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Verlieren wir Kleine an Einfluß

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Mehr Effizienz in den Entscheidungsprozessen und mehr Demokratie, das soll bei der Turiner EU-Regierungskonferenz herauskommen.

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Mehr Effizienz in den Entscheidungsprozessen und mehr Demokratie, das soll bei der Turiner EU-Regierungskonferenz herauskommen.

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Das Kernproblem beim Abbau des oft kritisierten „schwerfälligen Euro-Bürokratismus”: Mehr Effizienz, raschere und einfachere Ent-scheidungsprozesse müssen in einer Union mit wachsender Mitgliederzahl zu Lasten der Einflußmöglichkeiten der einzelnen Staaten gehen.

Wie sehr das Einstimmigkeitserfordernis im Ministerrat, das nach wie vor in vielen Bereichen gilt, die praktische Arbeit behindern kann, zeigen die jüngsten „Blockadeaktionen” Großbritanniens. Den Briten geht es noch dazu nicht um die Durchsetzung des eigenen Standpunktes in der Sache selbst, sondern um die Aufhebung des Rindfleisch-Exportverbotes; eine Groteske, die deutlich macht, daß schon jetzt - und nicht erst nach der Osterweiterung der Union - die Möglichkeiten für Mehrheitsentscheidungen erweitert werden müssen, wie es auch Österreich fordert. Andererseits könnte dann erstmals supranationales Recht auch gegen den Willen einzelner Mitgliedsländer in deren nationale Rechtsordnung einfließen; ein Problem nicht nur für Staaten wie Großbritannien, die der „Vertiefung” der Gemeinschaft von vornherein kritisch gegenüberstehen. Denn während in allen EU-Ländern innerstaatliche Mehrheitsentscheidungen von der Bevölkerung akzeptiert werden, ist diese „demokratische Tradition” im Hinblick auf das EU-Recht noch nicht im entsprechenden Ausmaß vorhanden.

Was bedeutet „Mehrheit” in der EU? Mehrheit der Staaten oder Mehrheit der EU-Bevölkerung? Nach der derzeitigen Stimmgewichtung im Rat, die kleine Staaten begünstigt, könnte eine Minderheit von 47 Prozent der Unionsbevölkerung im Ministerrat eine „qualifizierte Mehrheit” stellen; ein Interessenkonflikt zwischen „großen” und „kleinen” Staaten bahnt sich an. Die Idee der ”„doppelten Mehrheit” steht im Raum: Die Stimmen der Ratsmitglieder sollen wie bisher gewichtet werden, parallel dazu aber auch nach der Bevölkerungszahl des jeweiligen Mitgliedslandes. Noch weiter geht der Vorschlag der „Charlemagne”-Gruppe, die aus Kabinettsmitgliedern des früheren Generalsekretärs des Ministerrates, Niels Ersboll, besteht: Sie fordert eine Veränderung der Stimm-gewichtung zugunsten von Staaten mit hoher Bevölkerungszahl; nur so könnten in Zukunft Sperrminoritäten neubeitretender osteuropäischer Staaten verhindert werden. Für Osterreich würde das weniger Einfluß im Ministerrat bedeuten.

Je mehr Angelegenheiten im Rat durch - qualifizierte - Mehrheiten entschieden werden können und je stärker die Bevölkerungszahl als Kriterium für die Mehrheitsfindung herangezogen wird, umso mehr entfernt sich die Union vom ursprünglichen -und im Grundsatz auch heute noch zutreffenden - Muster eines Bundes souveräner Staaten. Die Weiterentwicklung der Union vom Staatenbund zum Bundesstaat steht derzeit nicht ernsthaft zur Diskussion, dafür fehlt jede Bereitschaft bei den meisten Mitgliedsländern und sicher auch bei der großen Mehrheit der Unionsbevölkerung. Umso mehr Bedeutung bekommen grundsätzliche Überlegungen zur „Verfassung” der Union. Das Modell der „variablen Geometrie” sieht außerhalb eines bestimmten Kernbereichs, der von allen Mitgliedern mitgetragen werden muß, die Möglichkeit des „opting out” vor - eine Möglichkeit, Vertiefung der Gemeinschaft einerseits und staatliche Souveränität andererseits zu vereinbaren. Die besonders von Deutschland propagierte Modell-Variante eines „Kerneuropa” würde es ermöglichen, daß eine Kerngruppe von Staaten „gleichsam als Integrationsmotor voranschreitet” (M. Nentwich und G. Falkner, Journal für Rechtspolitik, 1/96), während andere den Integrationsprozeß langsamer oder überhaupt nur teilweise mitvollziehen. Das würde den unterschiedlichen Positionen und wirtschaftlichen Gegebenheiten in den Mitgliedsländern gerecht, wäre aber, so Nentwich und Falkner, mit der Gefahr verbunden, daß es „auf Kosten der einheitlichen institutionellen und verfahrensrechtlichen Struktur geht”.

Einer ernstzunehmenden Gefahr, denn derzeit werden die in der EU getroffenen Entscheidungen, die ja für die Mitgliedsländer verbindlich sind und sich unmittelbar auf die Rürger auswirken, nur durch diese Strukturen wenigstens formal legitimiert. Es mangelt in der EU an „echter demokratischer Legitimation”, an der unmittelbaren Verantwortung des „EU-Gesetzgebers” gegenüber der Bevölkerung. Das wird umso deutlicher spürbar, je mehr Lebensbereiche vom

Gemeinschaftsrecht erfaßt werden. Mit Recht wird daher von vielen Seiten - auch in Österreich - eine Aufwertung des Europäischen Parlaments gefordert, die allerdings auch einige Probleme aufwirft.

Schon heute, bei 15 EU-Mitgliedern, stammen die EU-Parlamentarier aus über 80 politischen Parteien oder Gruppierungen, von denen nicht alle in die großen Fraktionen eingegliedert sind. Die Mehrheitsbildung unter solchen Voraussetzungen wäre zweifellos schwierig und würde mit der Osterweiterung der EU noch schwieriger werden.

Ein weiterer Einwand lautet, daß die Umgestaltung des EU-Parlaments zum gesetzgebenden Organ „der erste Schritt zum europäischen Bundesstaat” wäre. Neben einem „echten EU-Parlament” würden die nationalen Parlamente zwangsläufig an Bedeutung verlieren, meint unter anderem Manfred Rotter, Vorstand des Institutes für Europarecht an der Universität Linz. Ein weiteres, oft gehörtes Argument gegen „mehr

Macht” für das EU-Parlament: Für kleine Staaten wie Österreich sei das schon deshalb nicht wünschenswert, weil sie im Parlament nicht so „überrepräsentiert” seien, wie sie es im Rat aufgrund der derzeitigen Stimmgewichtung sind.

Ist das Grund genug, auf eine echte parlamentarische Kontrolle in der EU zu verzichten? Die Zukunft liege in einem „Zweikammersystem”, meinen Nentwich und Falkner. Der Rat als Vertretung der Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament als V ertretung der EU-Bürger wären dann gleichberechtigt in die Entscheidungsverfahren eingebunden.

Es mangelt nicht an Vorschlägen für die Regierungskonferenz; abzuwarten bleibt, wieviel Bereitschaft zur Einigung besteht. Wird hier ein Durchbruch zu einer neuen Qualität der Zusammenarbeit gelingen? Nicht nur im Bereich der Institutionenreform wäre das längst nötig - allzu wahrscheinlich ist es leider nicht.

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