(Un-)Gläubige und Religionskomponisten

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Eine Langzeitstudie analysiert die Religiosität in Europa während der letzten drei Jahrzehnte. Deren Ergebnis überrascht zwar wenig - das Bild erweist sich dennoch mehr als komplex.

Seit Mitte der neunziger Jahre wird von Religionssoziologen und Theologen ein gesellschaftlicher Trend zur Respiritualisierung in den westlichen Gesellschaften beobachtet. Wenn sich die Experten vielfach auch nicht einig darüber sind, wie diese Entwicklung zu bewerten ist, so nehmen doch alle wahr: Es tut sich etwas in Sachen Religion. Die Säkularisierung Europas hat ihren Höhepunkt überschritten und wird von widersprüchlichen Phänomenen eines (wieder? neu?) erwachten religiösen Bewusstseins begleitet, dessen inhaltliche Konturen nicht eindeutig sind. Nicht zuletzt die Ereignisse der vergangenen Wochen machen deutlich, dass Religiosität nach wie vor eine mächtige und auch bedrohliche Fähigkeit, eine ungelöste Frage des Mensch-seins ist.

Wie steht es in Österreich mit der Religion? Dafür stehen die Daten eines Langzeitprojektes zur Verfügung, das seit 30 Jahren die religionssoziologischen Entwicklungen erforscht: Das Projekt "Religion im Leben der ÖsterreicherInnen" erwuchs bald nach dem 2. Vatikanischen Konzil aus den ersten kirchensoziologischen Gehversuchen in Wien und hat unter der Leitung des Pastoraltheologen Paul M. Zulehner seinen Horizont zwischenzeitlich über das kirchliche Leben hinaus geweitet: Es fragt, wie denn das Verhältnis der Österreicher zur Religion überhaupt aussieht. Nun liegt die vierte Auflage dieser Studie vor: "Religion im Leben der ÖsterreicherInnen 1970-2000". Erstmals sind auch Vertreter der evangelischen Kirchen mit einem eigenen Sample dabei.

Ein weites Feld

Die Ergebnisse liefern ein komplexes, schillerndes Bild: Die gesellschaftlichen Umbrüche der Gegenwart bleiben auch für die Religion nicht ohne Folgen. Ein weites Feld von Weltanschauungen wird sichtbar:

* 30 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher können als Humanisten bezeichnet werden: mit explizit christlichen oder fernöstlichen Glaubensinhalten können sie wenig anfangen, aber Frage, Sehnsucht, oder auch ein Glaube an einen unbestimmten Gott finden sich auch hier.

* Die Gruppe der traditionellen Christinnen und Christen, die glauben, dass sich Gott in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat, die an eine Zukunft glauben, die im Reich Gottes liegt und deren Tod durch die Auferstehung Sinn bekommt, ist mit 27 Prozent eine Minderheit. Aber Elemente dieser Auffassungen finden sich auch in den anderen Weltanschauungen: von einem vollkommenen Ende des Christentums ist derzeit nichts zu sehen. Und in den Städten suchen Menschen in den Kirchen wieder verstärkt nach gemeinschaftlichem Anschluss.

* Die 13 Prozent der so genannten atheisierenden Österreicher negieren die Existenz Gottes oder merken zumindest nichts von seiner Präsenz. Für sie ist mit dem Tod alles aus, der Sinn des Lebens liegt im Leben selbst. Aber auch unter ihnen finden sich Menschen, die die Frage nach der Religion nicht kalt lässt.

* Die religionssoziologisch spannendste und am wenigsten erforschte Gruppe sind die 30 Prozent Religionskomponisten: Diese Menschen übernehmen einzelne Positionen aus dem Christentum, sind aber der Ansicht, dass Gott nicht nach der Art der Christen verstanden werden kann. Diese Gruppe verbindet fernöstliches, naturalistisches und humanistisches Gedankengut. Wie kunstfertig dies geschieht - ob es sich um Neuschöpfungen, Nachschöpfungen, Kinderlieder, Experimentalmusik, Symphonien oder Geräusche handelt, wissen wir vorläufig noch nicht.

Doch nicht Privatsache

Bei aller Zwiespältigkeit solcher Beobachtungen: an den religiösen Dimensionen in den Weltanschauungen der Menschen wird man hinkünftig auch in der Öffentlichkeit nicht mehr vorbeigehen und so tun können, als wäre das alles Privatsache. Denn dass und wie sehr (religiöse) Weltanschauungen mit anderen Wertehaltungen zusammenhängen macht die Studie ebenso deutlich. So sind Menschen, deren Religiosität stark kirchengebunden ist, in der Regel autoritärer, aber auch solidarischer als die weniger kirchennahen, die einen stark ausgeprägten Individualismus vertreten.

Auch die Kirchlichkeit der Österreicher ist differenzierter als gemeinhin angenommen: In der Studie wird eine Vielfalt unterschiedlichster Kirchenerwartungen sichtbar, unabhängig davon, ob jemand auch "offiziell" Kirchenmitglied ist. Unter jenen, die sich als Kirchenmitglieder verstehen, gibt es verschiedene Typen:

* Die so genannten Sozialchristen (42 Prozent inÖsterreich) gehen zwar selten in die Kirche, wünschen sich von dieser vor allem soziales Engagement. Die Ritualisten (14 Prozent) besuchen hin und wieder den Gottesdienst, sind in ihrer Glaubenswelt traditionell christlich geformt, schätzen die Rituale der Kirche, lehnen aber soziales Engagement ab. Diese 56 Prozent könnte man als formale Kirchenmitglieder bezeichnen, die den Kirchen skeptisch, aber nicht prinzipiell ablehnend gegenüberstehen. Was können die Kirchen für sie tun?

* 31 Prozent der befragten Personen kann man schließlich zur Gruppe der Intensivchristen zählen: Diese leben innerhalb der kirchlichen Binnenraums, schätzen den regelmäßigen Gottesdienst, sind aber an sozialen Stellungnahmen wenig interessiert; sie sind die Stammklientel der Kirchen, aus denen diese ihre Kraft beziehen.

* Als dezidierte Nicht-Mitglieder sind also nur 14 Prozent der Österreicher zu bezeichnen. Sie gehören keiner christlichen Kirche an, sind gottgläubig oder agnostisch und haben ein geringes Verständnis für die rituellen und sozialen Dienste der Kirche.

Die Freude und Freiheit, die Menschen offensichtlich heute daran haben, die persönliche Religiosität selbst zu "komponieren", die konfliktträchtige Vielfalt von Erwartungen an die Kirchen: all das wirft viele neue Fragen auf - für die Zukunft der Religion im Land, für die Rolle, die die Kirchen im Feld eines religiösen Pluralismus, der auch in Österreich Realität ist, spielen können.

Die vielen Fragen rund um die Daten waren Impuls, ein Symposium zu veranstalten, das am 5. und 6. Dezember 2001 in Wien stattfindet. 40 namhafte Personen aus den Kirchen und der Wissenschaft (darunter der evangelische Bischof Herwig Sturm, der evangelische Oberkirchenrat Michael Bünker, zahlreiche prominente katholische und protestantische Theologinnen und Theologen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz werden sich auf Einladung von Paul M. Zulehner zwei Tage zusammensetzen und die "Zukunft der Religion und die Rolle der Kirchen"diskutieren und Modelle und konkrete Vorschläge für diese Zukunft konzipieren. Themen dieses Symposiums sind die Kirchen- und Religionspolitik im deutschsprachigen Raum, die so genannte "Leutereligion", sowie die Folgen der empirischen Erkenntnisse für Religionssoziologie und Theologie. Die Ergebnisse dieses Symposiums werden im Frühjahr 2002 publiziert.

Neuartig ist auch, dass dafür im Internet eine virtuelle Diskussionsplattform eingerichtet wurde, an der sich Experten und alle Interessierten beteiligen können,. Alle sind herzlich eingeladen, mitzudiskutieren unter: www.pastoral.univie.ac.at/zukunft-religion

Die Autorin ist Assistentin am Institut für Pastoraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien

KEHRT DIE RELIGION WIEDER? Religion im Leben der Menschen 1970-2000

Von Paul M. Zulehner, Isa Hager, Regina Polak: Schwaben Verlag, Ostfildern 2001. 250 Seiten, kt., öS 350,-/e 25,43

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