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Stirbt Österreich aus?

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Vor fünfzehn Jahren wurden noch 131.500 Lebendgeborene in Österreich verzeichnet, 1970 dagegen nur noch 120.000 und 1974 gar nur mehr 97.430 Lebendgeborene. Noch trister sieht die Geburtenstatistik im laufenden Jahr aus. Der Geburtenrückgang betrug im ersten Halbjahr gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum-1,1 Prozent; mit ziemlicher Sicherheit ist damit zu rechnen, daß auch 1975 wesentlich weniger als einhunderttausend Geburtenfälle zu verzeichnen sein werden. Trotz Geburtenbeihilfe, trotz mehr und größerer Wohnungen, trotz höherer (Doppel-)Einkommen junger Ehepaare, trotz Ermunterung aller einschlägig befaßten privaten und öffentlichen Stellen an junge Ehepaare, doch zwei, drei und mehr Kinder in die Welt zu setzen.

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Vor fünfzehn Jahren wurden noch 131.500 Lebendgeborene in Österreich verzeichnet, 1970 dagegen nur noch 120.000 und 1974 gar nur mehr 97.430 Lebendgeborene. Noch trister sieht die Geburtenstatistik im laufenden Jahr aus. Der Geburtenrückgang betrug im ersten Halbjahr gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum-1,1 Prozent; mit ziemlicher Sicherheit ist damit zu rechnen, daß auch 1975 wesentlich weniger als einhunderttausend Geburtenfälle zu verzeichnen sein werden. Trotz Geburtenbeihilfe, trotz mehr und größerer Wohnungen, trotz höherer (Doppel-)Einkommen junger Ehepaare, trotz Ermunterung aller einschlägig befaßten privaten und öffentlichen Stellen an junge Ehepaare, doch zwei, drei und mehr Kinder in die Welt zu setzen.

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Im internationalen Vergleich (siehe Tabelle) ist Österreich tatsächlich ein geburtenarmes Land. Kaum 13 Kinder entfielen 1974 auf 1000 Einwohner. Damit liegt Österreich hinter der Bundesrepublik Deutschland (10), der DDR (10,6), Luxemburg (11,5) und Belgien (12,6) an fünfter Stelle unter 26 Staaten. Noch vor rund sechs Jahren, 1968, entfielen in Österreich auf 1000 Einwohner 17 Lebendgeborene, und Österreich lag damals noch im ersten Drittel der geburtenstarken Staaten dieser Welt. So rasch können Positionen sich verschieben. Worin Hegt die Ursache?

Nettoproduktivität

Auch in den letzten sechs Jahren der stark sinkenden Geburtenfälle verblieb in Österreich nach Abzug der Sterbefälle jährlich ein Geburtenüberschuß. Dieser Geburtenüberschuß betrug 1961 rund 46.000, 1968 rund 36.000, doch 1974 nur noch 3100. Für das laufende Jahr ist zu fürchten, daß sich der Geburtenüberschuß noch mehr dem Nullpunkt nähern wird. Wie überhaupt, so schreibt das Statistische Zentralamt, eine „natürliche Wachstumsrate von 0,4“ Promille nicht darüber hinwegtäuschen darf, daß .die.österreichi-, sehe Bevölkerung mit einer Netto-produktionszahl von schätzungsweise 0,91 das zur Bestanderhaltung auf lange Sicht erforderliche Fruchtbarkeitsniveau mit 9.-Prozent unterschritten hat.“

Wie ist ein Nettoproduktions-koeffizient, der kleiner ist als 1, zu deuten? Der Nettoreproduktions-koeffizient gibt die Anzahl der Mädchen an, die von Frauen im gebärfähigen Alter (durchschnittliches Gebäralter: 27 Jahre) im Durchschnitt zur Welt gebracht werden. Selbst ein Nettoreproduktionskoeffi-zient von 1 ist noch nicht unbedingt mit einer stabilen Bevölkerung identisch, weil dies vor allem eine Frage des — in Österreich übrigens recht ungünstigen — Altersaufbaues der Bevölkerung ist. Unter der Annahme eines rund 120 Jahre lang anhaltenden Nettoproduktionskoeffizienten von 0,9 würde die österreichische Bevölkerung auf die Hälft dezimiert werden. Nun hält eine solche Annahme einer kritischen Betrachtung kaum stand. Sie läßt siel erstens nicht mit der Theorie de) Fruchtbarkeit vereinbaren und widerspricht zweitens der geschichtlichen Erfahrung. Noch nie hat eir gesundes Volk auf einen langanhaltenden Sterbeüberschuß nicht mi einer Erhöhung der Fruchtbarkei reagiert. Ein Volk stirbt nicht sc schnell aus.

Auch aus gesamtwirtschaftliche! Sicht problematisch ist fein zu starkes Pendeln des Nettoreproduktions-koeffizienten um das sogenannte Ersatzniveau von 1,0. Würde diese Zah zum Beispiel periodisch innerhall von dreißig Jahren zwischen einen Tiefpunkt von 0,8 (mit dem 1976 zi rechnen sein dürfte) und einem Ma ximum von 1,1 schwanken (als Vergleich: drei Kinder pro Familie würden einem Nettoreproduktionskoeffi-zienten von 1,4 gleichkommen), si Würden sich daraus erhebliche Verzerrungen im Altersaufbau der öster reichischen Bevölkerung ergeben Perioden, in denen stark besetzt Jahrgänge ins Schul-, Erwerbs- um Pensionsalter eintreten, würden mi Phasen wechseln, in denen diese Altersgruppen wieder viel schwäche besetzt wären. Ein derart periodiscl wechselnder Altersaufbau würd eine enorme Anpassungsfähigkeit der Schulungs-, Produktions- und Versorgungskapazität der österreichischen Wirtschaft und Gesellschaft erfordern, würde eine sehr weise Planung voraussetzen und riefe schließlich nach hochwirksamen Steuerungsmitteln unserer Wirtschaft.

Das Problem des starken Schwankens des Nettoreproduktionskoeffi-zienten ist in Österreich, wie die Lehrstellenknappheit zeigt, i.ehr aktuell. Zwischen 1946 und 1955 lag die Zahl der Lebendgeborenen im Durchschnitt um 100.000, es gab — von konjunkturellen Schwankungen abgesehen — kaum Schwierigkeiten, die in diesem Zeitraum Geborenen im jugendlichen Alter ins Berufsleben zu integrieren. Zwischen i960 und 1968/69 wurden jahresdurchschnittlich rund 130.000 Lebendgeborene verzeichnet, für die es nun gilt, auch Lehrstellen zu schaffen. Dabei gibt es, wie die Entwicklung des Arbeitsmarktes für Lehrlinge zeigt, heute schon große Schwierigkeiten, die sich in den nächsten fünf oder sechs Jahren nicht verringern werden. Ähnliches gilt im übrigen auch für die Schüler an höherbildenden Lehranstalten und an Universitäten. Die Zahl der Schulplätze ist derzeit verhältnismäßig gering, den Hochschulen und Universitäten droht, so es nicht ohnedies schon Übung ist, der Numerus clausus. Nun wäre es aber verfehlt, unter dem Eindruck der Engpässe im Lehrstellensektor, an den Schulen und an den Universitäten den Bau öffentlicher Einrichtungen (die Bundesregierung denkt beispielsweise an die Schaffung von zusätzlichen Lehrwerkstätten, an denen Lehrlinge berufs- und wirtschaftsfern ausgebildet werden sollen) zu forcieren, denn bei einer durchschnittlichen Bauzeit von vier Jahren wären diese zusätzlichen Einrichtungen schon nach wenigen, vielleicht sogar nach nur zwei Jah-, ren, stark unterbesetzt, wenn nicht sogar überflüssig. Denn spätestens 1983 werden Wirtschaft und Schulen wieder mit den Problemen der Lehrlings- und Schülerknappheit konfrontiert werden.

Ursachen von Wachstumsschwankungen

Geschichtlich gesehen, ist eine „Stagnation“ und nicht etwa ein dauerndes Wachstum der Bevölkerung der „Normalfall“. Der Normalfall ist letztlich auch aus ökologischen Gründen notwendig. Dieser Prozeß der „ethnographischen Transformation“ dürfte in Österreich etwa um 1800 seinen Anfang genommen haben. So lag der Geburtenüberschuß im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nur unwesentlich über dem j ahresdurchschnittlichen Geburtenüberschuß in den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts. Vieles deutet darauf hin, daß sich im letzten Drittel dieses Jahrhunderts die österreichische Bevölkerung allmählich zu stabilisieren beginnt, das. heißt, daß wir einem Zustand mit einigermaßen ausgeglichenem, stabilem Altersaufbau und einem Bevölkerungswachstum von plus/minus Null entgegensteuern. Dieser stabile Zustand ist charakterisiert durch eine niedrige Fruchtbarkeit und Sterblichkeit, einen höheren Bevölkerungsstand und einen sehr stark veränderten Altersaufbau.

Problematisch sind dabei die starken Schwankungen um den längerfristigen Trend, weil sie die Politik nur allzu leicht zu falschen Maßnahmen verleiten könnten. Diese starken Schwankungen werden weniger durch bewußte bevölkerungspolitische Aktivitäten herbeigeführt (sonst hätte die seit 1973 ausbezahlte Geburtenhilfe in Österreich zu einem Geburtenboom führen müssen, was nicht der Fall war), sondern einmal durch den Nettorepro-duktionskoeffizienten, das andere-mal aber durch gesellschaftliche und wirtschaftliche Strömungen und Stimmungen, die es über bestimmte Perioden ratsam oder nicht ratsam erscheinen lassen, Kinder in die

Welt zu setzen. Urbanisierung, Industrialisierung, relativ rasch steigender allgemeiner Wohlstand sind sicherlich die Geburtenrate nicht gerade hochtreibende Faktoren. Im Gefolge solcher Entwicklungstendenzen steigt notwendigerweise die mit verhältnismäßig hohen Ausgaben für Kauf und Erhaltung verbundene Motorisierung, sinkt (Urbanisierung!) die Wohnungsgröße und steigt, da es genügend Arbeitsplätze gibt, der Anteil der Frauen an der erwerbstätigen Bevölkerung. Nicht unbedingt eine kinderfeindliche Einstellung, vielmehr das Sinnen und Trachten junger Familien, am allgemeinen Wohlstand prompt und nachhaltig teilzuhaben, bestimmt sinkende Geburtenraten. Es ist deshalb nicht verwunderlich,, .wenn beispielsweise die im internationalen Vergleich weniger wohlhabenden Ostblock-Staaten eine sehr hohe Geburtenrate aufweisen; riip relativ hohp Oehiirt.pnrntp in dpn romanischen Staaten (Frankreich. Italien, Spanien) wiederum ist aui die von einer vergleichsweise starken religiösen und auch kinderfreundlichen Einstellung bestimmte gesellschaftliche Atmosphäre zurückzuführen.

Der Altersaufbau

Rund 30 Prozent der österreichischen Bevölkerung sind jünger als 20 Jahre, rund 20 Prozent älter als 60 Jahre. Die Erwerbsquote, das ist der Anteil der im Berufsleben stehenden Wohnbevölkerung an dei Gesamtbevölkerung, liegt bei knapr. 40 Prozent: Bei den Männern liegt die Erwerbsquote bei 52,5, bei der Frauen bei immerhin 29 Prozent Dieser Altersaufbau schneidet im internationalen Vergleich schlecht ab. wobei freilich zu sagen ist, daß dei Altersaufbau, nimmt man die Jugendlichkeit einer Bevölkerung als Kriterium, dort am „besten“ ist, wc auch die Sterblichkeitsrate am höchsten ist: in den meisten lateinamerikanischen Staaten, in den Entwicklungsländern generell. Im westeuropäischen Vergleich fällt aber dennoch auf, daß in der österreichischen Altersstruktur die Proportionen zu stark nach oben, in den Bereich der über Sechzigjährigen, verschoben ist. Immerhin ist zu bedenken, daß sich bei einem annähernd gleichen Anteil der noch nicht Zwanzigjährigen an der österreichischen Gesamtbevölkerung in den letzten 15 Jahren, die Erwerbsquote von 47,6 auf nur 39,6, also um ein gutes Siebentel reduziert hat. Auch daraus mußten sich zwangsläufig ökonomische Konsequenzen ergeben: ein immer geringerer Anteil an Erwerbstätigen muß einen immer höheren Anteil an Schülern und Pensionisten finanzieren. Die steigenden Bundeszuschüsse an die Sozialversicherungsanstalten, aber auch die steigenden Ausgaben für die Gesundheitspolitik, sind materieller Ausdruck dieser problematischen Entwicklung.

Sterben — statistisch gesehen

Die Zahl der Sterbefälle erreichte 1961 mit 85.673 ihr geringstes Ausmaß in den letzten 15 Jahren. Durchschnittlich lag die Sterbezahl in den letzten Jahren um 95.000, und zwar — infolge des nach oben unproportionierten Altersaufbaues — mit verhältnismäßig stark steigender Tendenz. Eine Analyse der Daten über die Sterblichkeit in Österreich zeigt ein Ost-West-Gefälle (mehr Sterbefälle im Osten als im Westen), eine höhere Sterblichkeit bei den Männern (Frauen leben im Durchschnitt um sieben Jahre länger als Männer) und einen auffallenden Rückgang von Sterbefällen infolge „,gefürch-teter“ Krankheiten (Rückgang der Sterblichkeit bei der Tuberkulose bis zu 40 Prozent, bei anderen Infektionskrankheiten bis zu 60 Prozent, selbst bei einigen Krebsarten, vor allem bei Magenkrebs). Dagegen liegt Österreich bezüglich der Diabetessterblichkeit und der Sterblichkeit durch Leberzirrhose im europäischen Spitzenfeld. Schließlich aber ist die Säuglingssterblichkeit in Österreich während der letzten zehn Jahre erheblich zurückgegangen.

Was kann man aus der demographischen Entwicklung Österreichs in den letzten Jahrzehnten lernen? Die Geburtenentwicklung ist rückläufig, hier müßten bevölkerungspolitische Maßnahmen unbedingt ansetzen (auch aus diesem Grund ist die Fristenlösung ein äußerst problematischer Akt), die Erwerbsquote war jedenfalls stark rückläufig, dürfte sich nun aber auf tiefem Niveau stabilisieren, die steigende Zahl der Sterbefälle ist eine Folge des gerade in den letzten zwei Jahrzehnten nach oben verschobenen ungünstigen Altersaufbaues Österreichs. Notwendig wäre demnach die Schaffung klarer demographischer Zielvorstellungen auf politischer Ebene, die nicht nur beim problematischen Altersaufbau ansetzen dürfte, sondern auch versuchen sollte, stärkere Schwankungen der Fruchtbarkeit zu vermeiden.

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