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Es gärt im Baltikuni

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Vor 65 Jahren wurden die baltischen Republiken nach gelungenem Entrinnen aus dem zusammengebrochenen Zarehreich gegründet. 1918 erhielten Esten (ugro-finnisches Volk) und Letten die Möglichkeit, sich in je einem selbständigen Staat zusammenzuschließen, während die mit den Letten gemeinsam ein indogermanisches Idiom sprechenden Litauer auf die imponierende Tradition einer ehemaligen Großmacht zurückblicken konnten.

Die Unabhängigkeit währte indes nur 22 Jahre. Unter völliger Mißachtung der bilateralen

Staatsverträge (1920 Dorpat-Ri-ga-Moskau) sowie der eigenen Leninschen Selbstbestimmungsgrundsätze aller Völker, holte sich 1940 die Sowjetunion in bester zaristischer Brauchtumspflege nach Abschluß des Molotow-Rib-bentrop-Paktes die schon verloren geglaubte Beute wieder.

7,5 Millionen Nichtrussen wurden einverleibt, 178.500 Quadratkilometer (mit damals 4-5 Prozent russischer Bevölkerung) Land wurden annektiert. Seitdem wurden etwa 665.000 Balten nach Rußland verschleppt beziehungsweise umgesiedelt,und Millionen von Russen, hauptsächlich wegen des dortigen wesentlich höheren Lebensstandards, strömten in die jetzigen baltischen Sowjetrepubliken. Diese beherbergen nunmehr etwa 36 Prozent (Jänner 1983) Nichtbalten in Estland und Lettland beziehungsweise neun Prozent (1979) in Litauen.

Während die übrige Welt zur Tagesordnung übergegangen ist, wird ein baltischer Staatsbegriff von den USA, Kanada, Großbritannien, Australien, der Bundesrepublik und dem Vatikan weiterhin ausdrücklich anerkannt.

Formell zur Kenntnis genommen haben die völkerrechtswidrige Annexion durch die UdSSR nur wenige Staaten, aber einen mutigen Schritt zu deren Verurteilung hat in jüngerer Zeit nur das Europa-Parlament/Straßburg unternommen. In der Entschließung des Europaparlaments wird der von der Sowjetunion betriebene Neokolonialismus, gepaart mit gewaltsamer Russifizierung und religiös-kulturellem Völkermord angeprangert.

Uberschattet werden der 65. Jahrestag sowie die Ernennung des lettischen Bischofs und apostolischen Administrators der Erzdiözese Riga, Julians Vaivods (88 Jahre, davon zwei im verschärften Straflager bis 1960),zum Kardinal Anfang 1983 von einer allgemeinen Verschärfung der politischen Lage in Estland, Lettland und Litauen. Moskau übt verstärkten Druck auf sie aus.

Mit politischen Pressionen gehen häufige Versorgungsmängel, wachsende Gegensätze - nicht zuletzt als Folge der polnischen Ereignisse — zwischen Balten und zugewanderten Russen einher, wie dies beispielsweise K. Vaino, Erster Sekretär des estnischen Parteizweiges in der sowjetischen' Parteizeitschrift „Kommunist" offen zugibt. In seiner Rede wird der „schädliche" Einfluß der unabhängigen polnischen Gewerkschaftsbewegung „Solidarnošč" ausdrücklich erwähnt. Diese habe im Baltikum „ideologische Probleme" geschaffen, die es nun zu beseitigen gelte.

Die kulturell und religiös west-lich-orientierten Balten wollen sich weder geistig noch politisch gleichschalten lassen. Daran haben auch vierzig Jahre Unterdrückung nichts geändert. Ihre kräftemäßige Unterlegenheit versuchen sie durch einen intensivierten nationalen Zusammenhalt auszugleichen.

Die kommunistische Partei wiederum reagierte darauf mit verstärkter Überwachung und Unterbindung freiheitlicher Regungen. Dies trifft gleichermaßen Bürgerrechtler, Intellektuelle und Gläubige.

Verhaftungen von Regimegegnern und -kritikėm, zum Teil unter fadenscheinigen Vorwänden („Verletzung der Arbeitsdisziplin"), wurden in letzter Zeit vermehrt in Kopenhagen und Stockholm mit Empörung registriert.

Ein sowjetisches Gericht hat Anfang Mai in Wilna den 57jähri-gen katholischen litauischen Priester A. Svarinkas wegen „staatsfeindlicher Tätigkeit" zu sieben Jahren Haft verurteilt. Svarinkas wurde vor allem die Gründung eines „Katholischen Komitees für die Verteidigung der Rechte der Gläubigen" vorgeworfen.

Helsinki (mit seiner Schlußakte) liegt nicht nur geographisch nahe. Auch symbolisch schauen die Esten gerne dorthin. Das finnische Fernsehen ist in Tallinn/ Reval gut zu empfangen, wie in Litauen das polnische TV. Die Abkapselung des Baltikums ist daher nicht total wie im restlichen Sowjetrußland. Der — hauchdünne — Faden zum Westen ist nicht abgerissen.

Beklagt wird in den ehemals stolzen, geknechteten baltischen Ländern auch die wirtschaftliche Ausbeutung durch die übrige Sowjetunion. Das Baltikum besaß von jeher eine fortschrittliche Industrie, blühende Agrarwirt-schaft und ausgedehnte Handelsflotten. Reiche Bodenschätze, wie große Vorkommen von Ölschiefer in Estland, samt vom Niveau her überlegenen baltischen Erzeugnissen kommen nunmehr dem unersättlichen Riesenreich der „Werktätigen" zugute.

Moskau hat in letzter Zeit seine gierige Hand auch nach dem Vermögen im Ausland verstorbener Balten-vornehmlich in den USA, wo noch baltische diplomatische Vertretungen aus der Vorkriegszeit amtieren — ausgestreckt.

An der Schwelle des Orwell-schen Jahres wird am Finnischen Meerbusen von einer „Finnlandi-sierung" geträumt — allerdings mit wenig Aussicht auf Verwirklichung.

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