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Empfindlicher Nerv getroffen

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Müssen wir jetzt unsere Neutralität aufgeben oder nicht? Das Europäische Parlament hat uns noch einen Schlupfwinkel gelassen.

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Müssen wir jetzt unsere Neutralität aufgeben oder nicht? Das Europäische Parlament hat uns noch einen Schlupfwinkel gelassen.

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Der Europäische Rat von Korfu - den Österreichern durch die Unterzeichnung des EU-Beitrittsvertrags am 24. Juni 1994 in denkwürdiger Erinnerung - hat in Hinblick auf die für 1996 angesetzte Regierungskonferenz zur Revision des Vertrags von Maastricht alle Organe der EU, darunter auch das europäische Parlament ersucht, einen Bericht über die Funktionsweise dieses Vertrags zu erstellen.

Diesem Ersuchen hat das EP durch die Annahme einer Entschließung am 17. Mai dieses Jahres entsprochen, an dessen Ausarbeitung auch die 21 von Osterreich entsandten Abgeordneten aktiv mitgewirkt haben. Die Entschließung des EP enthält eine eingehende Darstellung seiner Standpunkte zu allen von der EU erfaßten Bereiche und schlägt hiezu eine Reihe von Reformen vor.

Aufhorchen ließen in Österreich jedoch vornehmlich die Vorstellungen des EP über die Ausgestaltung einer funktionierenden Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU. Die Aufmerksamkeit der interessierten Öffentlichkeit beschränkte sich hierzulande beinahe ausschließlich auf die GASP-Vorschläge des EP und ließ -nebstbei bemerkt - die vielen interessanten und wichtigen Reformideen des EP zu den anderen Tätigkeitsfeldern der EU nahezu völlig außer Acht. Die Erklärung hiefür mag wohl darin liegen, daß der Beitrag des EP zur GASP den empfindlichsten Nerv der sicherheitspolitischen und völkerrechtlichen Position Österreichs getroffen hat, wo man sich nach wie vor redlich müht, die Begriffe Neutralität und EU-Solidarität in Einklang zu bringen.

„Vergemeinschaftung” der Außenpolitik

Das EP fordert, daß es eine wirksamere Außenpolitik der EU im Rahmen des Gemeinschaftspfeilers geben sollte, die die gemeinsame Handelspolitik, die Politik der Entwicklungszusammenarbeit, die humanitäre Hilfe und GASP-Angelegenheiten integriert sowie eine besser definierte Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf der Ebene der EU verwirklicht.

In diesem Zusammenhang, so heißt es in der Entschließung, sollte die gemeinsame Verteidigungspolitik die Grenzen der Union und ihrer Mitgliedstaaten gewährleisten. Auch fordert das EP sicherzustellen, daß die Befugnisse der WEU in die Union eingehen.

Eine weitere für Österreichs Sicherheitspolitik bemerkenswerte Aussage des EP betrifft die Forderung, daß es für eine qualifizierte Mehrheit von Mitgliedstaaten möglich sein sollte, auch gemeinsame militärische Aktionen durchzuführen, allerdings mit der Maßgabe, daß kein Mitgliedstaat verpflichtet wird, sich daran zu beteiligen, wenn er dies nicht wünscht, daß aber anderer- ,, seits kein Land in der Lage JT sein sollte, die Mehrheit! daran zu hindern, diese Ak-I tion durchzuführen.

Was bedeuten nun diese Vorschläge des EP im Klartext für Osterreich und welcher Stellenwert kommt ihnen überhaupt im Prozeß der Vorbereitung der EU-Regierungskonferenz 1996 zu?

Zunächst einmal geben diese Vorstellungen die Richtung bekannt, in welche das EP die GASP im Rahmen der Revision des Maastrichter Vertrags weiterentwickeln möchte. Der Wegweiser lautet in Kurzform: Die WEU soll in der EU aufgehen. Die GASP insgesamt muß, um besser funktionieren zu können, „verge-meinschaftet” werden, das heißt in der Bildersprache der EU-Juristen, sie gehört in die erste Säule der EU, dorthin, wo die bisherigen Kernbereiche der Gemeinschaft (zum Beispiel Zollunion und gemeinsame Handelspolitik) mit supranationalen Strukturen angesiedelt sind.

Neben chesem institutionellen Aspekt mit weitreichenden Konsequenzen kommt in der Entschließung auch zutage, daß das EP der Fortentwicklung der Verteidigungskomponente als Teil der Sicherheitspolitik großes Gewicht beimißt. Man kann es drehen, wie man will, im Entschließungstext kommt zum Ausdruck, daß die Unionsmitglieder bei der gemeinsamen Verteidigung einander Beistand gewähren sollen. Dafür sprechen im Konzept des EP eindeutig die Aufgaben einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, welche die Grenzen der Union und ihrer Mitgliedstaaten zu schützen hätte sowie die angestrebte Übertragung der Befugnisse der WEU, die schon in ihrer gegenwärtigen Verfassung eine automatische Beistandsverpflichtung für die Mitgliedstaaten vor-— sieht, auf die EU.

Die Entschließung läßt andererseits in ihrem Wortlaut ein Schlupfloch für solche EU-Mitgliedstaaten offen, die etwa wie Osterreich aufgrund der Neutralität, rechtlich nicht willens oder politisch nicht bereit sind, an einer konkreten militärischen Aktion, die im Bahmen der weiterentwickelten gemeinsamen Verteidigungspolitik der EU durchgeführt wird, teilzunehmen. Ohne eine solche von einer Mehrheit von Mitgliedstaaten beschlossene Aktion behindern zu dürfen, könnte sich Österreich gegebenenfalls in das neutrale Eck stellen.

Würde ein Mitgliedstaat freilich selbst Opfer eines militärischen Angriffs, ist es schwer vorstellbar, daß sich Österreich auch in einem solchen hypothetischen Fall unter Berufung auf seinen Neutralitätsstatus der geforderten Solidaritätsverpflichtungen entschlagen könnte.

All diese Überlegungen münden in die Grundsatzdiskussion über die Frage, wie sich die europäischen Sicherheitsstrukturen hinkünftig tatsächlich entwickeln. Noch ist nicht aller Tage Abend, und die Entschließung des EP stellt nur eine, wenngleich nicht zu überhörende Stimme im Konzert der Meinungen über die Ausgestaltung der künftigen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik dar.

Eine Prognose über das mögliche Ergebnis der Begierungskonferenz im Bereich der GASP und im besonderen der künftigen EU-Verteidigungspolitik gehört heute zu einem riskanten Geschäft. Einer nüchternen Einschätzung der gegenwärtigen Realitäten der internationalen Politik entspräche es eher, das Gebot der Vorsicht walten zu lassen. Die Empfehlungen des EP scheinen hier eher dem integrationsfreundlichen Wunschdenken zu entsprechen als den realen Möglichkeiten für Fortschritte. Was vorhergesehen werden kann, ist eher eine stufenweise und auf spezifische Staatenpositionen abgestimmte Weiterentwicklung einer immer dichter werdenden Verflechtung der europäischen und atlantischen Sicherheitssysteme (WEU, NATO, OSZE).

In dieser Entwicklung könnte die Regierungskonferenz eine weitere Etappe bei der Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik der EU darstellen, wobei die WEU noch näher an die Union herangeführt wird.

Vorläufig eine gewisse (trügerische?) Ruhe

Österreich hat jedes Interesse und nunmehr als EU-Mitglied auch jedes Anrecht, aktiv an der laufenden Debatte um eine Neuordnung der europäischen Sicherheitspolitik teilzunehmen.

Angesichts der vielen Unbekannten in der großen Sicherheitsgleichung Europas vermag vorläufig die Besinnung auf unsere Neutralität noch ein gewisses Gefühl der Ruhe zu vermitteln. Daß diese Ruhe auch trügen kann, lassen die Konsequenzen ahnen, die sich aus den Empfehlungen des EP zur GASP für Österreichs Neutralität bei ihrer Verwirklichung zwangsläufig ergeben würden:

Eine gemeinsame Verteidigungspolitik der EU mit einer weitgehenden Solidaritätsverpflichtung aller Mitgliedstaaten verträgt sich trotz aller Schlupfwinkel schlecht mit dem Kernbestand der Neutralität.

Diese Konzepte miteinander vor dem Hintergrund der politischen Gegebenheiten in Einklang zu bringen, bleibt gewiß eine der wesentlichen Herausforderungen bei der bevorstehenden Regierungskonferenz.

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