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Islamische Soziallehre

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Kann es eine „Islamische Republik“ geben, wenn doch der Traum einer „Christlichen Republik“ im Fortschreiten politischer Erkenntnis zerronnen ist und der „mündige Christ mit Wissen und Gewissen“ dem Gemeinwesen, der Gesellschaft, dem Staate, den Verbänden sich zu stellen hat? Oder ersteht aus dem Trümmerfeld persischer Politik wirklich eine gottunmittelbare Theokratie? Geht es dem Ayatullah um religionsbeglaubigte Macht allein, in den historischen Kostümen islamischer Tradition?

In einer Studie skizziert der protestantische Theologe und Islamist Ulrich Schoen das Ausgangsbild: „Islam“ bedeutet Selbstauslieferung an Gott. Sie betrifft den Moslem, das heißt, den einzelnen Glaubenden, und die „Umma“, die Gemeinschaft der Glaubenden. Dem Menschen ist ja nicht nur die Individual-, sondern auch die Sozialnatur wesenseigen, und er kann und soll sich als Gemeinschaft („Adam“ heißt auch „der Mensch“ im kollektiven Sinn) freiwillig hingeben. Islamische Gemeinschaft aber ist allemal organisierte Gesellschaft im höchsten faßbaren Sinne auch westlicher Denkart, ist Gesellschaft und Staat zugleich.

Einer solchen Gesellschaft kommt messianisch-eschatologischer Charakter zu. Nach dem Zeugnis des Korans ist der Islam die beste der Gemeinschaften und ein „Volk der Mitte“. In einem Spruch des Korans ist davon die Rede, daß die letzte der „menschlichen Gemeinschaften“ im Verlauf des Wandels der Geschichte auch die beste sein werde, eben jene unter der Fahne des Propheten.

Der Islam versteht seine Zeugen-

rolle als „Herausforderung an die Welt“, wie sie Prof. Dr. Muhammad Hamidullah in Paris bereits 1963 formulierte:

„Der Islam ist bestrebt, eine Weltgemeinschaft zu errichten, in der völlige Gleichheit zwischen den Völkern herrscht, ohne Trennung nach Rassen oder Klassen oder nach Gebieten ... Jeder einzelne Mensch ist persönlich vor Gott verantwortlich. Im Sinne des Islams ist der Auftrag dessen, der regiert, auch als ein Ort zu verstehen, an dem das Vertrauen der Gemeinschaft hinterlegt ist, als ein Dienst, bei dem die Bediensteten die Diener des Volkes sind.“

Die Einheit der Wirklichkeit, wie sie der Moslem in seiner Gottes- und Welterfahrung erlebt, kommt durch die Dialektik von individuellem und kollektivem Tun deutlich zum Ausdruck. Bekennen, Beten, Fasten, Pilgern, „Abgeben für den Armen“ sind als Orthopraxie vom islamischen Gemeinschaftsverständnis, damit aber auch vom Herrschaftsanspruch über und für Gesellschaft und Staat nicht zu trennen, gibt es doch im Islam keine Trennung von geistlichem und weltlichem Bereich.

Der sozialtheologische Auftrag, der etwa den Ayatullah Chumeini durchwaltet, gut im iranischen Gemeinwesen dem staatspolitischen Wirkprinzip: in der politischen Gesellschaft den „Weg“, den „Pfad“ („sabil“) Gottes zu gehen. Und zwar ist es nach diesem Selbstverständnis Gott, der sich selbst, seiner Botschaft und seiner „Umma“ den Weg bahnt. Daher gilt es, in persönlicher und gemeinschaftlicher menschlicher Anstrengung dieses Tun Gottes zu verwirklichen oder zumindest nach-zuvollziehen.

Um dies zu verdeutlichen, sei auf den Dialog zwischen Islam und römisch-katholischer Kirche im Jahre 1976 verwiesen: auf dem Kolloquium in Tripolis, das zwischen dem libyschen Staatschef Gaddafi und den Repräsentanten des Heiligen Stuhls stattfand, wurde die ganze theologische Tiefe in den für Mohammedaner keineswegs ambivalenten Räumen von „Staat und Kirche“ sichtbar; der in Rede stehende Problemkreis hatte sein Zentrum in der Frage nach dem theokratischen Anspruch des Heiligen Stuhles. Es galt, auf der einen Seite zu bezeugen, daß Gott auch die Gesellschaft durch seine Gebote formt, und es galt zu bezeugen, daß Gottes Reich nicht von dieser Welt ist.

Bleibt die Profilierung islamischer Gesellschaftsreform. Die Suche gilt dem „geraden Weg“ (Sure 1, 6), auf dem die Gesellschaft sich Gott hingibt, auf dem Gott die Gesellschaft nach seinem Willen führt. Der Islam begreift, daß er sich den sozio-öko-nomischen und ethnisch-nationalen Auseinandersetzungen zu stellen hat. Im Iran wie in Ägypten, in Saudi-Arabien wie in Algerien. Es geht

demnach um Konfrontationen mit dem Marxismus totalitärer wie demokratischer Variante, dem Kapitalismus klassischer wie sozialorientierter Prägung, sowie mit dem Nationalismus arabischer Eigenart. Zur Wahl stehen die theokratische, die apokalyptische, die rationalistische und die mystische Variante:

• die theokratische, die „Umma“ als feste Burg Gottes, die es religiös und politisch zu verteidigen und zu vergrößern gilt, wobei die Identifizierung von „Religion“ und „Politik“ Voraussetzung ist;

• die apokalyptische, die Annahme, daß die kommende, die letzte Welt, um es eschatologisch auszudrücken, auf unsere, diese konkrete Erdzeit zugeht und es daher Imperativ sei, die Norm der Vergangenheit (den Geist von Medina!), hineinzuprojizie-ren;

• die rationalistische, in dieser unserer Weit mit ihren Gesetzmäßigkeiten und Tatsächlichkeiten wird die Einheit von Glaube und Vernunft postuliert: denn „die wahre Einsicht, das wahre Wissen“, ist die gläubige Einsicht, die Einsicht in die Gesetze der Welt, so wie sie Gott geschaffen hat;

• die mystische, der vierte Typ: Ausgangspunkt ist in „nicht-apokalyptischer“ Weise die „letzte Welt“ unter Einbeziehung der Grunderfahrung der Einheit der Wirklichkeit Die andere große Grunderfahrung, die der Diskontinuität zwischen Gott und Welt, kommt dabei jedoch nicht zu kurz, was sich in einer sogenannten „nicht-fundamentalistischen Freiheit“ gegenüber den religiösen und gesellschaftlichen Formen dieser Welt ausdrückt.

Besieht man die Realität iranisch-schiitischer Intentionen, so zwingt sich eine Mischform des theokratischen und des mystischen Modells auf, die auf der Situation am Ende des zweiten Jahrtausends nach Christus basiert. Stehen doch, wie Prof. Muhammad Abdullah, der weltbekannte islamische Publizist erläutert, hinter der neuen Dynamik der moslemischen Völkergemeinschaft offensichtlich nicht nur religiöse Impulse, sondern sowohl politische Trends, etwa Antikolonialismus und Antiras-sismus, wie auch wirtschaftliche Faktoren, wie der neue ölreichtum einiger moslemischer Länder, der sie zu ökonomischen Weltmächten machte, „mit dem gleichen Rang wie die USA, die Sowjetunion, China, Japan und die Europäische Gemeinschaft“; wie das Internationale Institut für Strategische Studien in London bereits in seinem Jahresbericht 1973 festhielt.

Mystik also auf der Basis der Rohstoffe, theokratische Sendung, beglaubigt durch Bohrtürme und 01-produktion?

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