Hunger - © Foto: APA / AFP / Tony Karumba

Gerechtigkeit statt Almosen

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Die Frage, was gerecht ist, wird zwar vielfach angerissen, grundsätzliche Debatten über weltweite Verteilungsgerechtigkeit in Zeiten vielfältiger Krisen fehlen jedoch. Ein Plädoyer.

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Die Frage, was gerecht ist, wird zwar vielfach angerissen, grundsätzliche Debatten über weltweite Verteilungsgerechtigkeit in Zeiten vielfältiger Krisen fehlen jedoch. Ein Plädoyer.

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"Es ist nicht dein Gut, mit dem du dich gegen den Armen großzügig weist. Du gibst ihm nur zurück, was ihm gehört. Denn du hast dir herausgenommen, was zu gemeinsamer Nutzung gegeben ist. Die Erde ist für alle da, nicht nur für die Reichen.“ Nein, dieser Satz entstammt keinem kommunistischen Pamphlet, sondern der Schrift „Über Nabot“, in dem der Kirchenvater Ambrosius von Mailand den unverschämten Reichtum der damaligen norditalienischen Großgrundbesitzer anprangert, der die Kleinbauern verarmen ließ.

In seiner – zum Wiederlesen empfohlenen – Enzyklika Populorum Progressio (1967) stellt Papst Paul VI. im Anschluss an Ambrosius fest, dass Privateigentum für niemanden ein unbedingtes und unumschränktes Recht ist, insbesondere wenn es anderen am Notwendigsten fehlt. Im Fall eines Konflikts zwischen den wohlerworbenen Rechten des Einzelnen und den Grundbedürfnissen der Gemeinschaft soll der Staat unter aktiver Beteiligung der einzelnen und der sozialen Gruppen eine Lösung suchen.

Solche breit angelegten demokratischen Diskurse über Fragen der Gerechtigkeit vermisse ich derzeit schmerzlich. Nach vierzig Jahren neoliberaler Ideologisierung im Zeichen des Glaubens an die Kräfte des freien Marktes und der individuellen Wohlstandsmehrung sind Debatten zur Verteilungsgerechtigkeit zum Minderheitenprogramm geworden. Wohl gibt es auf EU-Ebene und auch in Österreich angesichts der Teuerungskrise zahlreiche Überlegungen und üppige Finanz-Pakete als Notfallmaßnahmen, aber Debatten zur schrittweisen Umstellung auf alternative Wirtschaftssysteme bleiben Wissenschafter(inne)n oder Postwachstums-Bewegungen vorbehalten oder werden als unrealistisches Wunsch konzert desavouiert.

Dabei machen sowohl die Pandemie als auch die aktuelle Wirtschaftskrise die Schwachstellen im System überdeutlich: Der beim Weltwirtschaftsforum in Davos präsentierte Oxfam-Bericht und Berechnungen der Weltbank zeigen, dass die Folgen dieser Krisen Armut und soziale Ungleichheit weltweit befeuern. Während heuer weltweit mehr als eine Viertelmilliarde Menschen in extreme Armut abzustürzen droht, ist das Vermögen der mittlerweile 2668 Milliardäre um 42 Prozent auf 12,7 Billionen Dollar gestiegen – allein im Agrar- und Nahrungsmittelbereich um 383 Milliarden Dollar.

Fokus auf Ungerechtigkeit, nicht Hass!

Doch statt die strukturellen Ursachen dieser Entwicklungen zu bearbeiten, lenkt man im öffentlichen Diskurs die Aufmerksamkeit primär auf den Hass jener, die sich bereits seit der Finanzkrise 2008 von diesem System ausgeschlossen und von den Eliten nicht mehr repräsentiert fühlen. Es ist dann wohl einfacher, national zwar großzügige und milliardenschwere, aber dennoch Almosenpolitik zu betreiben, als im Zeichen der Gerechtigkeit in internationaler Anstrengung die Macht globaler Wirtschaftsstrukturen und neoliberaler Glaubenssätze zu begrenzen und zu korrigieren. Dabei hat sogar Konrad Paul Liessmann im Rahmen eines Gesprächs zum diesjährigen Philosophicum Lech über den „Hass“ gemeint, dass dieser Hass eine Art emotionale Begleiterscheinung der menschlichen Fähigkeit zur Gerechtigkeit sei.

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