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Neue Ufer oder Niemandsland

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Kaum einer, der nicht ein völlig ahnungsloser Dilettant ist, wird es heute wagen, sich ein auch nur vorsichtig kommentierendes Urteil über die internationalen Nachrichten eines einzigen Tages anzumaßen. Die Zeitungen tun sehr gut daran, jeweils beim Auftauchen eines neuen exotischen Krisenherdes eine möglichst instruktiv gezeichnete Karte zu veröffentlichen, die der großen Mehrheit ihrer Leser das geographische Zurechtfinden ermöglicht. Ein kurzer länderkundlicher oder historischer Hinweis ist ebenfalls unerläßlich geworden. Aber was heißt das schon? Wissen wir wirklich etwas über die Papuafrage in Neuguinea, über die Rechte des Scheichs von Kuweit, über die historische Basis portugiesischen Territoriums in Übersee, wenn wir uns flüchtig aus lexikalischen Notizen „bilden“? Bleiben die uns völlig fremden Namen, über deren Aussprache jeder Landeskundige wahrscheinlich schon den Kopf schütteln würde, überhaupt länger im Gedächtnis haften, als sich der Scheinwerfer des Weltinteresses eben auf den jeweiligen Wetterwinkel richtet? Ist das alles nicht groteske, von Sachkenntnis unbelastete Überheblichkeit, was da in den meisten europäischen Zeitungen zusammenphilosophiert, moralisiert und kombiniert wird? Man nennt den einen einen Mann des Westens, den anderen einen Freund der Kommunisten, den dritten gar einen Neutralisten. Aber besagen diese Namen etwas: jenseits des Suezkanals oder gar jenseits des Äquators? Vor allem aber: Woher stammen unsere Informationen, die uns überhaupt erst zu Werturteilen ermächtigen? Die amtlichen Bulletins in ihrer abgegriffenen, der heutigen Wirklichkeit überhaupt nicht mehr entsprechenden Diplomatenstilisierung auf der einen, schnell und farbig geschriebene Reiseberichte rasender Reporter auf der anderen Seite . . . Was wüßte ein Wiener von Vorarlberg, wenn er keine andere Quelle zut Hand hätte als das Amtsblatt der Landesregierung und den Reisebericht einer im Ausland erscheinenden Illustrierten, verfaßt nach einer Aufenthaltsdauer von drei Tagen?

Man könnte, ja man müßte fast resignieren, gerade wenn man es mit der Objektivität und Gerechtigkeit ernst meint. Man müßte sich eines Urteils entschlagen, das sich nur auf das Hörensagen stützt. Die meisten Menschen tun dies in unserem Lande auch praktisch auf zweierlei Art. Da sind einmal die, die sich vor Kabarettheiterkeit über die ungewohnten Namen der Herren Lumumba, Joulou oder Ho-Tschi-Minh nicht fassen können, denen der drastische Scherz vom Entwicklungshelfer im Kochtopf stets wieder Freude macht und die im Grunde ihres Herzens von der Minderwertigkeit sämtlicher „Tschuschen“ so durchdrungen sind, daß ihnen jede Differenzierung unter den „Schwoazen“ als Zeitvergeudung erscheint. Für sie ist das Problem vom österreichischen Standpunkt aus ohnedies gelöst. Wir sind nichts und wir haben nichts in der Welt. Sollen sich die Obergescheiten und Großkopfeten, die zweimal den Krieg gewonnen haben, damit herumärgern. Eigentlich geschieht es ihnen allen miteinander recht.

Auf der anderen Seite aber gibt es Menschen, die aus der praktischen Unmöglichkeit, sich mit mitteleuropäischem Durchschnittswissen ein halbwegs klares und objektives Bild über die Verhältnisse zwischen Recht und Unrecht auf dem Globus zu schaffen, die entgegengesetzte, aber ebenso bedenkliche Konsequenz ziehen: sie finden nun ausnahmslos alles in Ordnung, alles gottgewollt (oder im Hegeischen Sinne geschichtsnotwendig), was sich da vollzieht. Sie reihen sich als Österreicher (und Mitbürger des Herrn von Sacher Masoch) freiwillig in die Schar der Kolonialsünder der westlichen Großmächte. Die farbigen Politiker spielen in ihrer Phantasie eine Rolle, ähnlich der der „edlen Polen“, die nach dem gescheiterten Aufstand von 1832 in den Pariser Salons herumgereicht wurden. Die Schwarmgeisterei mit religiösem Einschlag ist — außerhalb Österreichs — hauptsächlich in jenen freikirchlichen Kreisen zu Hause, die einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die Meinungsbildung in den angelsächsischen Ländern ausüben, obwohl der Ahnherr des Protestantismus, der Doktor Martin Luther, sie schon vor 400 Jahren mit dem Hinweis abgetan hat, sie hätten den Heiligen Geist mit Schwanz und Federn gefressen. Vor einer solchen Betrachtungsweise werden humorlose Hinweise auf Rechtsgrundlagen natürlich des widerchristlichen Kolonialismus verdächtig. Und wer es wagt, etwas von internationalen Verträgen und Paragraphen zu sagen, gilt als vom Heiligen Geist verlassener Reaktionär.

So geht es also auch nicht: Wenn wir auch im einzelnen nur sehr lückenhafte Kenntnisse haben, das eine verstehen auch wir: Der etatisti-sche Nationalismus, die Übernahme zentralistischer Befehlsvorstellungen; das alles kennen wir aus der bitteren eigenen Erfahrung seit jenen Jahren, da man mit solchen Rezepten die Nachfolgestaaten der Donaumonarchie etablierte. Daß sich in einer solchen Politik, mag sie nun durch Nehru oder Sukarno, durch Adoula oder durch Adlai Stevenson vertreten werden, nicht des Weltgeists letzte Offenbarung verbirgt, das wissen sogar wir, die wir die Anwendung sehr ähnlicher Prinzipien nur vom Beispiel Leito-mischl, Bozen oder Teschen her kennen. (Dies aber dafür recht genau.) Keine Romantik sollte uns da verblenden. Man muß nicht alle verästelten psychologischen Beweggründe eines Täters kennen, um seine Tat selbst in ihrem faßbaren Ergebnis als das zu qualifizieren, was sie ist: als ein Unrecht, ein Vergehen gegen die Ordnung des mitmenschlichen Zusammenlebens.

Natürlich wäre es ebenso falsch, wollten die europäischen Katholiken nun die fragwürdige Position einer Weltgouvernante einnehmen und sich mit säuerlichem Mißbehagen abseits stellen. Je verwirrter die Fäden werden, je diffuser das Zwielicht der Wert- und Ordnungsvorstellungen, desto größer die recht verstandene internationale Verpflichtung, Schwarz und Weiß unerschütterlich beim Namen zu nennen. Ein solches Positionsbeziehen ist dann um so glaubwürdiger, wenn es nicht mit dem pharisäischen Anspruch auf Unfehlbarkeit erfolgt, wenn es aber auch nicht mit dem Schein verhüllter eigener Interessenpolitik nach. dem Wahlspruch „Sie sagen Christus und meinen Kattun“ verbunden ist. Die Größe oder Kleinheit eines Landes ändert am Gewicht seines Wortes nichts. Zudem gibt es ja trotz aller Krisen noch immer das Forum der Vereinten Nationen. Die oft als bedenklich angesehene Tatsache der absoluten Stimmengleichheit großer und kleiner Mächte kommt da auch unserem Votum von Fall zu Fall zugute. Es hat also durchaus Sinn, über die eigenen Prinzipien nachzudenken und aus den Ergebnissen dieses Denkens Konsequenzen zu ziehen.

Eine solche Konsequenz von historischer Bedeutung ist merkwürdigerweise in unserem Lande fast gar nicht beachtet worden. Auf einer Konferenz der Fachleute für Fragen der Entwicklungshilfe aus den christlich-demokratischen Parteien Europas, die von deren neugegründetem Internationalen Studienzentrum in Rom abgehalten wurde, ist nicht nur die Errichtung eines Komitees für Solidarität der Völker beschlossen worden, das Gespräche mit religiös-verantwortlichen (also keinesfalls nur auf die christlichen Konfessionen begrenzten) Politikern der Entwicklungsländer suchen soll. Solche Komitees gibt es in übergroßer Zahl. Viele von ihnen tragen sehr deutlich den Stempel einer Propagandazentrale oder eines politischen Missionsbüros. Das Wichtige und Neue an diesem Beschluß liegt in etwas Zusätzlichem: Es wurde ausdrücklich erklärt, daß die Bildung von christlichen Parteien in den Entwicklungsländern mit anderen starken religiösen Gruppen nicht wünschenswert sei. Es sei für alle Fälle besser, wenn alle religiösen Kräfte möglichst gemeinsam in einer politischen Partei ihren Ausdruck finden. Und noch ein weiterer entscheidender Satz aus diesem Beschluß: „Das Bekenntnis vieler afrikanischer Politiker zum Sozialismus darf nicht dazu verleiten, nur sogenannte konservative Kräfte zu unterstützen, denn der afrikanische Sozialismus ist anders als der europäische, da seine kooperativen Formen vielfach den Traditionen der afrikanischen Kultur besser entsprechen.“

Dieses bemerkenswert ausgewogene und nüchtern-sachliche Kommunique erscheint als ein Musterbeispiel für das zu sein, was wir unter christlicher und europäischer Politik gegenüber der Welt der Entwicklungsländer verstehen. Von der Verantwortung für die Menschheit außerhalb unseres abendländischen oder atlantischen Kulturkreises kann uns Christen weder im kirchlich-missionarischen, noch im karitativen noch im politischen Bereich irgend jemand dispensieren. In diesem Punkt sind sich übrigens — wie die große Konferenz der nichtkatholischen Ökumene in Neu-Delhi gezeigt hat — die maßgebenden Theologen nahezu aller Bekenntnisse einig. Wenn etwa der protestantische Laientheologe M. M. Thomas, der Beigeordnete des christlichen Instituts in Bangalore, als entscheidendes Kriterium für die gemeinsame Weltaussage der Christen die „verantwortliche Gesellschaft“ bezeichnet, wenn er die einheimischen Christen in den mehrheitlich nichtchristlichen Ländern Asiens und Afrikas geradezu darauf verpflichtete, i{i Solidarität und Dienst an Gesetzgebung und Entwicklungsplänen für Dorf und Stadt teilzunehmen, dann wird hier vom Theologischen her etwas ganz Ähnliches begründet, was die christlich-demokratischen Politiker (übrigens auch Angehörige verschiedener christlicher Bekenntnisse) als Richtlinie ausarbeiteten. Gewiß ist das Zeitalter der Schwertmission ebenso zu Ende wie das der abendländischen Kulturmission. Die Christen wären die Letzten, die sich für eine versinkende, Welt in die Bresche werfen müßten. Aber das, was nun nachfolgen soll, kann nur eine Gesellschaft sein, die den gleichen gültigen Rechts- und Ordnungsvorstellungen unterworfen ist wie- alle iene Gemeinschaften“ der Geschichte, die sich gemäß der Definition des Augustinus von bloßen ..Räuberhorden“ — auch solchen mit Staatsfestspielen und Volksbelustigungen — unterscheiden wollten. Die große geistig-politische Aufgabe der Christen Europas liegt nun darin, das wirklich Immergültige und von der Natur der Dinge her Verpflichtende von allem zu scheiden, was historisch bedingt und damit vergänglich ist. Die christlich-demokratischen Parteien Europas haben es sehr richtig gesehen: ebenso wie die Zeit der „Patronate“ der allerkatholischsten Könige zu Ende ist, so wahrscheinlich auch die der konfessionellen Parteigruppierungen, die in der außereuropäischen Welt hoffnungslosen Sektencharakter tragen müßten. Nicht abgetan und nicht „erledigt“ sind allerdings die gesellschaftlichen Prinzipien der christlichen Soziallehre, die Erkenntnisse des Naturrechts und die Fundamente des staatlich geordneten Zusammenlebens. Diesen Beitrag hat Europa und besonders das christliche Europa nach wie vor den Völkern in der Entwicklung anzubieten. Formulierungen dieser Art haben weder etwas mit arrogantem Abkanzeln noch mit schwärmerischer Liebedienerei zu tun. Sie sind hatte, kräftige, aber auch stärkende Speise. Unsere Energie muß sich dieser Aufgabe in doppelter Weise zukehren. Wir müssen im eigenen Bereich das Werk der Scheidung zwischen wesentlich und unwesentlich schonungslos und ohne träumerisches Rückschauen vollziehen. Nur so können wir zu wirklich zeitlos gültigen Ordnungs-und Rechtsbegriffen gelangen, die auch für die außereuropäische Welt anwendbar und verpflichtend sind. Ebenso wichtig aber ist es dann auch, die so gewonnenen Erkenntnisse einer Welt zu präsentieren und zu demonstrieren, die trotz aller überlauten Selbstübersteigerung im Innersten unsicher nach neuen Ufern sucht und die Gefahr eines Strandens im 'Niemandsland zu ahnen beginnt. ,

Die Stunde des christlichen Europa ist nicht zu Ende. Ebensowenig wie sie mit dem Untergang des Reiches der Cäsaren für das seiner selbst noch unsichere, mit den getauften Protektoren zum Teil eng verbundene Christentum der Völkerwanderungszeit zu Ende war. Gerade damals, als man den Weltuntergang nahe wähnte, schrieb Augustinus sein Buch vom christlichen Gemeinwesen, die erste politische Prinzipienerklärung einer neuen Welt.

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