"Ich bin mein Gehirn"

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Mit der Behauptung, dass der "freie Wille" nur eine Schimäre sei, sorgt Wolf Singer für Kontroversen. Entsprechend gut besucht war jene "Karl von Frisch Lecture", die der Frankfurter Hirnforscher vergangene Woche in Wien gehalten hat. Im Interview erläutert Singer seine Thesen - und verteidigt sie u.a. gegenüber der Kritik von Ernst Tugendhat (vgl. Furche Nr. 2).

Die Furche: Herr Professor Singer, haben Sie sich in Frankfurt aus freiem Willen dafür entschieden, für einen Vortrag nach Wien zu kommen - oder haben neuronale Verschaltungen in Ihrem Gehirn Sie hierher dirigiert?

Wolf Singer: Eine Fülle von Attraktoren hat dazu geführt, dass ich hier gelandet bin. Und die sind neuronal verhandelt worden. Ein gewichtiges Argument war, dass mich Friedrich Barth (Zoologe an der Universität Wien, Anm. d. Red.), den ich sehr schätze, eingeladen hat. Und das hat in meinem Gehirn einen Zustand erzeugt, der gesagt hat: "Das kannst du eigentlich nicht ablehnen." Die Gesamtheit der Argumente hat sich also Richtung Wien versammelt.

Die Furche: Zeigt dieses Abwägen von Argumenten nicht eher, dass Sie bewusst und frei entschieden haben?

Singer: Manche Philosophen behaupten das. Aber Argumente sind ja in dem Moment, wo sie wirksam werden, auch nichts anderes als neuronale Erregungsmuster. Wenn Sie mir gegenüber argumentieren, dann erzeugt das spätestens, wenn es an mein Ohr getroffen ist, neuronale Aktivität und ein Muster in meinem Gehirn, und dieses Muster wirkt als bestimmendes Element für das, was ich als nächstes sage oder tue.

Die Furche: Wo finden überhaupt noch bewusste Entscheidungen statt?

Singer: Wir treffen natürlich bewusste Entscheidungen, weil wir das, was im Bewusstsein reflektiert wird, mitverfolgen können. Aber auch das Bewusstsein ist eben die Folge von neuronalen Prozessen - und nicht die Ursache.

Die Furche: Man kann mit Jürgen Habermas fragen: Wo ist das Problem? Wir leben offenbar in einem Dualismus zwischen dem eigenen Empfinden, frei zu entscheiden, und der Fremdbeschreibung neuronaler Vorgänge ...

Singer: Es ändert sich natürlich nichts daran, dass eine Person für das, was sie tut, verantwortlich ist. Nur die Idee, dass wir im bewussten Bereich viel freier wären als in den unbewussten Bereichen, ist für einen Neurobiologen abwegig. Es ist nur Neuronengewitter.

Die Furche: Das klingt fast nach "Fremdbestimmung" des bewussten Ich durch das eigene Gehirn ...

Singer: Diese Schlussfolgerung ist natürlich verkehrt, denn das eigene Gehirn ist ja der Sitz des eigenen Ichs. Ich bin es ja, ich bin mein Gehirn. Das Konzept, das bei vielen noch im Hinterkopf steckt, ist demgegenüber ein dualistisches: Viele Leute - und auch Philosophen - haben klammheimlich das Gefühl: Da ist irgend ein Alter Ego, das sich unabhängig von diesen Prozessen frei entscheidet. Aber das Ich konstituiert sich aus dem, was die Nervenzellen machen.

Die Furche: Wobei Ihnen Ernst Tugendhat entgegnen würde, bisher nur zeigen zu können, an welcher Stelle im Gehirn etwas "blubbert". Aber wie genau Überlegungsprozesse ablaufen, hätten Sie nicht durchschaut ...

Singer: Das ist unfair! Wenn jemand rechnet oder nachdenkt, dann sieht man Aktivität im Gehirn - und zwar genau an den Stellen, wo sie hingehört. Wenn es umgekehrt dort eine Störung gibt, dann ist diese wunderbare Funktion weg. Einen immateriellen Geist müsste es aber kalt lassen, ob da Neuronen sind oder nicht. Es gibt auch nirgendwo im menschlichen Gehirn einen Freiraum für etwas Seelisches. Sondern es ist das selbe wie bei einer Katze ...

Die Furche: Aber eine Katze kann nicht moralisch handeln ...

Singer: Das menschliche Gehirn hat viele Funktionen, die tierische Gehirne nicht haben, aber das hebelt doch das Argument nicht aus: Wir haben in der Tat empathische Attitüden und vieles mehr. Wir haben auch die Einbettung in ein kulturelles Umfeld, das uns einen Wertekanon vorgibt. Die Katze hat das nicht. Wir können uns auch Götter erfinden. So ist es mit dem freien Willen auch: Das ist ein Konzept, das wir uns ausgedacht haben aus der Beobachtung dessen, was wir wahrnehmen.

Die Furche: Wobei etwa die Frage, ob unser Gehirn sich seine Götter macht oder Gott zuvor das Gehirn erschaffen hat, offen bleibt ...

Singer: Natürlich. Unser Wahrnehmungs-und Vorstellungsvermögen ist ja begrenzt. Die ganzen Kinderfragen sind noch unbeantwortet: Was war vor dem Urknall? Wohin entwickelt sich unser Universum? Das lässt enorm viel Raum für jedweden Glauben.

Die Furche: Welche Folgen hätte Ihr Konzept vom Ende der Willensfreiheit für die Rechtsprechung?

Singer: Wegen dieser Frage habe ich überhaupt angefangen, über diese Dinge nachzudenken. Stellen Sie sich vor, man findet bei einem Straftäter einen Tumor, der die Verbindungen zwischen dem Speicher für die moralischen Werte und den Zentren unterbricht, die man zur Unterdrückung von Handlungsimpulsen braucht. Dann wird man sagen: Der Arme konnte nichts dafür. Mildernde Umstände - oder in die Klinik! Der gleiche Defekt kann aber auch darauf beruhen, dass die Verbindungen genetisch gar nicht richtig angelegt waren oder durch falsche Erziehung nicht bestätigt und wieder weggeräumt worden sind. Dann wäre man aber gar nicht milde.

Die Furche: Wie sollte die Jurisprudenz damit umgehen?

Singer: Sie soll einfach so pragmatisch vorgehen wie bisher. Das Strafmaß bemisst sich ja ohnehin nicht an der subjektiven Schuld, sondern an der Schwere der Tatfolge. Wir sind etwa gegenüber Triebtätern besonders streng, weil wir wissen, wie gefährlich sie sind - obwohl sie nach der konventionellen Definition von Freiheit "unfrei" sind. In der Rechtsprechung geht es eben auch um ein gewisses Rache-und Sühnebedürfnis und um die erzieherische Funktion.

Die Furche: Ihr Ansatz sollte also keine Folgen haben?

Singer: Doch: Dass man mehr Toleranz hat für abweichendes Verhalten - nicht im Sinn von "alles durchgehen lassen", sondern von mehr Verständnis und Mitgefühl. Es ist doch furchtbar, wenn jemand ein Gehirn hat, das ihm nicht zuvor kommt, wenn er drauf und dran ist, jemand anderen totzuschlagen.

Das Gespräch führte Doris Helmberger.

Bayrischer Katholik und wissenschaftlicher Ketzer

Der Festsaal der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am Wiener Ignaz Seipel-Platz platzte vergangenen Donnerstag aus allen Nähten. Kein Wunder: War doch mit Wolf Singer jener Mann angesagt, nach dessen Willen eine Grundsäule des Menschenbildes - nämlich die Willensfreiheit - nichts anderes sei als Lug und Trug. Kultur-und Geisteswissenschafter werfen ihm vor, reduktiv zu sein und mit dieser Behauptung die eigene, naturwissenschaftliche Methode zu überfordern - zuletzt etwa der Philosoph Ernst Tugendhat (vgl. furche Nr. 2 bzw. Leserbrief auf Seite 12 dieser furche). Dessen ungeachtet ist Singer begehrtes Mitglied zahlreicher Gremien, u.a. der päpstlichen Akademie der Wissenschaften. 1943 in München geboren (und evangelisch getauft), wurde Wolf Singer katholisch erzogen. "Meine Eltern haben eben gedacht, dass das im katholischen Bayern besser ist", erzählt Singer, der sich heute nicht mehr vorstellen kann, "dass ein Gott auf mich aufpasst". Nach dem Medizinstudium in München spezialisierte er sich in Paris und an der University of Sussex im Bereich Neurophysiologie. 1981 wurde er Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt und 2004 Gründungsdirektor des Frankfurt Institute for Advanced Studies (fias). Neben seinen Büchern - zuletzt "Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung" (Suhrkamp 2003) - sorgte Singer vor allem mit einem faz-Artikel für Emotionen. "Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu reden", lautete der Titel seines Beitrags vom 8. Jänner 2004. "Das ist vom zuständigen Redakteur", verteidigt sich Singer. "Ich wollte es noch ändern, weil es so plakativ ist - aber das war schon gedruckt."

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