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Schwindende Gemeinschaft

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Als ich zu Allerseelen mit meinen beiden ältesten Kindern einen Gang durch den Friedhof machte, traf ich vor einem Grabe einen Bekannten, der nach den allgemeinen Begrüßungsformeln zu mir sagte: „Um Ihre Kinder beneide ich Sie. Sehen Sie, hier ruht mein einziges Kind! Für mich ist das Leben eigentlich zu Ende, ich habe von ihm nichts mehr zu erwarten.“ Dieser schmerzerfüllte Ausspruch eines Mannes paßt so recht zu jenem anderen aus dem Munde einer Frau, Mutter eine einzigen, noch schulpflichtigen Kindes, das sie erst nach 13jähriger Ehe geboren hatte, weil „man vorerst das Leben genießen wollte“, indem „man“ sich allerlei gesellschaftliche Freuden, Reisen, Sommer- und Bergaufenthalte leistete. Zu spät, im 21. Jahr ihrer Ehe, entdeckte sie, daß sie bei dieser Jagd nach Verdienst und Lebensgenuß um die heiligste Bestimmung der Frau, Mutter mehrerer Kinder zu werden, betrogen worden ist. „Was gäbe ich darum, wenn ich jetzt drei oder vier Kinder haben könnte; auch wenn ich auf dem Fußboden schlafen müßte, wäre ich zufrieden.“

Beide Aussprüche stammen von Menschen, die im Spätsommer oder im frühen Herbst ihres Lebens stehen, in einem Alter also, in dem nicht völlig oberflächliche Menschen gelernt haben, den wahren Sinn des Lebens und seine wesentlichen Güter zu erkennen. Beide Aussprüche zeugen aber auch von der tiefen Unbefriedigt- und Unerfülltheit des Lebens, von einer schmerzlichen Sehnsucht, die das seelisch-geistige Sein dieser Menschen umschattet und deren Ursache im Inneren dieser Menschen selbst zu suchen ist.

Sozialpsychologisch erschreckend una letzten Endes gesellschaftsgefährdend erscheint dieser seelisch-geistige Zustand aber, weil ein nicht unerheblicher Teil der heutigen Erwachsenengeneration in Österreich unter dem Einfluß des gleichen Seelen- und Geistesphänomens steht und in noch ausgedehnterem Maße in naher Zukunft von ihm erfaßt werden wird, wie die statistischen Veröffentlichungen einzelner Großstädte in der jüngsten Zeit für jenen erkennen lassen, der in statistischen Zahlenkolonnen zu lesen vermag.

Aus dem „Statistischen Taschenbuch der Stadt Wien für das Jahr 1948“ erfährt man beispielsweise, daß im Jahre 1939 von insgesamt 481.447 verheirateten Frauen 186.228, also 38,6 Prozent, keine Kinder aus ihrer im Jahre 1939 bestandenen Ehe hatten, weitere .135.777, das sind 28,2 Prozent, nur ein einziges Kind besaßen, während nur 159.442, das sind 33,2 Prozent, zwei oder mehr Kinder ihr eigen nannten. Noch eindrucksvoller wirkt aber diese Gegenüberstellung, wenn man si folgendermaßen formuliert; Von 481.447 im Jahre 1939 verheirateten Frauen besaßen 322.005 Frauen mit keinem oder nur einem Kinde zusammen nur 135.777 Kinder (mehr als zwei Frauen kommen also auf ein Kind), während 159.442 Frauen bei einer Kinderzahl von zwei bis zehn und mehr Kindern etwa 385.000 Kinder ihr eigen nannten. Sämtliche 481.447 verheirateten Frauen Wiens besaßen zusammen nur rund 520.000 Kinder, das heißt, daß also durchschnittlich ein Kind auf eine Wiener Ehe entfällt.

Dasselbe erschreckende Verhältnis bietet auch die Statistik der L i n z e r Gemeindebeamten, -aingestellten und -arbeiter nach ihrem Familienstand und ihren Kinderzulagen („Statistisches Jahrbuch der Stadt Linz 1947/48“, 2. Jahrgang, Linz 1949), wenn sie auch nicht als hundertprozentiger Maßstab gewertet werden darf, weil Kinderzulagen nur für unversorgte Kinder bis zum 21. Lebensjahr gezahlt und darüber hinaus nur in Ausrahmsfällen für die abschließende Berufsausbildung bewilligt werden. Von 2079 Männern, die verheiratet (1983), geschieden (62) oder verwitwet (34) waren, erhielten zusammen nur 2033 Kinderzulagen. Beachtenswert sind dabei übrigens die standesmäßigen Unterschiede: an die 398 Beamten unter ihnen wurden nämlich nur 388 Kinderzulagen, an die 420 Angestellten gar nur 313, an die 1261 Arbeiter unter ihnen dagegen 1458 Kinderzulagen ausbezahlt. Die Arbeiter und daneben noch in etwas höherem Grade die bäuerliche Bevölkerung stellen somit heute noch die einzigen Berufe- und Standesschichten dar, in denen das Einkindersystem bei der Berechnung der durchschnittlichen Kinderzahl für eine österreichische Familie noch nicht di? Oberhand gewonnen hat, obwohl, wie eigene Beobachtungen und Untersuchungen im Kremser Bicken beweisen, auch die durchschnittliche Kinderzahl der Landbevölkerung im Verlauf von nur einer Generation innerhalb der letzten 20 bis 30 Jahre von etwa vier bis fünf Kindern je Familie auf nur zwei Kinder abgesunken ist. Der früher in der breiten Masse der Arbeiter und Bauern so häufig gehörte und stark betonte Ausspruch: „Eine Schar von Kindern sind unser einziger (und größter) ReicHtum“ bestünde heute nicht mehr zu Recht. Der da und dort erhöhte Lebensstandard ist meist teuer mit dem Verlust des „einzigen Reichtums“ erkauft worden.

Wie sehr die Einkindehe im heutigen Österreich die Normalform der Familie (Mann, Frau und e i n Kind) darstellt, zeigen noch zwei andere Erscheinungen: einmal die Geburtenbewegung der Stadt Linz im Jahre 1948, nach der der größte Teil der ehelichen Kinder auf Erstgeburten entfällt (Erstgeburten: 47,3 Prozent, zweitgeborene Kinder: 27,6 Prozent, drittgeborene Kinder: 12,2 Prozent), denen übrigens auch die überwiegende Anzahl der unehelichen Geburten (18 vom Hundert oder 627 Lebendgeborene von insgesamt 3500 Lebendgeborenen) zugerechnet werden muß, und schließlich die zweite Gegebenheit, die sogenannte „Überbrückungshilfe“, die als Ausgleich für die Preissteigerungen vor der Regulierung des Dollarkurses an die österreichischen Gehaltsträger ausbezahlt wurde und für deren Berechnung nach Statistiken die — Einkindehe zugrunde gelegt worden ist.

Die weitere Übung der kinderlosen und Einkindehe in Österreich muß in der n-mittelbaren Zukunft unweigerlich zu einer Vergreisung und schließlich zu einem empfindlichen Schwund in der Wohnbevölkerung füljren.

Das erste Wirtschaftsgebiet, in dem sich schon heute die Folgen des Geburtenschwundes schwerwiegend und für die Staatsgemeinschaft gefährlich auswirken, stellt die Landwirtschaft dar, für deren Mangel an Arbeitskräften irrtümlich immer die Landflucht in erster Linie verantwortlich, gemacht wird und nicht der gewaltige Geburtenrückgang innerhalb unserer bäuerlichen Bevölkerung, wie es richtiger wäre. Trotz einer beachtlichen und stets fortsdireitenden menschensparenden Mechanisierung unserer Landwirtschaft und trotz Zehntausender von Volksdeutschen bäuerlicher Herkunft, die bei dem argen landwirtschaftlichen Leutemangel gleichsam als Retter in höchster Not bezeichnet werden müssen, fehlen unserem Lande immer noch etwa 70.000 Landarbeiter und Landarbeiterinnen.

Die heutige besondere bevölkerungspolitische Lage führt aber auch schwere sozialpädagogische Schwierigkeiten im Gefolge. Jeder erfahrene Familienvater, Erzieher und Psychologe weiß, wie vielfach negativ — auch bei noch so „vernünftigen“ Eltern — sich die Einkindehe auf die charakterliche Entwicklung des Einzelkindes und seine harmonische Ausbildung zur wahren Persönlichkeit auswirkt.

Die Ursachen für die erschreckende Abkehr vom Kinde sind, wie sdion vielfache frühere Beobachtungen und Befragungen ergaben, immer wieder dieselben: vor allem Bequemlichkeit, Scheu vor den Beschwerden der Muttenschaft und vor den Mühen, Sorgen und geldlichen Aufwendungen und Einschränkungen, die mit der Pflege und dem Aufziehen von Kindern zusammenhängen, mangelnder Opfersinn, Egoismus, Unterhaltungstrieb, zügelloser Lebensgenuß, dann aber auch vor allem die Wohnungsnot.

Wie sehr es sich bei diesem Wandel der Lebensanschauung und Lebenshaltung um einen Wandel handelt, der sich bei uns in so ausgedehntem Maße erst im Verlauf einer Generation, (ungefähr mit dem Ende des ersten Weltkriegs beginnend) vollzogen hat, dafür liefert wiederum lebendiggemachtes statistisches Zahlenmaterial den eindeutigen Nachweis.

Das „Statistische Jahrbuch d- Stadt Linz 1947/48“ behandelt wegen der besonderen Verhältnisse in der Geburten- und Sterbeziffer bei Österreichern und Ausländern die Bevölkerungsbewegung der österreichischen und ausländischen Wohnbevölkerung getrennt. Diese Einteilung ist um so aufschlußreicher, als die Ausländer, bei denen es sich größtenteils um deutschsprechende Staatenlose, also um Volksdeutsche (aus Jugoslawien, Rumänien usw.) handelt, gleich ein Fünftel der Wohnbevölkerung von Linz an der Eonau ausmachen. (Von 181.532 Einwohnern sind 146.715 Österreicher und 34.817 Ausländer, das Verhältnis der Österreicher zu den Ausländern beträgt demnach 100 : 19.)

In dem Zeitraum 1946 bis 1948 entfallen nach diesen gleichen statistischen Unterlagen auf 1000 ausländische Einwohner durchschnittlich 31 Lebendgeborene und 9 Gestorbene, dies ergibt einen Geburtenüberschuß von 21 Personen. Bei den Österreichern beträgt aber im gleichen Zeitraum die Geburtenziffer nur 18 Lebendgeborene und die Sterbeziffer 11 Gestorbene; es ergibt sich also ein Geburtenüberschuß von nur 6 Personen auf 1000 österreichische

Nickts endet

Nichts endet, wenn das Jahr sich schließt. Wir selber sind uns Punkt und Wende. Nur menschgemess'ne Zeit zerfließt — Die Zeit des Sterns ist ohne Ende.

Das Sein ist zeitlos, was da geht Und kommt sind flüchtige Gestalten; Doch auch was tief im Wandel steht, Will Ewigkeit in sich entfalten.

Du fragst, ob auf der Wandelwelt Die Inbrunst und die Tat sich lohne — Vergiß nicht, wenn der Nebel fällt. Daß Klarheit überm Nebel wohne.

Gib hin, was geht, nimm hin, was kommt; Kein Weg hört auf, kein Ziel hat State: Was uns im Tanz der Tage frommt, Ist Ewigkeit und sind Gebete.

Hermann Hiltbrunnei, Aus Waage des Jahres“

Einwohner (dreieinhalbmal weniger als bei den Ausländern).

Die Geburtenziffer aber verteilte sich im Jahre 1948 folgendermaßen: 1064 lebendgeborenen Ausländern stehen nur 2433 lebendgeborene Österreicher gegenüber. Mit dem Anteil der entsprechenden Wohnbevölkerung verglichen, müßte die österreichische Wohnbevölkerung (81 Prozent) bei gleichbleibender Geburtenziffer der ausländischen Wohnbevölkerung (19 Prozent) nicht 2433, sondern 4536 Lebendgeborene verzeichnen, umgekehrt aber dürfte bei gleichbleibender Geburtenziffer in der österreichischen Bevölkerung die ausländische Wohnbevölkerung von Linz nur 570 Lebendgeborene und nicht wie tatsächlich 1064 erreichen.

Wenn man bei diesen Vergleichen auch berücksichtigen muß, daß es sich bei den nach Linz zugeströmten Ausländern vor allem um solche mittleren Alters handelt, bei denen die „Fruchtbarkeitsziffer“ naturgemäß am höchsten und die „Sterbeziffer“ verhältnismäßig gering ist, so zeigt ein Vergleich der Geburten- und Sterbeziffern zwischen den beiden Teilen der Wohnbevölkerungen von Linz dennoch eindeutig genug, daß der Fortpflanzungswille und die Geburtenfreudigkeit bei den Ausländern unvergleichlich größer sind als bei der österreichischen Wohnbevölkerung und daß dieser Unterschied nur in der versdiiedenen Lebensanschauung und -haltung der beiden Bevölkerungsteile wurzelt. Dieser Unterschied wird noch auffallender, wenn man berücksichtigt, daß die große Masse der Ausländer, unter ihnen vor allem die Volksdeutschen, als Heimatvertriebene nicht nur ihr gesamtes Hab und Gut, sondern meist auch ihre gewohnte Existenzgrundlage verloren hatten umd in fremder Umgebung unter schwierigen Umständen erst wieder um eine neue Lebensgrundlage kämpfen müssen. Ihnen steht die angestammte, seßhafte österreichische Wohnbevölkerung mit einer unvergleichlich besseren materiellen Ausgangsbasis, dazu noch in vertrauter Umgebung, gegenüber. Wer Gelegenheit hatte, die seelisch-geistige Welt der Volksdeutschen im Südosten Europas in.der unmittelbaren Vergangenheit kennenzulernen, dem wird klar, wie sehr die größere Geburtenfreudigkeit, der praktisch stärkere Lebenswille und das erhöhte Selbsterhaltungsstreben dieser Menschen mit ihrer noch ungebrochenen religiösen und geistig-seelischen Welt, die auch die harten Schicksalserlebnisse nicht zu vernichten mochten, ursächlich im Zusammenhang stehen einer Welt, die vor etlichen Jahrzehnten auch in unserer österreichischen Bevölkerung noch stark wirksam gewesen ist und in neuer Form nur durch die Erneuerung unseres gesamten sittlichen und geistigen Lebens wieder erworben werden kann.

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