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Das soziale Problem des deutschen Zusammenbruches

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Für die große Welt mag das Problem „Deutschland” heute vornehmlich ein politisches sein; für das deutsche Volk aber und für diejenigen, die versuchen, das politische Geschehen an seinen gesellschaftlichen Wurzeln zu erkennen, ist es zu einem nicht geringen Teile eine soziale Frage ge: worden. Nicht e i n Problem, nicht eine Frage, sondern ein Komplex von Fragen und Problemen, die einzig in ihrer Art und geeignet sind, zu durchaus neuen soziologischen Erkenntnissen zu führen. Handelt es sich doch im Falle „Deutschland” von heute um den erzwungenen Neubau einer Gesellschaft aus geradezu ursprünglichen Existenzbedingungen, mit Menschen, die als einzelne wie als Volk an der Last einer großen Vergangenheit voll von Ressentiments tragen.

Die Probleme, die sich aus dem deutschen Zusammenbruch ergeben haben, auch nur annähernd vollständig aufzuzählen, ist unmöglich. Alles ist noch in einem von Kreis zu Kreis, von Dorf zu Dorf uneinheitlichen Werden, dem man keine Gesetzlichkeit ablesen kann, um so mehr als zudem oft die einfachsten statistischen Unterlagen fehlen. Vor allem ist die Hierarchie der deutschen Gesellschaft, die sich etwa seit der Reichsgründung herausgebildet hat, im Rahmen eines allgemeinen Bedeutungswandels der wirtschaftlichen und politischen Funktionen zusammengebrochen. Die Elemente der Gesellschaftsordnung, ihre führende Idee, die Ordnung des Eigentums, politische Macht und Tradition sind, wenn schon nicht aufgehoben, so doch in ihrer Bedeutung für die Gegenwart und die nähere Zukunft geschwächt. Die Gliederung der deutschen Gesellschaft, wenn eine solche heute überhaupt erkennbar ist, erfolgt aus dem Gesetz des Zufalls, hat also die Tendenz zum Chaos in sich. Es gibt keine schichttypische Haltung, keine organisierten Gruppen, sondern nur Menschen, die wenig und solche, die noch weniger haben. Daß es da und dort, vor allem unter den Bauern, Neureiche gibt, kann mit Rücksicht auf die geringe gesellschaftsbildende Bedeutung dieser Schichten übergangen werden.

Die Wandlung der Struktur des deutschen Kapitalismus ist eine elementare. Es gibt heute weder einen Monopolkapitalismus als konzentrierte Anhäufung von Verfügungsmacht noch so etwas wie eine Bourgeoisie als Machtfaktor. Die Ursachen für diese Entwicklung sind die Demontagen, die unmittelbaren Kriegsereignisse, die Enteignungen und die Behinderung in der Ausnutzung der noch vorhandenen Produktionskapazität. Der Ausnutzungsgrad dieser Restkapazität betrug 1947 nur etwa 25 Prozent. Die Erzeugungssumme der deutschen Wirtschaft befindet sich 1947 auf dem Stande von 1870, steht aber den Bedürfnissen von 1948 gegenüber. Außerdem ist ein Wandel in der Bedeutung des Geldes eingetreten. Das Geld ist heute in Deutschland nur noch eine für den Binnenmarkt gültige Verrechnungseinheit. Entscheidend ist die Macht (der Realwert) d i_ dem unmittelbaren Verbrauche oder Gebrauche dienenden Gutes, was etwa zur grotesken Tatsache einer „Zigarettenwährung” geführt hat. Die Zigarette konnte schon deshalb Element einer Ausweichwährung sein, weil sie einen Gegenstand des sogenannten Massenluxus bildet und daher wirtschaftlichen Wandlungen gegenüber verhältnismäßig stark reagiert, also Anzeiger für Kaufkraftänderungen ist. Reichtum kann nunmehr nicht in offiziellem Geld gemessen werden. Reich ist, wer im Besitze der Güter des Grundbedarfes ist. Man möchte fast an die Theorien der Physiokraten glauben, die fälschlicherweise im Bauern den einzigen wertschöpferischen Stand sahen. Der Geist des städtischen Kapitalismus hat sich in die Provinz verlagert. Dort ist, eine Folge des Tauschverkehrs, eine zwecklose Anhäufung von Gebrauchsgegenständen entstanden, die keiner sinnvollen Verwendung dienen können. Eine Folge der allgemeinen Verarmung ist das Absinken der M i n- destansprüche an das Leben. Das gilt nicht allein für die Ernährung, sondern auch für die kleinen Dinge des Alltages, ist aber ganz besonders arg in der Frage des Wohnraums. Von den vielen erschütternden Ziffern sei nur eine wiedergegeben: unter 5720 hessischen Schulkindern hatten 2400 kein eigenes Bett.

Die Entstädterung war im Deutschland der Zwischenkriegszeit ein durchaus ernstes und vielfach diskutiertes Problem. Der Krieg „löste” dieses Problem zum Teil in einer unmenschlichen und grauenhaften Weise. Das Antlitz der deutschen Städte ist tatsächlich ein anderes geworden. An die Stelle der Provinzflucht ist eine Flucht aus den Ruinenstädten getreten. Die kleinen Siedlungen wachsen, das deutsche Dorf verstädtert, äußerlich und geistig. Damit ist aber die Vermassung, bisher doch nur auf räumlich enge Bezirke begrenzt, zu einer gesamtdeutschen Frage geworden. Positiv kann man jedoch die Dezentralisierung der Industrie werten, die :n einem weiten Umfang an den Rand der Städte oder in die Provinz ausgesiedelt wurde, wodurch der Arbeiter in eine neue Umwelt kommt.

Die Gegensätzlichkeit von „Bourgeoisie” und Proletariat ist wesentlich gemildert worden, da die Grundlagen der bürgerlichen „Ordnung” nunmehr weitgehend andere sind. Da und dort hat geradezu eine Umschichtung ganzer Gruppen stattgefunden. Das Proletariat ist allgemein nicht nur gleichbedeutend mit einer Summe von Menschen gleicher Existenzlage, sondern auch mit einem kollektiven Bewußtsein. An die Stelle des Proletariats ist aber in Deutschland jetzt der Pauperismus getreten, eine ungefüge Masse, deren Mitglieder sowohl Proletarier wie Besitzende von einst sind, die nur ein Gemeinsames, nämlich fast völlige Besitzlosigkeit, haben. Als Massenerscheinung gibt es derzeit kein deutsches Besitzbürgertum, wenngleich freilich Reiche da sind, Restschichten, skrupellose Schieber und Beziehungsreiche. Aber der Besitz allein ist nicht mehr für die wirtschaftliche Macht entscheidend. Ungleich wichtiger in seiner Bedeutung ist das Einkommen, das nominelle nicht sosehr wie das in bestimmten Gütern ausgedrückte. Hier, in der Größenordnung des Gütereinkommens, kann also noch notdürftig eine ökonomische Schichtung festgestellt werden. Die wirtschaftlichen Herren von heute (ob von morgen ist ja fraglich) sind die Neureichen und die kapitallosen Kapitalisten, die aber keineswegs auch die politische Führerschaft stellen. Die Einheit von politischer und wirtschaftlicher Macht ist zerstört, eiti maßgeblicher Grund für die Desorganisation der Verwaltung, da die politischen Behörden ihre Anordnungen nicht über eigene, sondern in ihrer letzten Auswirkung über fremde Mächte durchzüsetzen gezwungen sind.

Das Flüchtlingswesen hat zu einer neuen, wenn man es so nennen will, Klassenbildung geführt. Es gibt Alteingesessene und „daher” Besitzende, wenn freilich dieser Besitz oft nur aus einem dürftigen Inventar und Mietrechten besteht, und Flüchtlinge, die, gleichgültig aus welcher sozialen Schichte sie kommen, zu den Besitzlosen gehören. Soll nicht der deutsche Volkskörper einer chaotischen Auflösung entgegengehen, muß das Nebeneinander von Flüchtlingen und Einheimischen durch einen vollkommenen Neubau der deutschen Gesellschaft aufgehoben werden. An die Stelle der ohnedies nur den Kapitalismus in seinen dürftigen Resten konservierenden Sozialpolitik müßte eine Sozialreform treten mit dem Ziel einer Neuverteilung des Sozialprodukts, die schon beim Realbesitz, etwa im Rahmen einer Kodifikation eines neuen Eigentumsrechtes, zu beginnen hätte.

Die Tendenz zum Großbetrieb ist in Deutschland vorläufig, wenn auch nicht aus einer inneren Gesetzlichkeit der Wirtschaft, zum Stillstand gekommen. Das Gewicht liegt jetzt auf dem Klein- und Mittelbetrieb. Dieser Prozeß ist nicht allein die Folge von Demontagen und der Kriegsereignisse, sondern auch des Rohstoffmangels, der den arbeitsintensiven Betrieben einen Vorsprung gibt. Solche sind aber schon aus der Eigenart ihrer Produktionsweise heraus auf mittlere und kleinere Größen angelegt. Das Kapital hat hier nicht sosehr Anlageform, sondern wird durch die Arbeitskraft der Menschen repräsentiert. Daher ist auch gelegentlich das Vordringen des genossenschaftlichen Gedankens bei neuen Betrieben merkbar und die Chance gegeben, das Lohnarbeitsverhältnis, bisher eine unzeitgemäße Form wirtschaftlicher Abhängigkeit, in eine Miteigentümerschaft, eine neue Gemeinsamkeit zwischen Arbeitsobjekt und Arbeiter, umzuwandeln. Die „Amerikanisierung” der deutschen Industrie, ihre „Vertrustung”, wurde entscheidend unterbrochen. In dieser Tatsache durchwegs einen Nachteil zu sehen, ist nicht richtig.

Das Bevölkerungsproblem ist in Deutschland, da der Volkskörper in seiner Substanz bedroht ist, zu einer Schicksalsfrage geworden. Die Bevölkerungsdichte hat einen Umfang angenommen, der in keinem Verhältnis zur Leistungsfähigkeit der Erzeugung, vor allem der landwirtschaftlichen, steht. Das Mälthussche Bevölkerungsgesetz scheint also in seinem Pessimismus gerechtfertigt. Die Bedürfnisse der Neugeborenen können von den Angehörigen der arbeitenden Schichte auch nicht annähernd befriedigt werden. Jeder neu- angekommene Deutsche, der nicht zumindest soviel produziert, als er verbraucht, ist also eine Last, da die Grenzen der Ausweitung der deutschen Erzeugungsmacht enge geworden sind (Raummangel, Erschöpfung des Bodens, Endgüterung).

Das zahlenmäßige Verhältnis zwischen den Geschlechtern ist ein derartiges, daß auf Jahre hinaus ein Großteil der heiratsfähigen Frauen kaum eine Möglichkeit zum Eingehen einer Ehe haben wird. Von den sittlichen Folgen abgesehen, die bis zur fast institutionell gewordenen Polygamie führen können, schließt das Absinken der Eheschließungen die Gefahr des Volkstodes in sich, eine Gefahr, die auch durch die unehelichen utld außerehelichen Geburten nicht beseitigt werden kann. Ein Beispiel: In der britischen Zone kommen in der Altersgruppe der 15- bis 65jährigen auf 8,5 Millionen Frauen nur 4 Millionen Männer. In Konstanz, als Einzelbeispiel, ist die Zahl der heiratsfähigen Frauen dreimal größer als die der heiratsfähigen Männer. Nach dem Hoover-Bericht 1947 ergibt sich für ganz Deutschland bei den 20- bis 40jährigen ein Verhältnis der Geschlechter von 3 : 5.

Die Altersschichtung ist eine derartige, daß einer verhältnismäßig kleinen Gruppe von Arbeitsfähigen eine unverhältnismäßig große Gruppe von Kindern und arbeitsunfähigen Alten gegenübersteht. Da die Kriegsinvaliden — soweit sie keiner Arbeit nachgehen können, etwa sechs Millionen — das Mißverhältnis noch erhöhen, muß man feststellen, daß die Arbeitsanforderungen an die noch Arbeitsfähigen erheblich über das erträgliche Maß hinausgehen.

Der Neubau der Gesellschaft ist im Deutschland von heute nicht nur die Frage eines neuen Denkens (eines Umdenkens), sondern in einem bedeutenden Maße auch eine solche des Neubaues der deutschen Jpzialversicherung. Dazu ist neben einer notwendigen, wenn auch freilich nur langsam möglichen Anreicherung der deutschen Vermögenssubstanz eine Inventarisierung des noch verfügbaren Vermögensrestes und seine Neuverteilung erforderlich. Vielleicht hat die Neuverteilung des Restbestandes, die man unter keinen Umständen als eine sozialreformatorische Maßnahme betrachten darf, noch vor jedem Neubau zu erfolgen, da die gegenwärtige Situation weniger Planen als mehr noch geradezu spontanes Handeln gebietet.

Im Zwang zur Sozialreform muß das deutsche Volk über die Not des Augenblicks hinweg aber eine große und einmalige Chance sehen: den Bau einer Gesellschaft tatsächlich von Grund auf durchführen zu können, da der Abbruch nun einmal wider Willen vorgenommen worden ist.

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