Biografie und Gewalt

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Die gefährlichen Orte der Religion.

Irgendwie hatten alle mit dem sanften Verschwinden der Religion aus der Öffentlichkeit gerechnet. Der Marxismus früher sowieso, aber auch, etwas vornehmer, der liberale Kapitalismus, effektiver in allem, auch darin, die Religion zu marginalisieren. Man hatte sich angewöhnt, diesen Prozess mit dem etwas schillernden Begriff "Säkularisierung" zu belegen, und tatsächlich trifft er ja Realität.

Das halbe Verschwinden der Religion

Wenn man unter Säkularisierung versteht, dass religiöse Gehalte und Geltungsansprüche in den Privatbereich ausgelagert und im öffentlichen Bereich weitgehend neutralisiert werden, dann sind westeuropäische Gesellschaften tatsächlich mehr oder weniger säkularisiert. Das muss man auch nicht allzu sehr bedauern. Der heiße historische Kern des europäischen Säkularisierungsprozesses sind schließlich die Millionen Toten, welche die Religionskriege der frühen Neuzeit kosteten. Kein Wunder, dass danach die Gesellschaft begann, immer mehr ihrer Handlungssektoren religionsunabhängig zu machen.

Es gibt übrigens auch einen heißen theologischen Kern des europäischen Säkularisierungsprozesses. Die jüdisch-christliche Tradition radikalisiert den Transzendenzgedanken dermaßen, dass dies die Welt konsequent säkularisiert. Dieser Prozess setzte zur Zeit des Exils im Judentum ein und führte schließlich zu jenem Monotheismus, dessen Gott das ganz Andere zur Welt ist und dem nichts in dieser Welt nahe kommt. Das aber bedeutet auch: Man muss nur noch diesen einen letzten Gott streichen, um alle Götter gestrichen zu haben.

Aber Religion ist immer nur halb verschwunden. Unsere Gesellschaft ist alles andere als säkularisiert, wenn man unter Säkularisierung die generelle Neutralisierung religiöser Gehalte, ihr grundsätzliches Verschwinden oder ihre allgemeine Entplausibilisierung versteht. Das ist offenkundig - von wenigen postkommunistischen Regionen Europas abgesehen - nicht der Fall.

Nach den Regeln des Marktes

Freilich: Religion arrangiert sich gegenwärtig institutionell neu. Sie dereguliert sich und vergesellschaftet sich zunehmend nach jenem Muster, nach dem in dieser Gesellschaft nun einmal immer mehr organisiert wird: Sie organisiert sich nach den Regeln des Marktes. Die alten, ein wenig verwöhnten und immer noch privilegierten Anbieterinstitutionen der Religion setzt das unter massiven Transformationsstress, und es ist noch lange nicht ausgemacht, ob sie ihre altbewährte Adaptionskompetenz reaktivieren können.

Ganz verschwunden ist sie also nie wirklich, die Religion, in den USA schon gar nicht, wo bekanntlich Freiheit immer mit der Religion erkämpft wurde, aber eben auch nicht in Europa, wo sich im Wesentlichen Freiheit doch eher gegen die organisierte Religion durchsetzen musste. Aber Religion war irgendwie harmlos und berechenbar geworden. Nun aber kehrt sie zurück. Und das an zwei auf den ersten Blick recht gegensätzliche Orte.

Die Rückkehr der ReIigion I: Das Ich, der Körper, die Seele

Der letzte übrig gebliebene alte wie der erste neue Ort der Religion ist die eigene Biografie, ist die Sehnsucht, dem eigenen Leben wenigstens eine halbwegs sinnvolle Gesamterzählung geben zu können, mindestens sich selber. Generell gilt ja: Der einzige Ort, an dem die disparaten Teile der Gesellschaft noch verbunden werden, genauer: verbunden werden müssen, ist das Individuum. Es hat die unterschiedlichen sozialen Ansprüche in Einklang zu bringen - und wird in dieser Aufgabe schier zerrissen.

Differenzierte Gesellschaften fordern im Gegenzug für die Freisetzung aus alten Zwängen von ihren Mitgliedern ziemlich unverfroren etwas ganz Neues: die Fähigkeit zu Integration des Unterschiedlichsten. Die Entbettung der Biografien aus fast allen räumlichen, politischen, religiösen, familiären und geschlechtsrollentypischen Fixierungen vergangener Zeiten entwertet die meisten der früher notwendigen Lebensleistungen wie "Einordnung", "Nachfolge", "Stabilität" und installiert praktisch gegenteilige Forderungen: Selbstbewusstsein, Initiative, Flexibilität.

Die komplexen Biografien in spätmodernen, ausdifferenzierten Gesellschaften produzieren immer mehr Unwägbarkeiten und schaffen damit einen hohen individuellen Sinnstiftungsbedarf. Wo das Leben zum individuellen Projekt wird, da werden seine Gefährdungen zu besonders schlimmen Katastrophen, nicht zuletzt, weil sie sich der/die Einzelne in weit höherem Maße selbst anrechnen lassen muss, schließlich hatte er/sie, zumindest grundsätzlich, die Wahl. Der Sinnstiftungsbedarf der späten Moderne, nicht zuletzt übrigens ein Heilungsbedarf an Körper und Seele, wird zunehmend wieder religiös befriedigt.

Das ist verständlich, aber nicht harmlos. Und es geschieht nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage.

Die Rückkehr der ReIigion II: 11. 9. 2001, 9.03

Die andere Rückkehr der Religion fand am 11. September 2001, 9 Uhr 03 statt. Spätestens mit dem zweiten Einschlag in das WTC war klar: Es ist kein Unfall, sondern ein Manifest, eine Symbolhandlung mit fast beispielloser Aufladung und, in diesem Falle, fataler realer Wirkung. Damals, spätestens, begann die religionspolitische Gegenwart.

Die Globalisierung konfrontiert die modernen Gesellschaften dramatisch mit dem fast schon vergessenen Gewaltpotenzial der Religion. Dieses Gewaltpotenzial ist bekanntlich enorm und kein von der Religion zu trennendes Phänomen, es ist ihr vielmehr unmittelbar eingeschrieben. Denn Religion ist weder harmlos noch an sich etwas Gutes, allein schon deshalb, weil sich das Heilige der Religionen und das Gute nicht notwendig decken.

"Zeige keine Anzeichen der Verwirrung und nervlicher Anspannung, sondern sei froh, glücklich, heiter und zuversichtlich, weil du eine Tat ausführst, die Gott liebt und die er gutheißt." - So heißt das dann in der "Geistlichen Anleitung" für die Attentäter des 11. September 2001. "Ein Ritter Christi, sag ich, tötet mit gutem Gewissen; noch ruhiger stirbt er. Wenn er stirbt, nützt er sich selber; wenn er tötet, nützt er Christus." - So hieß das bei Bernhard von Clairvaux in seiner Kreuzzugspredigt von Vézelay im Jahre 1146. Die "Gottesgewalt" (Hans-Joachim Sander) der Religion hat sich im September 2001 mit aller nur möglichen inszenatorischen Dramatik in die Wahrnehmung westlicher Gesellschaften zurückgebombt. Genau das war auch Zweck dieses Anschlags. "Ihr liebt das Leben und wir den Tod", lautete die Al Kaida-Botschaft nach den Anschlägen von Madrid, aus ihr spricht die Überlegenheit der Gottesgewalt.

Gewalt: Thema und Problem

Diese Gottesgewalt ist Thema und Problem, sobald man es mit Religion zu tun hat. Die schlimmsten Formen christlicher Gottesgewalt richteten sich gegen die Juden, andere gegen die Muslime, wieder andere, etwa vor genau 800 Jahren in Konstantinopel, gegen ostkirchliche Christinnen und Christen. Die katholische Kirche ist da, einigen Heiligen, der Aufklärung und dem II. Vatikanum sei Dank, seit kurzem halbwegs auf der sicheren, weil gewaltlosen Seite. Sie ist gewissermaßen gerade rechtzeitig praktisch wie theoretisch (übrigens leider in dieser Reihenfolge) macht- und gewaltlos geworden, um sich von den religiösen Gewaltausbrüchen radikaler Flügel anderer Religionen halbwegs glaubhaft distanzieren zu können.

Religion: Ja- aber welche?

Nun ist es ist schlicht naiv, die etwas überraschende Wiederkehr der Religion freudig zu begrüßen. Das gilt für die christlichen Kirchen, denn sie vertreten nicht Religion überhaupt, sondern die Botschaft des Jesus von Nazaret, und die war und ist religionskritisch wie weniges andere. Das gilt aber auch für die Gesellschaft. Denn wenn die religiöse Temperatur in ihr steigt, wird es vor allem erst einmal eines: gefährlich. Das Spanien von Isabella der Katholischen, und jenes Francos, das Genf Calvins und das Münster der Wiedertäufer, der Iran Chomeinis und das Afghanistan der Taliban und auch jene USA, welche die religiöse Rechte gerne hätten: (lebens)gefährliche Orte allesamt.

Und es gilt für beide neue Orte der Religion - unstrittig bei ihrem Gewalt-, aber auch bei ihrem Biografie-Potenzial. Beide Male kann Schlimmstes geschehen: abgeschieden und im Stillen bei diesem, öffentlich und laut bei jenem.

Sicherungen einbauen

Wer wie Religionen das Höchste und das Niedrigste, Anfang und Ende, Tod und Leben theoretisch thematisiert, ästhetisch präsentiert und rituell aktualisiert, der hat das Gewalt- und Verführungspotenzial all dieser Themen auf dem Tisch und operiert damit in den Herzen, Hirnen und Körpern seiner Gläubigen. Wer mit dem Gottesbegriff über eine - definitionsgemäß - mit höchster, ja mit Allmacht versehene Kategorie verfügt, wer diese Kategorie in seine Diskurse und hinter seine Praktiken schieben kann, der besitzt, so man ihm glaubt, gewaltige Macht über die Körper und Seelen seiner Anhänger, und damit auch über die möglichen Opfer der Opferbereitschaft seiner Gläubigen.

Freilich: Man kann dieser Gefahr nicht entgehen, indem man Religion und etwa den Gottesbegriff streicht. Es setzen sich dann nämlich einfach andere Ersatzgrößen, andere "God-terms" fest, praktisch im Handeln, oft auch theoretisch. Vielleicht braucht man ja den Gottesbegriff gerade auch, um der Gottesgewalt zu entgehen. Denn nur mit ihm kann man sie identifizieren - und nur mit ihm ihr nicht unterliegen.

Alle Orte der Religion sind heikel und prekär, wenn nicht Sicherungen einbaut sind, und zwar im Kern des Gewalt- und Verführungspotenzials der Religion: also im Gottesbegriff selber. Schaut man da auf das Christentum und seine Geschichte, findet man Trost - und fällt gleich wieder in Trauer. Im Kern des Christentums steckt nämlich, glaubt man dem Jesus der Evangelien, ein Gott, der in einer merkwürdigen Dialektik der Nähe und Distanz zu den Menschen bleibt, der seine Nähe zusagt, aber nicht als Sicherheit des Besitzes, sondern als Sicherheit der Entdeckbarkeit. Im Kern des Christentums steckt ein Gott, der in niemandes, nicht einmal in seines Christus Händen und in seines Christus Mund einfach so verfügbar ist.

Aufmerksamkeit der Liebe

Das aber bedeutet: Wo der Gottesbegriff zur Waffe in der Hand seiner Gläubigen wird, wo er gewusst wird und geheimnislos, wo er funktioniert im Sinne eines selbstzufriedenen Lebens oder wo er Menschenopfer fordert, ist es nicht der Gott des Jesus von Nazaret, von dem da die Rede ist, sondern ein religiöser Macht-Götze des Menschen. Schließlich ist die Urszene des Christentums, das Kreuz, die Szene eines ohnmächtigen Opfers religiös motivierter Gewalt. Und so ist es Blasphemie, im Namen dieses Kreuzes religiöse Gewalt auszuüben. Aber das hat es gegeben - und es ist für Christinnen und Christen ein bleibender Skandal.

Glaubt man Jesus, dann ist Gott überhaupt nicht im Großen und Mächtigen zu finden, sondern im Kleinen und bei den Leidenden, dann ist sein Reich nicht von dieser Welt, aber in ihr zu entdecken - und zwar von allen und überall, wo die Aufmerksamkeit der Liebe herrscht.

Religion ohne diese Aufmerksamkeit der Liebe verfehlt Gott dramatisch, wie immer sie heißt, wo immer sie ist, wer immer sie lebt. Die Weihnachtsgeschichten inszenieren diese religionskritische Wahrheit als kosmisches Schauspiel. Eine Hoffnung, wenigstens.

Der Autor ist Professor für Pastoraltheologe an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Graz.

BUCHTIPP:

Prophetie in einer etablierten Kirche? Aktuelle Reflexionen über ein Prinzip kirchlicher Identität.

Hg. Rainer Bucher u. Rainer Krockauer, LIT Verlag, Münster 2004, 360 Seiten, brosch., e 17,90

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