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Industrie im Wandel

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Vorarlberg ist zwar nach seinem Bevölkerungsanteil das kleinste, nach seiner Wirtschaftskraft aber ndcht das unbedeutendste unter den österreichischen Bundesländern. Ohne die Stellung herabmindern zu wollen, die anderen Bereichen — etwa dem überaus leistungsfähigen Fremdenverkehr, der Energiegewinnung aus den Wasserkräften oder dem vielgestaltigen Handwerk — im Rahmen des wirtschaftlichen Gesamtgefüges zukommen, ist doch die industrielle Fertigung nach wie vor die Hauptquelle des beachtlichen Wohlstandes der Bevölkerung unseres Landes. Von den insgesamt 66.000 nichtselbständig Beschäftigten der gewerblichen Wirtschaft Vorarlbergs standen zum Ende des vergangenen Jahres 33.800 in den Diensten heimischer Industriebetriebe. Das sind — obwohl auf Vorarlberg nur ein 3,6prozentiger Anteil an der österreichischen Gesamtbevölkerung entfällt — gut 5 Prozent aller Industriebeschäftigten Österreichs. Auch an Hand der Produktionswerte läßt sich leicht der Nachweis führen, daß Vorarlberg nicht zu Unrecht als das industriedichteste aller Bundesländer gilt. Sein Anteil an der Gesamtproduktion der österreichischen Industrie belief sich nämlich im vergangenen Jahr auf beachtliche 5,3 Prozent, Vorarlbergs Kopfquote im Export liegt ebenfalls weit über dem Bundesdurchschnitt.

Textilien dominieren

Wenn man sich vor Augen hält, daß im letzten Jahr in der Erzeugung von Baumwollgeweben 54 Prozent, von Trikotstoffen 84 Prozent, von Unterwäsche 70 Prozent, von Stickereien 100 Prozent der gesamtösterreichischen Erzeugung in Vorarlberg industriell gefertigt wurden, wird man ihm mit Recht die Bezeichnung „Textilland Österreichs“ zubilligen. Auch innerhalb der Industriestruktur des Landes dominiert eindeutig die Textilproduk-tion. Im vergangenen Jahr entfiel auf sie ein Anteil von 64,4 Prozent der gesamtindustriellen Erzeugung des Landes. 62,3 Prozent aller Arbeitnehmer in der Vorarlberger Industrie sind in der Textilproduktion beschäftigt.

Diese statistischen Angaben müssen mit denen vorangegangener Jahre verglichen werden, um ermessen zu können, wie sehr die Industriestruktur des Landes in Wandel begriffen ist. Von 1950 bis 1966 hat die Gesamtbeschäftigung in der Vorarlberger Industrie um 42 Prozent zugenommen. Während damals von insgesamt 23.720 Beschäftigten noch

68.2 Prozent auf die Textilindustrie entfielen, waren es zum Ende des vergangenen Jahres nur noch 21.050, was einem Anteil von

62.3 Prozent entsprach. Dabei war die Entwicklung in den einzelnen Textiisparten recht unterschiedlich. Dem Absinken des Beschäftigtenanteils der Baumwollindustrie (von 43 auf 27 Prozent) und der Wollindustrie (von 8,5 auf 5 Prozent) standen Anstiege bei den Wirkern und Strickern (von 11,5 auf 21 Prozent) und — in geringerem Maße — auch bei den Stickern soWie bei den Spitzen- und Gardinenbetrieben gegenüber.

Unterschiedliches Wachstum

Ein Blick auf die Entwicklung der — allerdings erst seit 1955 vorliegenden — Produktionswerte macht die Strukturveränderungen noch deutlicher. Damals erzielten die Industriebetriebe Vorarlbergs (ohne Säge-, Gas-und E-Werke) einen Bruttoproduktionswert von rund 3,1 Milliarden Schilling. Seit damals hat er sich um fast 143 Prozent auf 7,55 Milliarden Schilling im vergangenen Jahr erhöht. Seinerzeit entfielen auf die Textilindustrie noch 73,3 Prozent, im vergangenen Jahr waren es nur noch 64,4 Prozent. Obwohl die Textilindustrie ihren Produktionswert im angegebenen Zeitraum mehr als verdoppeln konnte, ging ihr Anteil an der gesamtindustriellen Fertigung erheblich zurück. Oder mit anderen Worten: Andere Industriesparten haben in diesen Jahren kräftig aufgeholt. Ihr Produktionswert (1966 — 2,7 Milliarden Schilling) hat sich in diesem Zeitraum verdreifacht. Der Eisen-, Metall- und Elektrosektor, die Nahrungs- und Genußmittelindustrie, die chemische Industrie und andere Sparten erzielten überdurchschnittlich hohe Zuwachsraten, in manchen Zweigen — wie etwa in der Kunststoffverarbeitung — wurde die Produktion erst vor wenigen Jahren aufgenommen und seither ebenfalls beachtlich ausgeweitet. Wenngleich nicht davon gesprochen werden kann, daß etwa die Textilproduktion stagniere — sie konnte 1966'bei teilweise völlig anders verlaufener Entwicklung als im übrigen Bundesgebiet ihren Produktionswert noch um 9 Prozent ausweiten —, ist doch nicht zu übersehen, daß andere industrielle Sparten sich kräftiger entfalten konnten.

Exporte schmälern Erträge

Auch darf die Tatsache, daß die Vorarlberger Textilindustrie im vergangenen Jahr fast 32 Prozent ihrer Produktion, somit also Waren im Werte von 1,6 Milliarden Schilling exportierte, nicht etwa als Anzeichen einer absolut sorgenfreien Entwicklung gewertet werden. Der Inlandsabsatz begegnet einem immer stärker werdenden Importdruck. Die bei annähernd konstanter Beschäftigung dank enormen Rationalisierungsbemühungen noch steigende Produktion wird also in immer stärkerem Maße ausgeführt (der Exportanteil des Jahres 1955 an der textilindustriellen Fertigung lag erst bei 28 Prozent). Dabei müssen vor allem wegen der EWG-Diskriminierung ständig Ertragseinbußen hingenommen werden. Die Zahl der Exporteure, die sich mit kaum mehr kostendeckenden Erlösen zufriedengeben müssen, wächst laufend.

Zwang zur Rationalisierung

Wie schon erwähnt, werden auch in Vorarlbergs Textilindustrie größte Anstrengungen unternommen, die Produktionsverfahren zu rationalisieren. Die Betriebe stehen diesbezüglich — fast möchte man sagen — unter drückendem Zwang, wenn sie in der scharfen Konkurrenz auf den Weltmärkten überhaupt bestehen wollen. Welche Fortschritte auf diesem Gebiet erzielt werden konnten, sollen einige Zahlen beweisen. 1950 liefen bei den Baumwoll- und Zeliwollspinnereden des Landes 193.000 Spindeln, im vergangenen Jahr waren es nur noch 180.000. Trotzdem hat sich die Garnproduktion von 9,5 auf 14 Millionen Kilogramm erhöht. Die Baumwoll-, Zellwoll- und Kunstseidenwebereien verfügten damals über 5575 Webstühle, heute laufen nur noch 3700; damals waren erst ein Viertel Automaten, heute jedoch sind es 85 Prozent des gesamten Maschinenparks. Die Produktion konnte damit um 25 Prozent auf 69 Millionen Meter (1966) gesteigert werden.

Keine weiteren Belastungen

Sinkende Erträge drücken — wie gerade die jüngste Erfahrung in Österreich zeigt — bei allen Ausgabepositionen eines Unternehmens zunächst auf die für Investitionen vorgesehenen Mittel. Eine unzureichende Investitionstätigkeit bedeutet aber Verschlechterung der Wettbewerbsposition. Sie kommt also letztlich auch einer Gefährdung der vielen Arbeitsplätze gleich. Angesichts dieser unleugbaren Tatsachen sind die beiden Forderungen der Industrie mehr denn je gerechtfertigt: ihr keine weiteren Belastungen welcher Art auch immer aufzubürden, anderseits mit öffentlicher Hilfe zu einer Verbesserung der Investitionsquote zu verhelfen.

Alle Kräfte mobilisieren

Wenn man heute immer mehr von der Notwendigkeit strukturverbessernder Maßnahmen spricht, so kann das nicht bedeuten, die jetzt an einer gewissen Wachstumsschwäche leidenden Sparten aushungern, andere aber besonders begünstigen zu wollen. Gerade für Vorarlberg wäre ein solches Rezept angesichts der Tatsache verhängnisvoll, daß die heimische Textilindustrie mehr als zwanzigtausend Menschen Arbeit und Brot gibt. Natürlich wird manche Produktionsart, deren Erzeugnisse einfach nicht mehr gefragt sind, absterben müssen; hier Konservierung betreiben zu wollen, wäre natürlich ebenso falsch. Das Konzept muß vielmehr lauten: Alle Kräfte mobilisieren, um die aus welchen Gründen immer beeinträchtigten Erfolgschancen zu heben. An Ideenreichtum, an der Bereitschaft zur Anpassung an geänderte Marktverhältnisse sowie an der Entschlossenheit zur Bewährimg und Behauptung hat es Vorarlberger Unternehmern noch nie gefehlt. Sie können auch die fachliche Tüchtigkeit ihrer Mitarbeiter in Rechnung stellen. Und trotzdem sehen sie sich heute Schwierigkeiten gegenüber, die mit eigenen Kräften nicht mehr zu bewältigen sind. Nicht Subventionen und Subsidien verlangen sie von der öffentlichen Hand, sondern jede nur mögliche Hilfe zur Selbsthilfe. Dies ist die wesentliche Voraussetzung dafür, daß die Vorarlberger Industrie di£ sich aus dem ständig fortschreitenden Strukturwandel ergebenden Probleme bewältigen kann.

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