7135875-1997_46_16.jpg
Digital In Arbeit

Widerstand gegen die drohende soziale Apartheid

19451960198020002020

„Die Gruppe von Lissabon” gehört zu den schärfsten Kritikern der Globalisierung. Sie verlangt vor allem eine Kontrolle der negativen Effekte des freien Kapitalflusses.

19451960198020002020

„Die Gruppe von Lissabon” gehört zu den schärfsten Kritikern der Globalisierung. Sie verlangt vor allem eine Kontrolle der negativen Effekte des freien Kapitalflusses.

Werbung
Werbung
Werbung

Wettbewerbsfähigkeit, eines der meistverwendeten Worte in politischen Ansprachen, Zeitungen, Managementkursen, Credo und Dogma für Industrielle, Ökonomen, Gewerkschafter. Dem Professor für Ökonomie an der belgischen Universität Louvain, Riccardo Petrella, mißfällt diese Entwicklung der vergangenen 20, 30 Jahre. „Derzeit ist Wettbewerbsfähigkeit auf den Grundsätzen Krieg und Eliminierung des anderen aufgebaut. Wendet man diesen Geist des Eroberns auf die Gesellschaft an, dann bleiben am Ende nur die Sieger übrig, während man die Verlierer im Stich läßt,” sagt er. Eine Perspektive, die Riccardo Petrella nicht wirklich zusagt, ist er doch davon überzeugt, daß die gegenwärtige Globalisierung den Weg für eine globale, soziale Apartheid ebnet. So sei der Reichtum in einigen Gegenden der Erde um den Faktor 5 gestiegen, während immer mehr Städten, Ländern, Regionen die Zukunft abgesprochen wird.

Kritik an der Globalisierung ist ja nichts Neues. In diesem Fall kommt sie aber von seriösen Damen und Herren aus Nordamerika, Westeuropa und Japan. Ökonomen, Industrielle, Sozialwissenschafter, Historiker, Rio-logen, Städteplaner haben sich zu einem globalen „Think Tank” zusammengeschlossen mit dem Ziel, die Schwachstellen der Gegenwart aufzuzeigen und Ideen für die Zukunft der Welt zu diskutieren. Die Gruppe, die ihre Arbeit 1992 in Lissabon begann, wurde von Riccardo Petrella gegründet.

Der ehemalige Ijeiter des FAST Programms (Forecasting and Assessment in Science and Technology) der Europäischen Kommission hält das gegenwärtige Wirtschaftssystem nicht nur für unethisch, sondern auch noch für ineffektiv, da es Ressourcen vergeudet und nur die Re-dürfnisse einer Minderheit befriedigt.

Weltweit gibt es 1,7 Milliarden Menschen, die obdachlos sind und 1,4 Milliarden haben keinen Zugang zu Trinkwasser. Sind sie wirklich selbst an ihrer Armut schuld und kann die Wettbewerbsideologie das geeignete Instrumentarium sein, um ihre

Grundbedürfnisse zu sichern? „Wir brauchen in Zukunft nicht mehr Konkurrenz, sondern mehr Solidarität, und zwar globale Solidarität”, davon ist Riccardo Petrella überzeugt, denn die Zukunft werde das Etikett „Made in the World” tragen und nicht „Made in Austria” oder „Made in China”.

„Made in the World” beendet die Rolle der nationalstaatlichen Volkswirtschaften und des nationalstaatlichen Kapitalismus als bisher effektivste und dauerhafteste Grundlage für ”die Organisation und das Management der Produktion und die Verteilung von Wohlstand. Staat und Unternehmen gehen eine neue Allianz ein. Unternehmen erwarten sich von „ihrem Staat” größtmögliche Unterstützung in Form von Rezahlung der Grundlagen- und Hochrisikoforschung, Universitäts- und Ausbildungsfinanzierung, steuerliche Anreize, öffentliche Aufträge et cetera, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können. Als Gegenleistung versprechen die Unternehmen dem Staat, durch ihre Position auf den Weltmärkten zur technologischen Unabhängigkeit eines Landes und zum Volksvermögen beizutragen. Der Staat wiederum hat ein Interesse am Wohlergehen „seiner” lokalen Unternehmen, ist sein Restand doch zunehmend mehr von der Innovationsfähigkeit der Unternehmen abhängig. Daher wenden die meisten Staaten dieselbe Strategie an. „Im sogenannten globalen Uberlebenskampf transferieren sie massiv öffentliche Ressourcen in'den privatwirtschaftlichen Sektor”, heißt es im Manifest der Gruppe von Lissabon „Grenzen des Wettbewerbs”.

Finanzielle Abrüstung

Gestützt wird diese Entwicklung von der herrschenden Sozialphilosophie, die die Marktmechanismen als einziges Grundprinzip anerkennt, um die vorhandenen Ressourcen auf globaler Ebene zu verteilen. Dem stellt Riccardo Petrella dagegen, „die Marktmechanismen repräsentieren nur den Markt und sonst nichts ...”

Restes Reispiel dafür: der internationale Finanzmarkt. Täglich zirkulieren weltweit 1.500 Milliarden Dollar ohne nennenswerte Kontrolle. Aus diesem Grund ist die Gruppe von Lissabon dabei, sich die Rolle des Finanzwesens im Globalisierungsprozeß genauer anzusehen. Louis Em-merij, Rerater des Präsidenten der In-ter American Development Bank, anerkennt zwar die Vorteile des internationalen Kapitalverkehrs- jedes Land hat im Prinzip Zugang zu Geld, zu Kapitalfluß - aber er sieht auch die Nachteile in Form von wilden Kursschwankungen. „An einem Tag rauschen die Banker wie eine Schafsherde ins Land, man transferiert Milliarden Dollar, dann passiert etwas, wie zum Beispiel in Mexiko die Abwertung des Peso vor drei, vier Jahren, und wieder, wie eine Schafsherde, verlassen Banker und Geld das Land.” Ähnliches, so Emmerij, habe sich vor kurzem in Thailand und Malaysia abgespielt. Wegen der Spekulation mit dem Wechselkurs sei die Realwirtschaft dieser südostasiatischen Länder stark ins Schwanken gekommen.

Auch bei diesen Entwicklungen werde immer wieder behauptet, man könne sich nicht gegen die Logik des globalen Marktes stellen. Riccardo Petrella sieht darin eine große Gefahr, denn „unsere Politiker anerkennen, daß nicht mehr parlamentarische, de mokratische Institutionen die Prioritäten der Menschen fixieren, sondern Finanzmärkte”. Restes Beispiel: ein Unternehmen geht an die Börse. In einigen Sekunden könne der Wert der Aktien dieses Unternehmens steigen oder fallen, ohne daß sich nur die geringste Kleinigkeit an der Produktion der Güter oder Dienstleistungen dieses Unternehmens ändert. Das, so Petrella, sei der Grund, warum der Kapitalmarkt immer eine Steuerreduzierung auf Gewinn, auf Kapital verlange und die Forderung aufstelle, das Kapital müsse frei sein.

Liegt es nicht an diesem Finanzsystem, daß bei der Verteilung der Gewinne das Kapital mehr und die Arbeit weniger bekommen hat?, fragt sich die Gruppe von Lissabon und hält als Beleg die Transferzahlungen bereit. Die armen Länder haben zwischen 1983 und 1994 im Durchschnitt 300 Milliarden Dollar an die reichen Länder gegeben, mehr als sie von den reichen Staaten erhielten. Aber diese Entwicklung ließe sich auch in den reichen Industrieländern selbst festmachen. In den OECD-Ländern wird der Anteil des nationalen Reichtums von jenen Gruppen gehalten, die ihr Einkommen aus Kapitalbesitz beziehen. /

Politik der Sieger

Diese, die Sieger, davon ist Riccardo Petrella überzeugt, haben natürlich kein Interesse an einer Änderung der gegenwärtigen Situation. Sie sagen reflexartig auf alle neuen Vorschläge: „Das ist aber unrealistisch, ihr müßt die Politik des Möglichen verfolgen.” Politik des Möglichen dafür hat der Ökonomieprofessor nur ein Lachen übrig, „die Politik des Möglichen besteht doch darin, das zu tun, was das System will”.

Aber das will wiederum Petrella nicht. Es ist nicht die Abschaffung der Finanzmärkte, die die Gruppe von Lissabon fordert, dazu sind ihre Mitglieder zu sehr Realisten, aber man könnte sich eine „weltweite finanzielle Abrüstung” vorstellen sowie Normen und Kontrollen, die die negativen Effekte des freien Kapitalflusses minimalisieren.

Man könnte sich auch globale Verträge vorstellen, die eine notwendige Steuerung übernehmen. Der Grundbedürfnisvertrag sollte das Ziel haben, Ungleichheiten zu. beseitigen, der Kulturvertrag müßte Toleranz und interkulturellen Dialog fördern, der 1 )emokratievertrag sieht eine globale Bürgerschaftsversammlung vor, und der Erdvertrag möchte die Agenda 21 erweitern.

Man setzt auf Allianzen: junge Menschen mit Intellektuellen, sozialen Organisationen, NGOs etc. mit dem Ziel eine Gesellschaft zu entwickeln, die nicht nur Wettbewerb, sondern Demokratie, Liebe, Freundschaft, politische Freiheit, soziale Gerechtigkeit als Werte anerkennt, denn, so Petrella, „das sind die besten Bedingungen, damit eine Wirtschaft korrekt funktionieren kann”.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung