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Die Praxis ist wichtiger als die Theorie

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Fast täglich kommen wir in Bild und Ton mit dem Islam in Berührung und haben es doch schwer, uns von ihm ein rechtes Bild zu machen, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Auf Schritt und Tritt be-gegegnen wir Stereotypen wie Feuer und Schwert, Heiliger Krieg, Fanatismus, wenn vom Islam die Rede ist, oder etwa Kismet - ein Begriff, den man bei Karl May findet, im Koran aber vergeblich sucht. In Wirklichkeit ist der Islam anders, als man sich ihn weithin vorstellt.

Verbreitet, aber irreführend ist die Vorstellung vom derzeitigen „Vormarsch” des Islam, die durch sein lautstarkes Auftreten bisweilen gefördert wird. Tatsächlich befindet sich die islamische Welt nach langer Zeit der Entfremdung und Unterdrückung durch den Westen im Zwiespalt. Der Islam scheint mit dem Anspruch anzutreten, seinen Völkern eine rein islamische Lebensperspektive zu vermitteln. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß der sogenannte Fundamentalismus auf einer Abwehrhaltung fußt. Man fühlt sich unterlegen und reagiert aggressiv aus Angst vor einer westli-

chen Weltördnung. Aggressivität allein aber hätte nie genügt, um vom kleinen Staat Medina aus eine Weltzivilisation mit prägender Kraft zu entwickeln. Dazu bedurfte es auch der Fähigkeit, Errungenschaften fremder Kulturen aufzunehmen, eine Synthese einzugehen.

Man muß sich vergegenwärtigen, daß dem Islam - anders als dem Christentum - von Anbeginn Erfolg beschieden war. Anders als im Christentum gab es auch nie eine Trennung von Kirche und Staat. Im Zentrum des Islams steht der Koran, den der Prophet Mohammed direkt von Gott empfangen hat. Mohammed ist nur ein Sprachrohr der göttlichen Offenbarung, nicht wie Jesus die Wahrheit selbst. Für den Muslim übersteigert daher die Bezeichnung „Mohammedaner” in unzulässiger Weise die Rolle des Propheten..

Die Macht der Juristen

Für den Islam ist die Praxis wichtiger als die Theorie. Solange man nicht gegen seine Regeln verstieß, blieb er im Mittelalter erstaunlich tolerant. Andersdenkende konnten ihre Meinung öffentlich vertreten. Ein offizieller Austritt aus der Glau-

bensgemeinschaft, die Apostasie, wurde allerdings und wird mancherorts noch heute mit dem Tode bestraft. In den eroberten Gebieten wurden die Völker der Buchreligionen nicht nur toleriert, sie waren gesetzlich geschützt, ihre Religionsausübung wurde respektiert.

Nach dem Untergang des arabo-islamischen Reiches im Jahre 1258 durch die Mongolen begann für den Islam eine Zeit des Stillstandes und des Rückganges. Man blickte zurück zum goldenen Zeitalter der Anfänge. Damals wurde das Leben noch ganz durch den Willen Gottes und sein Gesetz geformt. Mit der zunehmenden Bedeutung der Rechtsgelehrten wurden Wissenschaft, Literatur und Philosophie zurückgedrängt. Der Koran ist stets Grundlage der Gesetze gewesen, auf die sich der Staat gründete. Lücken in der Offenbarung hat man durch Konsens der Rechtsgelehrten überbrückt. Die Juristen verfügen daher über große Macht. Im Grunde sind sie die Nachfolger des Propheten.

Der äußere Formalismus, die zunehmende Verpolitisierung der Lehre führten später zu einer Gegenreaktion - den Sufis, genannt nach dem groben Wollkleid der Asketen

(suf). Man kehrte zurück zur inneren Religion, zu Gottesliebe, Kontemplation und Askese. Das Sufitum gilt heute neben der Philosophie als wichtiger Grundpfeiler islamischer Kultur. Aus dem Sufitum ging der „Tariqua-Islam” hervor (der eigene Weg). Er behält bis heute eine eigenständige Rolle neben den strengen Vorschriften der Scharia, paßt sich der Gegenwart aber an und ermöglicht dadurch dem Islam den Dialog mit anderen Denk- und Glaubensrichtungen. Hier erscheint der „Heilige Krieg” eher als ein innerer Kampf auf dem Weg einer schrittweisen Vervollkommnung.

Im Sinne der Sufis können wir auch den Toleranzgedanken unserer Aufklärung im ' Geiste Gotthold Ephraim Lessings verstehen: „Jeder sage, was ihm Wahrheit dünkt, und die Wahrheit selbst sei Gott empfohlen.” Die drei Ringe der berühmten Ringparabel in „Nathan der Weise” sind ein Bild der drei monotheistischen Religionen, von denen niemand mit Sicherheit sagen kann, welche die richtige ist. Alle drei stehen „gleichwertig” nebeneinander. So verkörpert das Judentum die Hoffnung, das Christentum die Liebe, der Islam den Glauben.

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