familienbetriebe sind nicht auf ökonomische und betriebswirtschaftliche Fehler zurückzuführen, sondern auf ein Mißgeschick (zum Beispiel Krankheit) oder auf Spannungen in der Familie.

Es ist nicht schwer, die Probleme zu sehen, die Prof. Priebe andeutet: Zwi-stigkeiten, Ehescheidungen auf dem Bauernhof — heute gar nicht mehr so selten — Meinungsverschiedenheiten mit der alten Generation, die vielfach noch am rein patriarchalischen Denken festhält. Es muß gelingen, zwischen jung und alt zu einem Verhältnis echter Partnerschaft zu gelangen. Es geht auch um Fragen der Erziehung, geht um die Beteiligung der jungen Generation am Erfolg, um die Hofübergabe. Alle diese Fragen können außerordentliche Schwierigkeiten in den Betrieb hineinbringen, können geradezu Sprengstoff sein, wenn sie nicht richtig gelöst werden.

Ist es daher nicht verständlich, daß gerade die bäuerliche Familie von heute ein gesundes religiöses und menschliches Fundament braucht, daß sie soziale Sicherheit und wirtschaftliches Können bitter notwendig hat?

Es scheint, daß sich der Bauer in unserer Zeit vielfach isoliert vorkommt, alleingelassen mit seinen Schwierigkeiten und Problemen, nicht-verstanden von den übrigen Bevölkerungsschichten. Es fehlt auch mitunter das richtige Vertrauen zu seinen Standesvertretern. Er hat zweifellos an personeller Bindung zu den sekundären Sozialgebilden, wie Standesorganisation, Genossenschaft und Partei verloren.

Wer ist schuld daran? Hat der Bauer an politischer Reife eingebüßt? (Man denke daran, welch große Männer der Bauernstand schon hervorgebracht hat!) Oder sind die Bauern enttäuscht? Von ihren eigenen Politikern, von den

Es gibt Symptome, die auch in diese Richtung weisen. Wurden nicht in letzter Zeit bei so mancher Versammlung Standesvertreter ausgepfiffen? Oder zeugt dies von einer Radikalisierung der Bauernschaft?

Es ist leider eine Tatsache, daß die Führungsgremien der Bauernschaft — in großen wie in kleinen Kreisen — ihren Aufgaben nicht immer voll gerecht werden konnten. Zu ihrer Rechtfertigung sei festgehalten, daß sie das ungeheure Tempo des Strukturwandels vor oft fast unüberwindliche Schwierigkeiten stellte. Aber wäre nicht für einen Teil der Bauernführer schon Zeit, in den wohlverdienten Ruhestand zu gehen und nicht nur den Hof, sondern auch den Abgeordnetensessel einer jüngeren Generation zu überlassen? Und lassen nicht geringe Ausbildung und mangelnde Schulung so manchen Bauernvertreter gegenüber den Managern der modernen Industriegesellschaft, den bildungsbeflissenen Gewerkschaftsfunktionären ins Hintertreffen kommen?

Geschulte, tatkräftige Bauernführer, nicht nur in den oberen, auch in den unteren Gremien, die in politischen wie in wirtschaftlichen Belangen in gleicher Weise Bescheid wissen, wären ein Gebot der Stunde. Sie müßten sich bewußt sein, daß in der modernen Industriegesellschaft neben den Faktoren Kapital und Arbeit auch das sogenannte Management immer mehr an Bedeutung gewinnt. Das soll nicht negativ ausgelegt werden. Es bedeutet, daß man auch in der Landwirtschaft auf die planmäßige Organisation der Produktionsfaktoren, auf die Führung der Führungskräfte — Ausbau des Beratungswesens! — wird mehr Rücksicht nehmen müssen.

Vieles wird nötig sein, um unserer Bauernschaft am Vorabend der wirtschaftlichen Integration das geistige und fachliche Rüstzeug für ihren gesicherten Bestand zu geben.

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