"Zu fixiert auf Islamismus"

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Der evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Graf über das Spannungsfeld zwischen Religion und offener Gesellschaft.

Die Furche: Herr Professor Graf, wenn wir die "Gretchenfrage" auf uns selbst beziehen und uns fragen, wie es wir - die westeuropäischen Gesellschaften - mit der Religion halten, wie müsste da die Antwort lauten?

Friedrich Wilhelm Graf: Die Lage in Europa ist nicht leicht zu beschreiben. Es gibt unter Religionssoziologen eine Debatte, ob global gesehen die USA oder Europa ein Sonderfall in puncto Religion ist. Wir erleben einerseits das permanente Erodieren der alten kirchlichen Institutionen, andererseits gibt es immer noch eine erstaunliche Stabilität dieser Institutionen. Viele Menschen sind zwar distanziert zu den Kirchen eingestellt, aber sie erwarten an bestimmten Punkten ihres Lebens sehr wohl religiöse Dienstleistungen.

Die Furche: Man spricht viel von einer Wiederkehr der Religion, auch von einer Re-Theologisierung der Politik. Stimmen Sie dem zu?

Graf: Zunächst muss man sagen: Die Religion war nie weg. Aber es ist offensichtlich, dass wir in Europa seit zwanzig Jahren ein starkes mediales Interesse an Themen der Religion beobachten und dass wir bei vielen Menschen neue Suchbewegungen, neues Fragen nach Sinn, neues spirituelles Engagement konstatieren können.

Die Furche: Es gibt die Sorge, dass einem erodierenden, müde und schwach gewordenen Christentum ein sehr vitaler, kämpferischer, wenn nicht gar aggressiver Islam gegenübertritt …

Graf: Den Islam gibt es nicht. Es ist ein Unterschied, ob sie über Türken in Berlin reden, über Algerier in Marseille oder über Pakistanis in Birmingham. Zum Teil geht es um koloniales Erbe, zum Teil geht es um Arbeitsmigration - wir haben es da mit ganz unterschiedlichen Konfliktfeldern zu tun. Generell ist es so, dass 25 bis 30 Prozent der aus muslimischen Ländern nach Europa kommenden Menschen religiös aktiv sind. Aber nicht jeder, der von uns als Muslim wahrgenommen wird, versteht sich selbst als Muslim. Die Einwanderung von aktiven Muslimen zwingt alle europäischen Gesellschaften dazu, sich in neuer Weise zum Thema Religion zu verhalten. Der Prozess der Pluralisierung des religiösen Feldes ist ein äußerst konfliktreicher.

Die Furche: Halten Sie diesen Prozess - der ja im christlichen Bereich zum Teil eine verstärkte Rückbesinnung auf die eigene Identität, die eigenen religiösen Wurzeln bewirkt - für eine Bedrohung offener Gesellschaften?

Graf: Es gibt zweifelsohne neue fundamentalistische Versuchungen; es gibt ein neues Interesse an hart bindender Religion, es gibt einen neuen, sehr konservativ-wertbewussten, zum Teil auch kulturpolitisch aggressiven Katholizismus. Wenn Sie an bestimmte Repräsentanten der deutschen Bischofskonferenz denken: da haben Sie eine klare, harte Kritik am so genannten "Säkularismus", an der offenen, liberalen Gesellschaft …

Die Furche: Würden Sie da den deutschen Papst selbst dazuzählen?

Graf: Der deutsche Papst ist ein Theologen-Intellektueller, der niemals einen Zweifel daran gelassen hat, dass er das Projekt der offenen, liberalen Gesellschaft sehr skeptisch sieht. Denken Sie nur an die, wie ich finde, sehr prägnante Formel von der "Diktatur des Relativismus". Ratzinger macht das nicht mit kulturkämpferischem Schaum vor dem Mund wie manche andere, sondern auf hohem intellektuellen Niveau. Aber seine diesbezügliche Position tritt in fast allen seinen Texten sehr deutlich zutage. Was die Beschreibung der religiösen Situation im Allgemeinen betrifft, so würde ich nicht einfach einen "aggressiven Islam" einem "kulturkämpferischen Christentum" gegenüberstellen. Das Interessante sind vielmehr strategische Allianzen: Wir erleben, dass wertkonservative Repräsentanten von religiösen Gruppierungen sich auf pragmatische Konsense im Kampf gegen andere verständigen - etwa bei der Frage von religiösen Feiertagen, bei der Frage der Rechtsstellung von homosexuellen Partnerschaften et cetera.

Die Furche: Haben wir vielleicht vorschnell das Christentum für mit der modernen Welt kompatibel erklärt und kommen jetzt drauf, dass es da doch erhebliche Spannungsfelder - Stichwort Relativismus - gibt?

Graf: Es gibt unterschiedliche Konzepte von moderner Gesellschaft. Es geht um die Frage der normativen Grundlagen einer Gesellschaft; und die permanenten Auseinandersetzungen um diese Grundlagen sind selbst schon ein Spezifikum der Moderne. Zudem ist vieles, was wir an wertkonservativer Religion erleben, ein höchst modernes Phänomen. Deren Repräsentanten kämpfen zwar gegen eine bestimmte Ausprägung der modernen Gesellschaft, aber sie sind - anders als das oft dargestellt wird - keine Traditionalisten, sondern sie nehmen in einer zum Teil sehr intelligenten Weise Themen der modernen Gesellschaft auf. Nur sagen sie dann: Wir müssen auf diese Herausforderungen anders reagieren als bloß mit einer liberalen "Alles ist Möglich"-Politik.

Die Furche: Der gegenwärtige Papst betont sehr stark die Vernünftigkeit des christlichen Glaubens, die ja ein wesentliches Kriterium der Moderne-Verträglichkeit dieses Glaubens darstellt. Inwieweit überzeugt Sie das?

Graf: Man muss die Texte des Papstes sehr genau lesen. Dann wird ganz klar, dass für ihn das Christentum unausweichlich an die Hellenisierungsprozesse der ersten vier Jahrhunderte gebunden ist. Nun sehen wir uns aber mit ganz neuen Formen des Christentums - charismatische Bewegungen, Pfingstchristentum - konfrontiert, die zu dieser europäisch-philosophisch geprägten Tradition auf Distanz gehen. Die hält der Papst für illegitime Formen des Christentums - nur sind das sehr viele Menschen, rund 400 Millionen weltweit! Wir beachten in Europa noch immer zu wenig, dass das Christentum zunehmend zu einer Religion des globalen Südens wird.

Die Furche: Aber gäbe es nicht gute Gründe, vielen dieser flottierenden Strömungen sehr kritisch gegenüberzustehen? Und hätte Ratzinger demgegenüber nicht Recht mit seinem Beharren, dass Glaube und Vernunft nicht entkoppelt werden dürfen?

Graf: Selbstverständlich gibt es Gründe für solche Skepsis. Und ich bin völlig d'accord mit dem Papst, dass in einer europäischen Perspektive die Verknüpfung von religiösem Glauben und bestimmten Rationalitätsstandards unausweichlich und geboten ist. Die Frage ist nur, ob man diese neuen Formen des Christentums über theologische Reflexionsprozesses überhaupt beeinflussen kann. Da bin ich skeptisch, weil ich sehe, dass diese Christentümer ihre Attraktionskraft für viele Menschen aus ganz anderen Quellen gewinnen: nicht aus einem Bündnis mit der Vernunft, sondern beispielsweise aus Körpersprache oder Sozialmoral.

Die Furche: Ich habe zuerst die Moderne-Verträglichkeit des Christentums erwähnt …

Graf: Ich würde nicht gerne von der Moderne-Verträglichkeit des Christentums sprechen. Wir kennen auch in Europa Formen des Christentums, bei denen die Akzeptanz von Aufklärungsprozessen, der Trennung von Politik und Religion sehr viel weniger ausgeprägt ist. Denken Sie nur an die Orthodoxie, wo wir es zum Teil mit harten, nationalistischen Ethno-Kirchen zu tun haben.

Die Furche: Stichwort Akzeptanz von Aufklärungsprozessen. Viele meinen, dass hier das eigentliche Problem des Islams liegt …

Graf: Unser Blick ist zur Zeit verständlicherweise stark fixiert auf den politisierenden Islamismus. Wenn wir "Islam" hören, denken wir an nicht integrierte, gewaltbereite Jugendliche der zweiten und dritten Generation. Aber wir erleben ja auch spannende innerislamische religionspolitische Diskurse, wo eine Ortsbestimmung des Islams in Europa versucht wird. Ich gehe davon aus, dass sich in diesen - gewiss sehr konfliktreichen - Prozessen eine große Mehrheit der in Europa lebenden Muslime für das europäische Projekt der Demokratie und der offenen Gesellschaft entscheiden wird - und dass sie das auch aus ihren eigenen religiösen Traditionen und Ressourcen legitimieren werden können.

Die Furche: Halten Sie den Islam strukturell für fähig, die für westliche Gesellschaften konstitutive Trennung von politisch-gesellschaftlicher und religiöser Sphäre nachzuvollziehen?

Graf: Sehen Sie, noch in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts waren Begriffe wie Menschenwürde und Menschenrechte sowohl in den protestantischen Kirchen wie auch in der römisch-katholischen Lehre nicht sehr angesehen. Wir haben seither sehr viel gelernt - und ich bin stark davon überzeugt, dass solche Lernprozesse, die ja auch immer durch gesamtkulturelle Entwicklungen angetrieben werden, auch innerhalb islamischer Kontexte möglich sind. Das Festlegen des Islams auf eine prinzipiell antidemokratische, gegenaufklärerische, strukturell modernitätsunfähige Religion halte ich für wenig plausibel.

Das Gespräch führte Rudolf Mitlöhner.

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