Mithu Sanyal - © Foto: Franz Neumayr / picturedesk.com

Mithu Sanyal: Die notwendige Lüge der Identität

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Mithu Sanyal verhandelt Identitätspolitik literarisch – unpathetisch, klug und dazu noch mit reichlich Witz.

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Mithu Sanyal verhandelt Identitätspolitik literarisch – unpathetisch, klug und dazu noch mit reichlich Witz.

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„Der menschliche Makel“ war gestern. In Philip Roths 2000 erschienenem Roman wird dem jüdischen Universitätsprofessor Coleman Silk vorgeworfen, zwei schwarze Studentinnen rassistisch beleidigt zu haben. Später stellt sich heraus, dass Silk selbst in Wahrheit ein sehr hellhäutiger Schwarzer ist, der sich eine jüdische, weiße Identität zugelegt hat. „Passing“ würde das heute genannt, also als etwas anderes durchgehen, etwa was Geschlecht oder eben Ethnizität angeht. Wieso das ein schwarzer Mann Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA tun sollte, bedarf keiner großen Erklärung, und dennoch tut man sich heute, zwanzig Jahre später, schwer, den Plot nachzuerzählen, ohne in Teufels Küche zu kommen, so viel hat sich in kurzer Zeit auf dem Feld der Identitätspolitik getan: Handelt es sich nun um schwarze Studentinnen, im Sinne ihrer Hautfarbe oder Ethnie, oder sind es Schwarze Studentinnen im Sinne einer kulturellen Zugehörigkeit? Kann man Coleman tatsächlich als Schwarzen bezeichnen, wenn er sich nicht als solcher identifiziert, und welche Parameter liegen dem eigentlich zugrunde? Was ist Schwarz überhaupt? Eine biologische Tatsache? Ein soziales Konstrukt? Eine historische Kategorie der Unterdrückung? Und was ist mit dem Jüdischen, das historisch auch nicht immer eindeutig weiß war? Was ist Weiß dann überhaupt?

Angenommene Identitäten

Mit genau diesen Fragen beschäftigt sich Mithu Sanyals atemberaubender Roman „Identitti“. Hier ist plötzlich alles verkehrt: Der „indischen“ Starprofessorin Saraswati, von den Studierenden abgöttisch verehrt, wird ebenfalls des Öfteren Rassismus vorgeworfen, etwa wenn sie alle weißen Studierenden ihres Kurses verweist, damit diese auch einmal am eigenen Leib erfahren, was es heißt, aufgrund der Hautpigmentierung diskriminiert zu werden. Saraswati ist eine gefragte Intellektuelle, Dauergast in diversen Talkshows und unterrichtet Postcolonial Studies in Düsseldorf. Sie hat wunderschönes tiefschwarzes Haar, trägt traditionelle indische Kleidung, hat dunkle Haut, ist demnach eine PoC, also eine Person of Color. Zumindest scheint das so, bis ihr Adoptivbruder Konstantin sie als Weiße enttarnt, mit dem gar nicht glamourösen (das Wort exotisch sollte völlig zu Recht nur noch für Südfrüchte oder am besten gar nicht mehr verwendet werden) Namen Sarah Vera Thielman. Nun entlädt sich ein Shitstorm über Saraswati und auch über ihre Studentin Nivedita, die es unter dem Pseudonym Identitti als Bloggerin zu einiger Bekanntheit gebracht hat. Die hatte sich im Deutschlandfunk über ihre bewunderte Professorin und Mentorin und deren Verhältnis zum Weißsein geäußert, allerdings bevor sie von Saraswatis angenommener Identität als PoC erfahren hatte, und fällt nun aus allen Wolken, was ihre Mitstudierenden und die Sozialen Medien nicht davon abhält, sie als Kollaborateurin an den Pranger zu stellen.

Keine einfachen Antworten

Was vor zwanzig Jahren als abstruses Manöver auf Unverständnis bezüglich der Intention gestoßen wäre, leuchtet heute sofort ein. Wer seine Hautfarbe „ändert“, wie Coleman und Saraswati, der hat etwas zu gewinnen. Coleman entgeht der Diskriminierung als Schwarzer, Saraswati gewinnt an Glaubwürdigkeit und Prestige. Wer glaubt, damit seien die Rollen in „Identitti“ klar verteilt, der irrt. Denn Mithu Sanyal zeigt, welche Diskurse es gibt und welche unterschiedlichen Positionen darin bezogen werden können, ohne einfache Antworten zu geben. Und so liest man mit Staunen die Argumente der vermeintlichen Täterin, die sich nicht einfach von der Hand weisen lassen, auf die es wiederum Argumente gibt, die ebenfalls richtig sind. Wenn sich mit dem Konzept von Transgender mittlerweile das Bewusstsein durchgesetzt hat, dass man im falschen Geschlecht geboren sein kann, weshalb ist es dann nicht möglich, „transracial“ zu sein? Wenn „race“ (das nicht deckungsgleich ist mit dem deutschsprachigen Begriff Rasse) ein Konstrukt, also keine essenzialistische Kategorie ist, worin besteht dann das Verbrechen, sich selbst einer anderen Hautfarbe angehörig zu fühlen? „Identität ist eine notwendige Lüge“, hält Saraswati ihrer Studentin vor. Mit der Identität einer PoC verzichtet Saraswati (scheinbar) auf weiße Privilegien, eignet sich aber gleichzeitig eine Historie der Unterdrückung an, die in Wahrheit nicht ihre ist.

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