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Frage und Fragwürdigkeit

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Vierzehn Tage lang 6teht Wien im Zeichen von Kundgebungen „Christlicher Kultur“. Nach der „Internationalen Woche des religiösen Films“ bringen nunmehr die „Kulturtage christlichen Geistes“ weltangesehene Dokumente des Kulturschaffens und Männer europäischen Formats in die Stadt, die noch keine Großveranstaltung dieser Art gesehen hat. Besuch und Anteilnahme an den einzelnen Festveranstaltungen dürfen mit den Prädikaten lebhaft, bewegt, ja glänzend bedacht werden — dennoch verlangt die Behauptung unseres ersten Satzes eine nähere Untersuchung. Wie weit steht Wien wirklich im Zeichen dieser großen Dokumentation „christlicher Kultur“? Lockt nicht ein beliebiges Sporttreffen größere Massen an, zieht nicht die Ankunft eines Hollywood-Stars mehr Menschen auf die Straßen und Bahnhöfe, überflutet nicht der Großeinsatz eines Reklamefeldzuges für ein Warenhaus mehr Litfaßsäulen und Plakatwände, widmet nicht zuletzt die Presse dem fraudulosen Unternehmen eines Bankrotteurs mehr Raum als diesen vierzehntägigen Veranstaltungen?

Es ist hoch an der Zeit, in diesen in ihrer Sprache überzeugenden Erscheinungen nicht nur ephemere Oberflächenphänomene zu sehen, sondern ernste Symptome. „Christlich Kultur“ scheint demnach entweder eine Quantity negligeable oder die Sache eines Ghettos zu sein, auf jeden Fall ist sie heute — und das belegt die Sprache der Tatsachen unserer Situation und Zeitwirklichkeit — eine sehr problematische Angelegenheit. Versuchen wir, ihr etwas auf den Grund zu gehen.

Nach den Vorstößen tapferer Einzelgänger im 19. Jahrhundert und um die Jahrhundertwende — in Deutschland sei auf Muth und Erhardt, in Italien auf Fo- gazzaro und später Gemelli, in Frankreich auf die „Jungkatholische Renaissance“ und in England auf Newman, Ward, später Chesterton und Belloc verwiesen — war man sich um 1900 bis 1910 allgemein über eine gewisse Inferiorität christlicher Kultur der Gegenwart klar. Hiebei ging es zunächst um die kulturellen Leistungen im katholischen Sektor. Der Protestantismus konnte mit Recht die große Bürgerkultur des Idealismus und der Geisteswissenschaft des 19. Jahrhunderts als wenn auch säkularisierte Sprößlinge seines Geistes für sich beanspruchen. Im katholischen Sektor sah es trübe genug aus; von etlichen Ausnahmen abgesehen, die aber allenthalben als Bestätigung der traurigen Regel angesehen wurden, galten katholische Dichter als viert- klassig, katholische Schriftsteller und bildende Künstler als drittklassig, katholische Gelehrte als zweitklassig. Um 1900 begann nun der Wandel, der nach dem ersten Weltkrieg vielfältige Blüten zeitigte. Das neuerwachte Interesse für „christliche Kultur“ und ihre Bezeugung fand nun seine Bestätigung in einer regen Verlagstätigkeit, in vielen Ausstellungen meist musealer Natur, in Kulturreden und -Veranstaltungen sonder Zahl, die meist von einem bunten Flor von Vereinen, Bünden . und wissenschaftlichen Gesellschaften initiiert wurden. Es wirkt heute erschütternd, wenn man die Vortragsfolgen und Veranstaltungsreihen der Jahre 1919 bis 1933 etwa in Deutschland, dem Hochland kultureller Betriebsamkeit, auf dem Sektor „christlicher Kultur" verfolgt. Von Versmaßen im alten Japan, von den Masken Alt-Javas über die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Sumerer zu Vergil und Dante, von der deutschen Mystik bis zur Romantik, vom Gar tenbau der frühmittelalterlichen Mönche bis zu den Staatsideen Adam Müllers, von Litaipe bis Rilke blieb kaum ein großer Geist, ein Gedanken- oder Gesellschaftssystem unbeackert, unbesprochen. Ein große späte Stunde bürgerlicher Bildung und Gelehrsamkeit, ein Triumph wissenschaftlicher Arbeit und Organisation ... Und dann, sehr schnell, das Debakel: es ist gerade in diesen letzten Jahren wiederholt von berufener Seite festgestellt worden. Dieser ganze Kulturbetrieb mit seinen unzähligen Reden, Diskussionen und Verän- staltungen war nicht imstande, die „Gebildeten“, dieses Bürger- und Akademikertum soweit christlich vorzuformen, daß es christliche Antworten und Taten auf die dröhnenden Fragen der Zeit zu setzen befähigt worden wäre. So kam es, daß weithin, rühmliche Ausnahmen wieder abgesehen, weder Wesen und Dämonie des Nationalsozialismus noch auch Kern und Problematik der sozialen Frage durchschaut, das heißt neu ein-gesehen wurde, auch nicht, was als besonders schwerwiegend erscheinen muß, die reale Struktur der religiösen Krise der europäischen Menschheit. — In den Jahren der Verfolgung kamen dann zunächst Kritiker zu Wort. Diese erklärten: Was hat Uüs dieser ganze „christliche Kulturbetrieb“ genützt, wenn wir nicht imstande waren, unsere Zeit zu verstehen und aktiv, tatkräftig ihre Probleme zu lösen? An Stelle des „Kulturbetriebs“ fordern sie den reinen Glauben — Bewältigung der konkreten Schwierigkeiten aus einem sakramental vertieften Glaubensleben — und Zusammenschluß in jdeihen Aktionsgruppen bald mehr spiritualer, bald mehr politischer Natur. Andere wieder, und nicht die schlechtesten, erkannten die Mängel früherer Kulturarbeit durchaus, so zumal ihre stark romantisch-historisierende, museal-ästhetische und intellektuell-hochgemute (und auch hochmütige) Artung, dachten jedoch das Kind nicht mit dem Bad auszuschütten, sondern hielten 6ich gerade jetzt verpflichtet, eine Bestandsaufnahme gültiger Bestrebungen zu machen und in ein neues Ringen um eine Scheidung und Unterscheidung kul tureller Manifestationen aus christlichem Geiste einzutreten.

So der Stand 1945. Die Jahre seither — sie werden vielleicht in die Geschichte als Jahre des Touchierens, des Pendelns, schicksalhafter Unentschiedenheit eingehen — haben keinen wesentlichen Fortschritt in der Klärung der Lage gebracht. Es ziemt also eine grundsätzliche Überlegung zur Frage „christlicher Kultur“ und das heißt christlicher Kulturarbeit heute. — Diese trägt notwendig ein doppeltes Gesicht. Sie ist der Vergangenheit und der , Zukunft gleichermaßen zugewandt und versucht in und aus dieser Spannung .die Gegenwart zu gestalten.

Christliche Kulturarbeit ist vergangenheitsträchtig. Sosehr diese Tatsache oft und immer wieder museal mißverstanden wird, darf ihr Wesensgehalt nicht übersehen wer den. Die Offenbarungen des Christentums, Lehre und Tradition der Kirche, das Erbgut west-östlicher Christenheit in 2000 Jahren — wir können uns nicht von ihm trennen, wenn wir uns nicht selbst aufgeben wollen. Wir können es aber nur bewahren, wenn wir um sein Verständnis ringen. Dieses Verstehen als Weg zum Erleben, dann zu existenziellem Mitvollzug gilt es zu erringen als Basis für das eine, was heute gefordert wird: das verantwortliche Tri gen dieser kulturellen Werte. Machen wir uns nichts vor. Wir werden, inmitten des Bombenschuttes, mitten in den geistigen und politischen Katastrophen unseres Zeitalters, sehr genau, ganz genau, auf den Zentimeter berechnet, nur so viel netten von der Kultur des christlichen Abendlandes, als wir, persönlich und als Gemeinschaft, bereit sind zu tragen, indem wir es auf unsere Schultern und Herzen nehmen und in unserem Leben bezeugen. Es sei gelegen oder ungelegen, es sei im Arbeitslager X oder in der Barackenstadt Y. Symbol dieser „Kulturarbeit“ ist Aeneas, pius Aeneas, der fromme Aeneas, wie ihn Vergil schildert, der auf seinen Schultern die Penaten aus dem brennenden Troja trägt und nach Italien, in die neue Heimat, überführt. — Schlösser und Abteien, Dome und barocke Paläste, Spinett des Biedermeier, silbernes Gefäß des Spiels — und hunderttausend Bücher, safran-, karmesin-, scharlachrot und rostbraun in Leder und Pergament gebunden, und die Lyrik und Kammermusik, die heiligen Gesänge des Abends und Morgens unserer Kultur ... Die profane und die heilige Liturgie mit ihren goldenen Formen, Farben und Gewändern! Wir werden so viel retten und wir wiederholen es, nicht einen Raummeter, nicht einen Zentimeter, nicht einen gedruckten Buchstaben mehr als wir, uns innerlich eingeformt, persönlich zu tragen, zu verantworten und zu bezeugen bereit sind. In diesem Sinne bedeutet heute traditionsbewußte christliche Kulturarbeit: Erziehung und Führung des einzelnen, der Persönlichkeit, zu jenen Werten und geistig-seelischen Wirklichkeiten, die ihr gemäß, ihr noch zugänglich sind und die sie zu tragen und mittelnd zu bezeugen bereit ist. Da nehme also dann der eine einen Dante und Tasso, der andere seinen J. S. Bach, der dritte seinen Memling und Goya und alle zusammen mögen sie sich ein Vademekum erstellen aus den Schätzen des alten Abendlandes.

Die aber ist nicht genug, kann heute nicht mehr genug sein. Das zweite Gesicht christlicher Kulturarbeit fordert nun sein Recht. Es ist der Zukunft zugewandt. Seine Forderungen an uns treten uns entgegen an jeder Straßenecke, schreien uns an, stumm und sehr laut, aus den Fabrikhallen und Bürosälen, aus den Maschinen und Stahlmöbeln, aus den Massenversammlungen des Spiels, de Sports, der politischen Bewegung. Es ist das mächtige Ungestaltete, das von uns innerlich nicht Bewältigte der neuen Zeit. Diese ist da. Darüber gibt es keine Diskussion. Wir vermögen weder durch spitzfindige scheintheologische Diskussionen die Industrie- und Arbeitswelt mit ihren Zyklotronen, Atomspaltmaschinen, Fabrikskombinaten zum Teufel zu schicken, noch auch sie durch flüchtende Rüdezüge in ätherisch-snobbistische Betrachtungen blauer Salons au der Wirklichkeit hinauszureden. Diese neue Welt fordert uns ein, fordert von uns ihre geistige und seelische Bewältigung, denn immer noch gilt das Wort des Psalm : „Der Himmel ist der Himmel des Herrn', die Erde aber gab Gott den Söhnen der Menschen.“ Diese „Erde“ mit all ihren Potenzen ist heute von Menschen mit den ihnen von Gott geschenkten Kräften geweckt, erweckt worden. Zu einem Leben, zu einer erregten und erregenden Tätigkeit, die uns oft Staunen und Grauen einflößt, zu einer dynamischen Entfaltung, die auf unsere Arbeit wartet. Und nichts kann uns einer ungeheuren Verpflichtung entbinden. Kläglich sdieitern die Versuche, jene gigantischen Räume, die uns Makro- und Mikro- physik, Geschichte und Naturgeschichte, Tiefenpsychologie und soziologisch fundierte Einsicht in Grundgesetze gesellschaftlichen Verhaltens eröffnen, zu überkleben und zu verkleistern mit den billigen Zetteln und Hausmarken, Etiketten und Firmenschildern überholter Denksystemc, Begriffe und Vorstellungen. Hier hilft nur eines zunächst, die Annahme und das Bekenntnis der Wahrheit. Wir besitzen noch keine kulturellen Formen, wir besitzen vielfach noch nicht einmal das innere Fassungsvermögen, um diese Welt von hier und heute mit ihr;n „Massemenschen“, ihren Maschinensälen, ihren Bevölkerungsproblemen und globalen Schichtungen christlich zu begreifen und dann auch christlich zu bewältigen und zu durchformen. Wer von uns dürfte sich anmaßen, bereits das Salz zu sein, das den neuen Menschen durchsäuert, den Menschen von Berlin-Siemensstadt, von Broadway und Dnjepropetrowsk, den Menschen aus dem Sechstagerennen in Paris und den Gräben von Stalingrad, aus den biochemischen Versuchlaboratorien der IG-Farben und aus den Ruhrschächten, das Salz, das ihn durchsäuert und ihm ein neugeformtes Leben mittelt. Und doch ist dies der eindeutige Auftrag, der Kulturauftrag, der an uns Christen ergeht. — Verzagen wir nicht angesichts der Größe, Wucht und des Übermaßes der uns hier gestellten Aufgaben? Nein. Denn schon sind Pioniere am Werk, Stollen in das Bergwerk der neuen Welt zu treiben, Sonden in den großen Körper zu senden und mit Scheinwerfern den dunkelglühenden Himmel abzutasten. Pioniere einer neuen christlichen Kultur, einer Seinsbewältigung unserer Zeit und Situation au christlichem Geiste! Die ist ja eben die historische Leistung der modernen christlichen Kunst, Lyrik, Dichtung, Geisteswissenshaft und auch Theologie — eine Leistung, die oft mißverstanden wird von den Patenanwälten einer falschverstandenen Vergangenheit. Ein Rouault, ein Eliot, eine Langgässer, ein Balthasar! Problematisch, hohproblematish ihr Werk, aber eben frag-würdig im hohen, ja höchsten Sinne! Zum erstenmal seit langer Zeit strecken sih aüs christlichem Herzraum wieder Hände und arbeitswillige Arme aus, um das Neue, Schwere, Belastende und Übermachtende einer neuen Welt einzubegreifen in christliche Weltschau und Weltverantwortung. Diesem zukunftsverbundenen christlichen Kulturwillen erwächst heute, morgen vielleicht die stärkste Hilfsmacht in der Kunst, die gestern noch als wohlfeilstes Handwerk des Unterhaltungsbetriebs gesehen wurde, in der Filmkunst. Vielleicht darf ihr Aufstieg gesehen werden als Symbol für die beginnende Durchlichtung der kompakt sperrigen, bisher undurchsichtigen Gebilde und Potenzen der modernen Welt. Denn dies eine kann heute schon offen ausgesprochen werden. Das Schicksal künftiger christlicher Kultur wird davon abhängen, inwieweit und wie tief es gelingt, unsere Welt hier und heute transparent werden zu lassen zu Symbol, Zeichen und Mittel göttlicher Gnadenkraft.

In vielhundertjährigem Kampf hat einst die Kirche mit dem spätantiken Imperium und seiner Kulturwelt gerungen um deren Eingewandung, Durchleuchtung. Das Ergebnis: die Liturgie der Kirche. Dieser Kampf hat heute neu begonnen. Die großen Phänomene der modernen Welt rufen danach, im Dienst einer großen heiligen Ordnung verstanden und bewältigt zu werden und sie erstreben dies zutiefst im Einklang mit der ihnen tausendfältig verbundenen Vergangenheit! Dies zu mittein und zu geben ist die Aufgabe christlicher Kulturleistung der Zukunft. Mögen ihr die Wiener Wochen ein echter, bescheiden-demütiger Eingesang sein.

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