Apartheid - © Foto: Getty Images / Corbis / Hulton-Deutsch Collection

Identitätspolitik: Gerechtigkeit - nicht Rache

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So wie sich linke Identitätspolitik fragen lassen muss, worin langfristig ihre Ziele bestehen – so sind auch ihre Kritiker zu fragen, wie Gleichheit konkret verwirklicht werden soll. Ein Essay.

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So wie sich linke Identitätspolitik fragen lassen muss, worin langfristig ihre Ziele bestehen – so sind auch ihre Kritiker zu fragen, wie Gleichheit konkret verwirklicht werden soll. Ein Essay.

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Zunächst die gute Nachricht: Laut der Europäischen Wertestudie 2017 nehmen in wohlhabenden westeuropäischen Ländern fremdenfeindliche Einstellungen ab und die Offenheit für Diversität steigt. Gleichwohl hat die Corona-Pandemie gezeigt, wie fragil dieser Zustand ist: Berichte der OSZE dokumentieren für diesen Zeitraum die erschreckende Realität von Diskriminierung, Rassismus und Hassverbrechen gegen ethnische und religiöse Minderheiten und Menschen anderer als heterosexueller Orientierung sowie die Erosion der Menschenrechte von Geflüchteten.

Angesichts dessen irritiert die massive Kritik an einer Identitätspolitik, die sich für die Rechte von Minderheiten einsetzt, zumal in Österreich, wo der Ethnozentrismus im europäischen Vergleich vergleichsweise hoch und der angekündigte „Nationale Aktionsaktionsplan gegen Rassismus und Diskriminierung“ der Bundesregierung nach wie vor ausständig ist. Noch ehe hierzulande eine öffentliche, auf Verständnis zielende Auseinandersetzung mit Rassismus überhaupt stattgefunden hat, sieht sich eine angeblich die Gesellschaft dominierende „linke“ Identitätspolitik mit Vorwürfen konfrontiert. Sie spalte die Gesellschaft, unterminiere den sozialen Zusammenhalt und die universalen Werte der europäischen Aufklärung, fördere einen Wettbewerb der Opfer und diskriminiere ihrerseits die Mehrheitsgesellschaft.

Blickt man auf die Folgen der Identitätspolitik der „Woke“- Bewegung an manchen US-amerikanischen und europäischen Universitäten, so ist diese Kritik durchaus berechtigt. Im Rekurs auf kollektive Identitäten und deren Partikularinteressen bedroht sprachpolitischer Rigorismus den differenzierten Austausch von Argumenten und Meinungsvielfalt, löscht historisches Gedächtnis und lässt Räume (selbst)kritischer Bildung sowie die Verantwortung für das Gemeinwohl erodieren. Aber in einem Land, in dem ein signifikanter Teil der Bevölkerung Migranten, Flüchtlinge und Muslime als Kollektiv betrachtet und ablehnt sowie der Einsatz für Menschenrechte als „links“ gilt, weckt die vehemente Kritik die Frage, ob sich damit nicht auch andere Interessen verbinden als der Schutz des Gemeinwohls und universaler Normen und Werte.

Rechte Identitätspolitik

So wird zum Beispiel rechte Identitäts­politik kaum problematisiert. Während linke Identitätspolitik für Zugehörigkeits- und Teilhaberechte kämpft, zielt die rechte Variante auf Ausgrenzung und Ausschluss, indem sie sich national definiert und da­raus Vorrechte auf Macht und Ressourcen ableitet. Die Argumente intellektueller Kritiker der Identitätspolitik, die sich auf universale oder europäische Werte beziehen, dienen dabei als Verbrämung. Wie Pankaj Mishra oder Zygmunt Baumann gezeigt haben, wird zudem ignoriert, dass die viel­zitierten Werte der Aufklärung längst global verbreitet und eine maßgebliche Quelle sind, die zum Engagement gegen Diskriminierung und Rassismus motiviert. Blind sind viele auch gegenüber dem globalen Verlust des Vertrauens in ein Europa, das seine Werte durch Menschenrechtsverletzungen gegenüber Flüchtlingen, Waffenlieferungen oder neokolonialen ökonomischen Imperialismus zu oft Lügen straft.

Identitätspolitik hat also berechtigte Anliegen. Sie ist nicht Ursache, sondern Folge und Symptom gesellschaftlicher und globaler Spaltung, der Erosion sozialer Kohäsion und des praktischen Verrats universaler Werte. Sie reagiert auf die Erfahrung von Diskriminierung, Rassismus und Exklusion – allerdings nicht mehr devot bittend, sondern selbstbewusst fordernd. Problematisch wird dies allerdings, wenn sie die diesen Erfahrungen zugrundeliegende Zuschreibung kollektiver Identitäten durch die Mehrheit fraglos übernimmt und essenzialisiert. Nicht das Anliegen, sondern das Denken und Agieren auf der Basis essenzialisierter Kollektive machen Identitätspolitik gefährlich. Mit ihren Gegnern zieht sie zu wenig in Betracht, dass Identitäten keine stabilen Entitäten, sondern geschichtlich gewordene, kulturell geprägte Selbstverständnisse und Zugehörigkeiten sind, die sich zu neuen, hybriden Identitäten wandeln können.

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