"Mehr Verständnis der EU für das Baltikum"

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Das Baltikum - heute die Länder Estland, Lettland und Litauen - strebt nach dem Zerfall der Sowjetunion vehement in die EU. Es steht aber weiterhin massiv unter dem Einfluss seines übermächtigen Nachbarn, Russland. Im folgenden ein Gespräch über die Zukunft dieser Schlüsselregion im Norden Europas.

die furche: Der Ostseeraum scheint Ihr "Lebensthema" zu sein. Worin besteht für Sie dessen besonderer Reiz?

Antti Karppinen: Die Ostsee ist das große europäische Binnenmeer. Es verbindet über das Wasser zehn Völker. Jetzt ist die Ostsee, von den Gegensätzen des Kalten Krieges befreit, ein europäischer Raum, eine EU-Region, mit einer von allen EU-Staaten mitgetragenen gemeinsamen Strategie, in der für das neue Russland ein gebührender Platz vorgesehen ist. An der Schnittstelle zwischen Mittel-, Nord- und Osteuropa stehen die drei baltischen Staaten, zu deren vorrangigsten politischen Zielen der Beitritt zur Europäischen Union zählt.

die furche: Wie weit ist der wirtschaftliche Transformationsprozess im Baltikum schon vorangekommen?

Karppinen: Die wirtschaftliche Grundstruktur der drei baltischen Staaten war schon zur Zeit des Zarenreiches verschieden. In Riga oder Tallinn gab es vor 100 Jahren große, in westeuropäischem Besitz befindliche Industrieanlagen, die das ganze russische Reich beliefert haben. In der Zwischenkriegszeit musste sich das Baltikum hauptsächlich auf die Landwirtschaft verlassen, weil infolge des Systemwechsels der russische Markt verloren ging. Nach der Okkupation 1940 und der sogenannten Befreiung 1944/45 wurden die baltischen Staaten in die sowjetische Planwirtschaft integriert. In das Baltikum wurden riesige Industriekomplexe verlegt, die keinen Bezug zu den Standortländern hatten und die von Arbeitskräften aus anderen Teilen der UdSSR betrieben wurden. Durch die russischen Ansiedlungen kam es auch zu entscheidenden Veränderungen in der Bevölkerung der drei Staaten, die durch Krieg und Deportation um bis zu 30 Prozent ihrer Bürger verloren hatten. Gleichzeitig wurden auf dem Land die Einzelhöfe vernichtet und Kolchosen mit übergroßen gemeinschaftlichen Feldern gegründet. Dieses "Erbe" belastet jetzt beim Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft sowohl die Industrie wie auch die Landwirtschaft. Für diesen Übergang bedarf es großer Anstrengungen, die aber von großen Teilen der russischen Minoritäten - besonders der älteren Generation - nicht mitgetragen werden.

die furche: Wie kann die EU die baltischen Reformstaaten auf ihrem Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft unterstützen?

Karppinen: Die EU als Verkörperung Europas überhaupt hat eine besonders große ideelle Bedeutung für die Völker, die sich von den Folgen des sowjetischen Systems befreien wollen. Es ist das ureigenste Bestreben der baltischen Völker, in die europäische Familie wieder gleichwertig aufgenommen zu werden. Dafür ist ihnen kein Opfer zu groß. Es ist meines Erachtens wichtig, diese Völker nicht nur als potenzielle Partner im wirtschaftlichen Sektor zu betrachten, sondern auch als gleichberechtigte und wertvolle Mitglieder der traditionellen europäischen Wertefamilie. Deswegen sollte jede Möglichkeit ausgeschöpft werden, diesen Völkern das Zurückfinden zu unserer Demokratie und Werteordnung zu erleichtern, die Umstrukturierung der Gesellschaft als Ganzes zu unterstützen und so bald wie möglich unumkehrbar zu machen. Auf politische Deklarationen sollten Taten folgen.

die furche: Eine große innenpolitische Belastung für die baltischen Staaten sind die russischen Minderheiten, die sogenannten Militär-Pensionäre oder die Arbeitslosen der ehemaligen Großbetriebe. In Estland gibt es ein Drittel Russen, in Lettland knapp 50 Prozent. Wie können die baltischen Staaten da ein einigermaßen stabiles und gutes Verhältnis zu Russland entwickeln?

Karppinen: Wenn man von den Problemen mit den russischen Minderheiten in den drei Staaten spricht, sollte man die Versuche Moskaus entschieden zurückweisen, darüber bewusst falsche Angaben zu machen. Aus außen- und sicherheitspolitischen Gründen möchten gewisse Kreise in Russland alle ehemaligen Sowjetbürger, die in den ehemaligen Sowjetrepubliken leben, zu so genannten Auslandsrussen zusammenfassen, auch sogenannte Nicht-Slawen. Sogar gegen deren eigenen Willen! Es wird auch wenig Aufsehen darüber gemacht, dass eine Million russischsprechender Bürger aus Zentral-Asien geflohen ist, dass einige hunderttausend Russen im Baltikum aber nicht aussiedeln können, weil sie in Russland keine angemessene Arbeit oder Unterkunft finden. Was die drei baltischen Staaten betrifft, so ist strikt zu unterscheiden, dass es bis 1940 echte Minderheiten, wie die Balten-Deutschen, Juden, Russen, Polen gegeben hat, die auch baltische Staatsbürger waren. Sie sind heute wieder echte Staatsbürger und echte Minderheiten mit allen politischen und kulturellen Rechten. Dann gibt es die mehrere Millionen umfassende Zahl ehemaliger Sowjetbürger, die nach 1990 im Baltikum "gestrandet" sind, verlassen von ihren Arbeitgebern und ohne Auskommen. Von diesen haben gut 100.000 die neue russische Staatsangehörigkeit angenommen und leben als Ausländer in den drei Ländern. Zehntausende haben neue estnische oder lettische Pässe beantragt und erhalten. Sie haben ihre Loyalität zum neuen Heimatland durch eine Sprachprüfung bekundet - und bilden eine nicht unwichtige neue Minderheit, die auch in den Parlamenten vertreten ist. Das natürliche Bestreben der baltischen Saaten und auch Finnlands ist es, die Beziehungen zu Russland so schnell wie möglich stabil, vielseitig und vorteilhaft für alle Seiten aufzubauen - so wie es bei Nachbarn sein sollte. Doch leider sind zur Zeit die Entwicklungen in Russland dafür nicht günstig.

die furche: Wie reagiert denn Moskau auf die Entwicklungen im Baltikum?

Karppinen: Um die angeblich missachteten Menschrechte der russischsprachigen Bevölkerung im Baltikum zu schützen, hat Moskau doppelte Schutzzölle eingeführt, Transporttarife erhöht, Grenz- und Wirtschaftsverhandlungen aufgeschoben. Die Regierungen im Baltikum sind öffentlich angeprangert worden, von chauvinistischen und antisemitischen Ansichten geleitet zu sein. Im Baltikum besteht oft der Eindruck, dass man in Brüssel mehr Rücksicht auf die Propaganda Moskaus nimmt, als die tatsächlichen Vorgänge psychologisch subtilerer Natur zu verstehen versucht. Die vom nationalen Untergang noch immer bedrohten und durch die Folgen zweier Okkupationen - erst durch Hitler, dann durch Stalin - geschwächter baltischen Völker verdienen auf ihrem Weg nach Europa nicht nur gleichgültiges Mitleid, sondern die Anerkennung ihrer Situation und unsere Unterstützung.

die furche: Wie soll die EU mit dem "schwankenden Riesen" Russland umgehen?

Karppinen: Das Problem der Russischen Föderation ist, dass sie sich bis heute außenpolitisch nicht eindeutig selbst definiert hat. Sie will Großmacht sein und bleiben, gesteht sich aber selbst ein, dass ihr Wirtschaftspotential kaum größer ist als das der Benelux-Länder. Die Infrastruktur ist in einem desolaten Zustand, die Bevölkerung schrumpft, Missmut und Zynismus unter den Bürgern nehmen dagegen zu. Ganz offen wird behauptet, dass die so genannte westliche Rechts- und Werteordnung, die protestantische Arbeitsmoral oder die Demokratie dem russischen Naturell nicht entsprächen. Deswegen seien diese angeblich westlichen Normen, die Auflagen der Weltbank und des IWF abzulehnen, denn sie veranlassten Russland von einem schlechten System in ein anderes menschenverachtendes System zu wechseln. In der westlichen Ordnung, so wird weiter behauptet, gebe es keinen Raum für die russische Seele, die Freiheit wolle. Bis Russlands jüngere Generation zu sich gefunden hat, meine ich, sollten wir alle vernünftigen Entwicklungen unterstützen, die zu einer Entwicklung auf erträglichem Niveau führen.

die furche: Würde ein Beitritt der baltischen Staaten zur NATO die Region destabilisieren?

Karppinen: Die NATO ist nicht mehr dieselbe Organisation, die sie im Kalten Krieg war. Die Annäherung der EU im politisch-militärischen Bereich ist schon ein Faktum. Dieser Prozess wird weitergehen. Die Euro-Region "Ostsee", deren Anrainer in der EU, in der NATO und im Council of Baltic Sea States (CBSS) vertreten sind, ist organisch an diesem Prozess beteiligt. Symbolische Einheiten der baltischen Staaten sind an der Seite der skandinavischen Staaten und Polens an UNO-Einsätzen und NATO-Militärübungen beteiligt. Wichtig ist, dass die Sicherheit und die Zusammenarbeit aller Ostseeanrainer-Staaten nicht statisch, sondern dynamisch gewährleistet wird, wobei Seerettung, Ölpestbekämpfung, der Schutz der Kernkraftwerke bereits eine Form praktischer Sicherheitszusammenarbeit ist. Also Sicherheit mit und nicht gegen Russland. Es sollte allerdings beachtet werden, dass Demokratie, Menschenrechte und Marktwirtschaft nicht aufgezwungen werden. Es sollte alles versucht werden, um der jüngeren Generation die Möglichkeit zu geben, Vorurteile zu überwinden und das Wesen der europäischen Völkervielfalt kennenzulernen.

Das Gespräch führte

Roland Löffler.

Zur Person: Ein Freund des Baltikums

Antti Karppinen wurde am 6. Mai 1924 in Hamburg-Altona geboren. Aufgewachsen ist er dann in Helsinki und Riga, wo er die Deutsche Schule besuchte. Nach Abitur (1942) und Kriegsdienst studierte er Pädagogik, Kulturwissenschaften, Germanistik und Slawistik an der Universität Helsinki. 1955 trat er in den diplomatischen Dienst ein.

Bevor er 1985 Botschafter in Bonn wurde, vertrat er die Republik Finnland ausschließlich in Osteuropa: 1955 bis 1962 und dann 1968 - zuletzt als Gesandter - in Moskau, 1973 bis 1980 als Generalkonsul in Leningrad sowie 1965 bis 1968 und nochmals 1980 bis 1985 als Botschafter in Prag. Karppinen gehörte der ersten finnischen KSZE-Delegation ebenso an wie der Verhandlungsdelegation zur gleichzeitigen Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit den beiden deutschen Staaten.

Nach seiner Pensionierung übernahm er von 1991 bis 1998 den Vorsitz des "Pro Baltica Forums" und engagierte sich für den politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau der drei baltischen Staaten.

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