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Krieg gegen „Separatisten

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Die Politik der Balten ist eine Gratwanderung zwischen dem Spiel der Unabhängigkeit - das heißt der Illusion, schon ein Stück Souveränität zu haben - und dem Streben nach Unabhängigkeit - das heißt der zähen Forderung nach Löslosung vom Sowjetimperium.

Estland und Litauen vertreten dabei unterschiedliche Ausgangsthesen. Litauens Ausgangspunkt ist mit der Verkündigung der Wiederherstellung der Unabhängigkeit vom 11. März 1990 hinreichend bekannt.

Die Esten bedienen sich einer anderen Konstruktion. Ihrer Meinung nach sind sie ein besetztes Land und auch der Oberste Sowjet Estlands, das sogenannte Parlament, ist eine von den Besatzern aufgezwungene Körperschaft.

Im Herbst 1989 hatten die Esten in mühevoller Kleinarbeit begonnen, Wahlen für eine eigene unabhängige Körperschaft, den Estnischen Kongreß, vorzubereiten. An den Wahlen nahmen dann nur registrierte Staatsbürger der Republik teil. Seit dem Frühjahr 1990 existiert diese unabhängige parlamentarische Körperschaft, mit dem Estnischen Komitee an der Spitze.

Einflußreiche Personen an der Front der Rahvarinne, der estnischen Volksfront, wie zum Beispiel der heutige Premier Edgar Savi-saar, hatten anfänglich gewaltig gegen den Estnischen Kongreß polemisiert, um sich dann zum Schluß doch hineinwählen zu lassen. Die Regierung der Volksfront findet in der Basis nicht mehr die

breite Unterstützung, da die Volksfront selbst inzwischen quasi zu einer Liga der Partei geraten ist.

So regiert in Estland zur Zeit mehr oder weniger der Dualismus. Tile Kellam, der Vorsitzende des Estnischen Kongresses, kontra Edgar Savisaar oderumgekehrt. Während im Estnischen Komitee eindeutig bürgerlich-liberale Kräfte dominieren, stellen einen Teil der demokratischen Mehrheit im estnischen Parlament Reformkommunisten dar, die gerade noch in letzter Minute den Absprung geschafft haben, „Wendehälse" also.

Die letzteren besitzen in der Staatsbürgerbewegung kaum Vertrauen. So gibt es auch in den programmatischen Akzenten der beiden parlamentarischen Organe Unterschiede: Der Oberste Sowjet Estlands beharrt auf einer kontinuierlichen, abgewogenen Reform; das Estnische Komitee möchte, daß die Wirtschaft rasch privatisiert wird.

Mit Hilfe der Besetzungsthese begründet man auch die Wehrdienstverweigerung. Man argumentiert, daß es laut Artikel 51 der 4. Genfer Konvention (1949) einer Besatzungsmacht verboten sei, in besetztem Gebiet die Zivilbevölkerung zum Wehrdienst heranzuziehen.

In Litauen haben die Wehrdienstverweigerer ihre sowjetischen Pässe per Einschreiben an das sowjetische Militärkommissariat geschickt. Damit wollten sie dokumentieren, daß sie Bürger des unabhängigen Litauen sind und in keinem fremden Land Wehrdienst leisten werden.

Vytautas Landsbergis und Edgar Savisaar neigen beide zur autoritären Regierungsform. Beide zeigten Ambitionen, ihre Person in das

bestmögliche Licht zu rücken. Als im Blatt der estnischen Volksfront ein Artikel über das Vorleben des Kommunisten Savisaar unter der Überschrift „Die Volksfront, das bin ich" erschien, ließ der Beschriebene (noch vor den Wahlen) den jungen Journalisten feuern. Landsbergis hingegen ließ aus Fernsehaufnahmen die Bilder seines reformkommunistischen Kontrahenten Algirdas Brazauskas schneiden. Er wolle, so hieß es, nicht gemeinsam mit dem Chef der KP Litauens auf dem Bildschirm zu sehen sein, Sowohl in Tallinn als auch in Vilnius haben sich die Regierungen gescheut, unpopuläre Entscheidungen zu fällen. In Vilnius begann die Welle der populären Entscheidungen schon mit der Wahl Landsbergis zum Präsidenten. Die Abgeordneten wollten dem Ruf des Volkes „Nie wieder Kommunisten" gerecht werden und wählten den Vorsitzenden von Sajudis. Dabei hätte sein Kontrahent Brazauskas wahrscheinlich die Staatsgeschäfte mit weitaus mehr Geschick und politischem Gefühl in die Hand genommen.

Diese Personalentscheidung hat den Weg Litauens 1990 entscheidend geprägt. Auf der einen Seite versuchte Landsbergis zu demonstrieren, daß man ein unabhängiger Staat sei, mit eigenen Personaldokumenten, eigenen Briefmarken, eigenen Botschaftern.

Auf der anderen Seite forderte Kazimiera Prunskiene, die abgesetzte litauische Premierministerin (siehe Interview FURCHE 3/1991), bei Michail Gorbatschow Zentimeter um Zentimeter Eigenständigkeit. Und ihr Vertreter Romualdas Ozolas erklärte dem Volk: „Ein Staat ohne eigene Polizei und ohne

eigene Armee ist nur ein Wunschgebilde eines Staates." All das verwirrte die Bevölkerung bisweilen.

Für die Mitglieder des litauischen Parlaments gilt die gleiche Aussage, die schon für die lettische und estnische Körperschaft getroffen wurde: Vorwiegend sitzen dort Abgeordnete, die auch schon zu moskautreuen Zeiten einen Sitz im Obersten Sowjet hatten und schnell ihre Anpassung betrieben. Angesichts dieses Faktums ist es natürlich lächerlich, wenn ein fähiger Staatsmann nur aus antikommunistischen Überlegungen heraus nicht gewählt wird.

Gegenwärtig spielen diese innenpolitischen Probleme keinerlei Rolle. Derzeit polarisieren sich auch die Meinungen unter den nichtbaltischen Bevölkerungsanteilen der Ostseerepubliken. Viele einfache russische Arbeitsimmigranten haben sich angesichts der blutigen Ereignisse in Vilnius und in Riga vor zweieinhalb beziehungsweise eineinhalb Wochen auf die Seite der Einheimischen geschlagen, während die Führungseinheiten der russischen Interfront, die in Litauen übrigens „Jedinstwo" (Einheit) heißt, unverhohlen den Krieg gegen die „Separatisten" schüren.

Gemäßigte Interfrontler gibt es nicht mehr. Auch die zirka 300.000 polnischen Einwohner Litauens, in den Vorjahren starke Anhänger der „Jedinstwo", haben nach neuesten Meldungen ihre Position gewechselt. Denn der krasse Widerspruch zwischen den Ereignissen im Land und der Berichterstattung darüber im sowjetischen Zentralfernsehen ließ viele ideologisch nicht allzu Verblendete begreifen, daß die Moskauer Position wohl kaum die gerechte sei.

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