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Der kritische Punkt

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Das Wachstum der österreichischen Wirtschaft hat sich 1965 merklich verlangsamt. Das reale Bruttonationalprodukt dürfte nach vorläufigen Berechnungen um knapp drei Prozent gestiegen sein, nur etwa halb so stark wie 1964. Obschon die Experten mit einer gewissen Wachstumsverlangsamung gerechnet hatten, kam ihr Ausmaß dennoch überraschend. Größere Produktionseinbußen entstanden vor allem durch das abnormale Wetter. Die Bauwirtschaft hatte nur eine kurze Saison, selbst im Sommer fielen viele Arbeitstage wegen Schlechtwetters aus. Die Landwirtschaft erntete um fast ein Drittel weniger Kartoffeln, Zuckerrüben und Obst und um fast die Hälfte weniger Wein als im Vorjahr. Dazu kam, daß sich in verschiedenen nicht witterungsabhängigen Zweigen die Absatzlage verschlechterte. Händler und Verarbeiter hatten sich häufig mit zu hohen Vorräten eingedeckt und hielten daher mit Bestellungen zurück. Auch die Tendenz rückläufiger Preise auf einzelnen internationalen Märkten legte eine vorsichtige Lagerdisposition nahe.

Dadurch wurden insbesondere die Grund- dndustrien (Eisen- und Metallhütten, Erdölindustrie, Grundchemie), aber auch einige Konsumgüterindustrien (Textilindustrie) gezwungen, ihre Produktion zu drosseln. Nicht zuletzt bekam die heimische Industrie die schärfere Konkurrenz ausländischer Produzenten zu spüren. Der Anteil ausländischer Konsum- und Investitionsgüter am heimischen Markt hatte eine deutlich steigende Tendenz. Der (durch Kredite geförderte) Export konnte die Einbußen auf dem heimischen Markt nicht immer ausgleichen. Aus allen diesen Gründen erzielte insbesondere die Industrie nur mäßige Ergebnisse. Anfang 1965 erzeugte sie noch um 2 bis 3 Prozent mehr als ein Jahr vorher.

Auf Grund der Entwicklungstendenzen im Jahre 1965 und verschiedenen Annahmen über den weiteren Kurs der Wirtschaftspolitik hat die „Arbeitsgruppe für vorausschauende volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen” im Institut für Wirtschaftsforschung für 1966 eine Steigerung des realen Bruttonationalprodukts um 4 Prozent prognostiziert. Diese relativ optimistische Prognose stützt sich vor allem darauf, daß die witterungsbedingten Produktionsausfälle voraussichtlich wieder aufgeholt werden können. Der milde Winter läßt auf eine lange Bausaison hoffen, die Landwirtschaft kann, soferne Spätfröste ausbleiben, wieder mit besseren Ernten rechnen. Etwas schwieriger sind die Chancen der nicht-saisonabhängigen Wirtschaftszweige zu beurteilen. Die Weltkonjunktur verspricht im ganzen gut zu bleiben, wenngleich die Expansion in einigen Ländern nachlassen dürfte. Damit bestehen nach wie vor relativ günstige Chancen für den österreichischen Export. Auch in bezug auf die weitere Entwicklung der Konsum- güternachfrage darf man optimistisch sein, da verschiedene Einflüsse (Einführung der Pensionsdynamik, Dämpfung des Preisauftriebs, anhaltend angespannte Lage auf dem Arbeitsmarkt) die reale Massenkaufkraft stärken werden.

Dagegen dürften 1966 von der Lagerwirtschaft mehr dämpfende als stimulierende Einflüsse ausgehen. Zwar haben bereits an der Jahreswende 1965/66 in einigen Bereichen Händler und Verarbeiter begonnen, ihre zum Teil stark gelichteten Lager wieder aufzufüllen. Die Nachfrage nach ausländischen Rohwaren und verschiedenen heimischen Grundstoffen hat sich daher etwas belebt. In anderen Bereichen dürfte jedoch die Tendenz abnehmender Vorräte noch anhalten. Der kritische Punkt der österreichischen Konjunktur sind zweifellos die Investitionen. Das langsamere Wachstum der Industrieproduktion und die schwache Bausaison 1965 könnte die Investitionstätigkeit nachteilig beeinflussen. Nach dem Investitionstest des Instituts für Wirtschaftsforschung beabsichtigen sowohl Industrie als auch Baugewerbe, 1966 weniger zu investieren als 1965.

Obschon Energiewirtschaft sowie Länder und Gemeinden größere Investitionsaufträge vergeben werden, dürfte die Investitionsgüterkonjunktur schwächer werden. Das gilt insbesondere dann, wenn der Bund nicht in der Lage sein sollte, mehr Mittel für Investitionen bereitzustellen. Gegenwärtig wird der Bundeshaushalt de jure auf Grund eines Budgetprovisoriums, de facto aber auf Grund von monatlichen Kassenzuweisungen und Bestellermächtigungen geführt, die von den Ansätzen des Provisoriums mehr oder minder stark abweichen. Damit sind jedoch die Probleme nicht gelöst. Die neue Bundesregierung wird sich mit den gleichen Problemen auseinanderzusetzen haben, die im Herbst 1965 die Budgetverhandlungen scheitern ließen. Der Spielraum für eine konstruktive Budgetpolitiik ist außerordentlich gering: Da der Bund 1966 beträchtliche Mehrausgaben aus gesetzlichen Verpflichtungen (insbesondere für das Personal und die Pensionsdynamik) hat, können bestenfalls gleich viele Mittel für andere Zwecke (insbesondere für Investitionen) bereitgestellt werden wie 1965, es sei denn, man entschließt sich zu Steuer- und Tariferhöhungen oder zu einem größeren Defizit.

Außer der Budgetpolitik dürfte 1966 auch die Währungs- und Kreditpolitik die Konjunktur stärker beeinflussen. Die Zahlungsbilanz der österreichischen Wirtschaft hatte 1965 zum erstenmal seit zehn Jahren ein größeres Defizit. Dazu haben verschiedene Faktoren beigetragen: Seit Zinssätze und Kreditkonditionen im Inland annähernd den Bedingungen im Ausland angeglichen wurden, kam nur noch wenig ausländisches Kapital nach Österreich. Ferner bemühten sich die heimischen Banken, im internationalen Kreditgeschäft stärker Fuß ziu fassen und gewährten größere Kredite an die Oststaaten. Auch die laufende Zahlungsbilanz verschlechterte sich etwas, da infolge der mäßigen Ernten viel mehr Nahrungsmittel importiert werden mußten und die Erträge aus dem Fremdenverkehr nicht mehr so kräftig stiegen wie bisher.

Das temporäre Zahlungsbilanzdefizit der österreichischen Wirtschaft darf nicht mit •trukturellen Defiziten verwechselt werden, die nur naoh schmerzhaften Anpassungspro- zessen beseitigt werden können. In gesamtwirtschaftlicher Sicht bringt es eher Vorteile als Nachteile. Die Notenbank verfügt über reichliche Reserven an Gold und Devisen und kann daher vorübergehende Abgänge mühelos finanzieren. Indem sie Devisen verkauft, verknappt sie die Geldmenge, gewinnt wieder engeren Kontakt mit dem Geldmarkt und kann dadurch ihre zentralen währungspolitischen Steuerfunktionen besser erfüllen. Schon im Laufe von 1965 hat sich unter dem Einfluß der passiven Zahlungsbilanz die Liquidität des Kreditapparates merklich verringert. Um den Spitzenbedarf an der Jahreswende zu decken, mußten viele Kreditunternehmungen die Refinanzierungshilfe der Notenbank beanspruchen. Trotz der Verknappung der Liquidität war die Kreditausweitung bis in die jüngste Zeit ziemlich stark. Es scheint jedoch, als ob zumindest wichtige Institute nicht mehr in der Lage wären, die Kreditnachfrage voll zu befriedigen. Manche Vorhaben, die vielleicht noch vor Jahresfrist leicht zu finanzieren gewesen wären, müssen zumindest zeitweise zurückgestellt werden.

Sollte sich wider Erwarten die Absatzlage der Wirtschaft merklich verschlechtern, könnten die Währungsbehörden ihre liquiditäts- und kreditbeschränkenden Maßnahmen lok- kem und damit die Anspannung auf den Kreditmärkten mildem. Ein solcher Schritt müßte jedoch wohl überlegt werden. Er wäre den Währungsibehörden vor allem so lange nicht zuzumuten, als die Preis-Lohn-Situation nach wie vor sehr angespannt ist. Der Index der Verbraucherpreise stieg seit Beginn der sechziger Jahre um durchschnittlich 3 bis 4 Prozent jährlich, 1965 erreichte die Preissteigerungsrate sogar 5 Prozent. Für die nächsten Monate zeichnet sich eine merkliche Beruhigung des Preisauftriebs ab. Schon ein nur einigermaßen normales Angebot an landwirtschaftlichen Saisonprodukten würde den Abstand des Verbraucherpreisindex zum Vorjahr merklich verringern.

Dazu kommt, daß die Erhöhung wichtiger Tarife und amtlich geregelter Preise zurückgestellt wurde. Es ist jedoch eine offene Frage, ob es sich tun mehr als eine nur vorrüber- gehende Atempause handelt. Im Laufe des Jahres ist eine neue Runde von Tariflahnerhöhungen zu erwarten, die zunächst aufgeschobenen Tarifkorrekturen werden möglicherweise in der zweiten Jahreshälfte nach- geiholt werden. Solange es nicht auf andere Weise gelingt, die Sozialpartner zu einem annähernd geldwertneutralen Verhalten zu veranlassen, werden die Währungsbehörden mit ihren Mitteln versuchen müssen, die Auftriebs- tendenzen in gesamtwirtschaftlich erträglichen Grenzen zu halten.

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