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Roter Adler - wohin?

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Tirols Wirtschaft steht heute im Zeichen des allgemeinen Aufschwungs, den die gesamtösterreichische Wirtschaft seit der Wiedererlangung der Freiheit genommen hat. Sie nimmt zwar keine Sonderstellung innerhalb der Gesamtwirtschaft Oesterreichs ein, weist aber doch einige besondere Aspekte auf.'

Das klassische Verkehrsland Europas — inmitten der Alpen, am Schnittpunkt einer wichtigen West-Ost-Verbindung und der für den Nord-Süd-Verkehr günstigen, weil niedrigen Paßübergänge (Brenner- und Reschenpaß) — hat in den letzten Jahren einen großen Aufschwung im Fremdenverkehr genommen. Mehr als vier Milliarden Schilling nimmt die österreichische Wirtschaft aus dem Fremdenverkehr ein, von Tirol allein mehr als 1,5 Milliarden. Diese günstige Entwicklung des Fremdenverkehrs ist nicht nur dem wirtschaftlichen Aufschwung Westeuropas seit dem Ende des zweiten Weltkrieges, sondern auch der unermüdlichen Aufbauarbeit zu verdanken. Im Hotel- und Gastgewerbe wurde — besonders seit dem Abzug der Besatzungsmacht — gewaltige Arbeit geleistet. Der Bau von Bergbahnen und Skilifts wurde intensiv fortgesetzt, dem Bau neuer Straßen sowie dem Ausbau der bestehenden wird besonderes Augenmerk geschenkt.

In Handel, Gewerbe und Industrie Tirols sind heute mehr als 93.000 der rund 430.000 Bewohner des Landes tätig. Die Tiroler Industrie stellt einen beachtlichen Faktor im Rahmen der gewerblichen Wirtschaft des Landes dar, der an Einfluß und Bedeutung seit 1945 erheblich zugenommen hat. Zirka 5,8 Prozent der Tiroler Bevölkerung sind in den rund 240 Industriebetrieben beschäftigt. Der Anteil Tirols am Gesamtbeschäftigtenstand der österreichischen - Industrie erreicht etwa 4,5 Prozent. Die Tiroler Industrie verfügt über bestfundierte Betriebe. Industriebetriebe, die infolge des letzten Krieges und der Nachkriegswehen nach Tirol verlegt wurden, stellen heute einen integrierenden Bestandteil der industriellen Kapazität des LanrftfeS Qtäu ist>üii.' . inunniieO rbii/n ariisS Wenn auch,die alten Tiroler Erzvorkommen seit langem versiegt sind, so zeigen sich in letzter Zeit neue Ansätze in der Ausbeutung von Bodenschätzen, so das größte geschlossene Magnesitvorkommen Oesterreichs bei Fieberbrunn. Tirols Wasserkräfte bilden ein fast unerschöpfliches Reservoir, sie sind erst zu einem Viertel ausgenützt. Ein neues großes Werk der Tiroler Wasserkraftwerke AG. (TIWAG), das Kraftwerk Prutz-Imst, ist im vergangenen Jahr fertiggestellt worden, an einem großen Speicherwerk im Kaunertal wird gearbeitet.

Als typischen Tiroler Aspekt im Rahmen der österreichischen Gesamtwirtschaft sei noch auf das sogenannte „Accordino“ vom Mai 1949 hingewiesen. Dieses Abkommen wurde zwischen der Republik Oesterreich und der Republik Italien abgeschlossen und verdankt seine Entstehung einer Tiroler Initiative. Es stellt einen gelungenen Versuch der Ueberbrückung der Brennergrenze auf wirtschaftlichem Gebiet dar, auf der Grundlage eines erweiterten Grenzabkommens zwischen den Bundesländern Tirol-Vorarlberg und Südtirol. Dieses Abkommen hat seit seinem Abschluß vor zehn Jahren noch an Bedeutung gewonnen.

Aus dem Gesagten ergibt sich, daß sich die wirtschaftliche Struktur Tirols stark gewandelt hat. Vergleichsweise gehörten im Jahre 1910 im politischen Raum des heutigen Tirols 44 Prozent der Bevölkerung der Land- und Forstwirtschaft und nur 28 Prozent der gewerblichen Wirtschaft an, während sich nach der letzten Volkszählung, 1951, die nun auch schon beinahe neun Jahre zurückliegt, schon zu diesem Zeitpunkt rund 48 Prozent der Bevölkerung der gewerblichen Wirtschaft und nur noch 26 Prozent der Land-und Forstwirtschaft zugehörig bekannten. Dadurch sind, wirtschaftsbedingt, soziologische Verschiebungen eingetreten, die zwangsläufig Wandlungen in der Denkart der Bevölkerung hervorrufen und sich nun auch politisch auszuwirken beginnen.

Die geistigen Auswirkungen dieser Veränderung verlaufen in doppelter Richtung. Wir haben zu untersuchen: Wie erträgt die Bauernschaft diese Situation und welchen Weg geht die gewerblich tätige Schichte der Bevölkerung Tirols?

Unbestritten ist, daß dem Anschwellen der gewerblich-wirtschaftlichen Bevölkerung eine gleichzeitige Abnahme der landwirtschaftlichen Bevölkerung, ausgelöst durch eine zunehmende Landflucht, gegenübersteht. Diese Landflucht ist selbstverständlich auch durch die angedeutete Gesamtentwicklung hervorgerufen worden, beruht aber auch zum Teil auf Gegebenheiten, denen man eine gewisse Eigenständigkeit nicht abzusprechen vermag. Der grundsätzlich statischen Bedarfsdeckungsgesinnung der älteren bäuerlichen Generationen — gewachsen aus der Selbstversorgungswirtschaft — steht eine dynamische Erwerbsgesinnung der jüngeren Generationen gegenüber, hervorgerufen durch die in der gewerblichen Wirtschaft bereits tätigen Jungbauern, deren Streben nach Anerkennung ihrer Mündigkeit im Konflikt mit der patriarchalischen Auffassung der Aelteren steht. Hier haben wir es also mit einer sich langsam Bahn brechenden Aenderung der bäuerlichen Wirtschaftsgesinnung und Weltanschauung im Generationsgefälle zu tun. Folgende Auswirkung beginnt sich> abzuzeichnen: Mit Ausnahme von Osttirol (und von Südtirol, das aber in diese Ausführungen nicht mit einbezogen ist) sowie der unwegsamen Gebirgstäler wird der Ursprung--lieh unabhängige, autarke und daher geldarme Bauer vom bäuerlichen Arbeiter der gewerblichen Wirtschaft und der Fremdenverkehrsindustrie, der hauptsächlich Geld verdienen will und den elterlichen Hof nur noch als Wohn-, aber nicht mehr als Arbeitsstätte betrachtet, verdrängt. Vielfach wurden diese jungen Bauern auch durch die wirtschaftlichen Verhältnisse der Höfe einfach gezwungen, sich woanders ihr Brot zu suchen. Diese Ursachen ändern jedoch nichts an der geistigen Entwicklung der nunmehr arbeitsmäßig vom Hof Getrennten. Hier droht ein Entwurzelungsprozeß, der sich bereits politisch ausdrückt. Das „Ueberkommene“ wird zum „Ballast“, denn man hat ja materiell „nichts davon“, ein Ballast, der den Weg versperrt zu einem angenehmeren und leichteren Leben. Das Christentum ist vielfach zum Traditionschristentum geworden. Das Brauchtum wird sehr oft nur noch als Fremdenverkehrsattraktion geübt, die alten Trachten für die Fremden getragen und im übrigen der Nylon- und Musikboxromantik der Vorzug eingeräumt. Auch scheint man fast ängstlich darauf bedacht zu sein, den Fremden zu beweisen, daß man hier einer gewissen „internationalen“ Unmoral in keiner Weise nachsteht. Das einst bäuerliche und „heilige“ Land Tirol wird im Sommer und in manchen Gegenden auch im Winter zum Großbetrieb der internationalen Fremdenindustrie, mit allem, was dazu gehört, Hauptsache „es tragt was“. Dies alles schlägt eine Bresche in die traditionell katholisch-konservative Einstellung und die aus dieser Einstellung resultierende Haltung mancher Tiroler Bauern.

Die gewerbliche Wirtschaftsform dringt immer weiter ins Dorf vor, und in ihrem Gefolge bahnt sich auch eine Aenderung der Wohnlandschaft an. Langsam dürfte es auch in Tirol zur sogenannten „Soziallandschaft“ kommen, die bekanntlich dort entsteht, wo industrielle und verwandte Wirtschaftsformen in bäuerliche Gegenden vorstoßen und sozusagen zu soziologischen Grenzbezirken verschmelzen. Dies kann man besonders in einigen größeren Orten des Inntales erkennen, so zum Beispiel in Telfs, Wattens, Jenbach und Brixlegg. Jenbach zählt zum Beispiel heute bei einer Einwohnerzahl von rund 5000 Seelen nur noch 50 BauernI Auf der anderen Seite besteht eine Mehrheit von in der gewerblichen Wirtschaft tätigen Menschen, die teilweise bäuerlicher Herkunft sind. Die übrigen gewerblich-wirtschaftlich Tätigen, Selbständige und Unselbständige, unterscheiden sich in ihrer Grundeinstellung nicht wesentlich von den gleichen Kreisen im übrigen Oesterreich. Die meisten Selbständigen aller Einkommensstufen scheinen vom harten Konkurrenzkampf so hergenommen zu werden, daß sie für andersgeartetes Denken im allgemeinen keine Zeit finden. Die Unselbständigen (Arbeiter und kleine Angestellte) entwickeln sich langsam infolge der Anwendung der Gründsätze der sozialen Marktwirtschaft vom ursprünglich proletarischen Grundstock zu einer neuen, man möchte sagen,

„klein-bürgerlichen“ Schichte mit Ansätzen zu einer gesunden Erwerbsgesinnung. Diese letztere läuft allerdings Gefahr, durch ein überspitztes Sozialforderungsprogramm im Keime erstickt zu werden. Im Gegensatz zu den meisten bäuerlichen „Konsumenten“ beginnen Arbeiter und Angestellte langsam auch an anderes zu denken als nur an den Lebensstandard, wenn sie auch die Angst, diesen beeinträchtigt zu sehen, immer wieder an den Meistbietenden verschachert. Allerdings wird dieser Weg hin zu einer christlichen Lebenseinstellung noch sehr zögernd beschritten, aber nicht wenige gehen ihn ganz bewußt und ringen sich zur Kirche durch, in ihrem Fall ebenfalls die Schwerkraft einer hemmenden Tradition überwindend. Hier gibt es zweifellos viele Ansatzpunkte für eine Missionierung, und man hat dies auch an höchster kirchlicher Stelle in Tirol sehr gut verstanden.

Zuletzt sei noch der sogenannten „bürgerlichen“ Mittelschichte des Landes Erwähnung getan. Hier handelt es sich in den wenigsten Fällen um „Besitzbürger“ im Sinne der Definition aus dem Vokabular der Sozialwissenschaften. Dieser Schichte gehören an: die höheren Beamten und leitenden Funktionäre der Behörden, der Gerichte, der Selbstverwaltungskörper und der Stadtgemeinden sowie die freiberuflich, wissenschaftlich und im Lehrberuf tätigen Akademiker. Diese Menschen sind das geistig tragende Element des föderalistisch-konservativen Tirols, und in den meisten Fällen halten sie auch nicht nur traditionsmäßig, sondern bewußt der Kirche die Treue.

Auf Grund der hier angedeuteten Entwicklungen ergibt sich auch ein anderes Verhältnis zu Wien, dem „Wasserkopf“ Oesterreichs, wie man hier die Bundeshauptstadt gern genannt hat. Der in der gewerblichen Wirtschaft tätige Teil der Landesbevölkerung hat mit Wien mehr Gemeinsames als Trennendes, die neue bäuerliche Konsumentenklasse denkt an Wien höchstens als einen Ort, wo sich ein beneidenswertes Dasein führen läßt. Die übrigen Tiroler, also die noch überwiegende Mehrheit der Bauern und die bürgerliche Mittelschichte, haben nichts gegen Wien, solange man sie in Ruhe läßt und ihnen einen gewissen selbständigen, ihrer Eigenart entsprechenden Lebensraum gewährt. Zweifellos hatte die Kirchen- und Religionsfeindlichkeit der Sozialisten in der Ersten Republik zu einer besonderen Abwehrstellung gegen die „gottlost“ Bundeshauptstadt beigetragen. In der nationalsozialistischen Zeit wurde diese Einstellung durch die Widerstandskoajition stark gemildert, nach 1945 durch die Trennungslinie an der Enns und die nebulose Haltung der Sozialisten hinsichtlich ihrer Einstellung zur Kirche wieder etwas akzentuiert.

Heute dürfte es allein von Wien abhängen, wie sich die Zukunft diesbezüglich gestalten wird. Eine taktvolle Behandlung Tirols, verbunden mit einer echten Abkehr gewisser Kreise vom religiösen Ressentiment, wird sicher wesentlich dazu beitragen, daß der alte Gegensatz schwindet.

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