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BRIEF DER JUBILARIN

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Der untenstehende Brief entstand aus der Korrespondenz des Unterzeichneten mit einem Freundschaftsehepaar der Dichterin, das für Paula Grogger viel Geduld und Liebesmühe aufbringt, jeweils große Postschulden abbaut und Manuskripte ins reine tippt. Die Bitte um neue Informationen für den 75. Geburtstag Paula Groggers am 12. Juli wurde mit vierzehn (!) tadellos geschriebenen Maschinschriftseiten beantwortet, die Paula Grogger anfangs diktiert, später handschriftlich entworfen hat. Sie wendet sich damit an eine „Freundschaftsredaktion“, die schon seit Staatsrat Dr. Funder viele Originalbeiträge von Paula Grogger veröffentlicht hat. — Über Leben und Werk Paula Groggers sind die „Furche“-Leser durch eine literarische Großreportage des Schreibers dieser Zeilen in der „Furche“ vom 4. Oktober 1958 unterrichtet worden. Sie führte von einer wohlbehüteten Jugend im reichen Elternhaus der Dichterin in dem steiri-schen Dorf Öblarn über die Lehrerinnenbildungsanstat der Vrsulinen in Salzburg, über 19 Jahre Schultätigkeit zur freien schöpferischen Arbeit und gliederte das Werk der Dichterin in den Sonderfall des trotz der eigenschöpferischen Sprache in mehrere Fremdsprachen übersetzten Welterfolges des großen Romanes „Das Grimmingtor“ (1926), in die von Durchschnittsinteressenten häufig unterschätzten, aber immer wieder neu aufgelegten fünf dramatischen und neun Prosalegenden (1916 bis 1949), in die steirischen Mundartgedichte „Bauernjahr“ (1947) und die hochdeutschen „Gedichte“ (1954). An unveröffentlichten Arbeiten wäre noch ein Paradeisspiel und der Paradeisgarten (eine Selbstbiographie, Herkunft, Kindheit und Lehrzeit auf den Unterstufen der Wissenschaft und Kunst) zu nennen, beide Arbeiten zu zwei Drittel vollendet. Soweit, was als bekannt vorauszusetzen, die Biographie und Bibliographie. Dazu nun, was unbekannt: die Information neuesten Datums, welche nicht nur aus Raummangel, sondern auch zufolge ausdrücklichen Wunsches der Autorin zum Großteil unterschlagen werden muß. Denn die Hinweise gelten mehr den Künftigen, die sieh mit der Person und dem Werk der Dichterin befassen werden, insbesonders mit dem im Brief erwähnten Tripty-chon, das sie in ihrem 75. Lebensjahr vollendet hat und von dem sie in ihrem Briefe sagt, daß sie die andere Hälfte, nämlich die Sichtbarmachung, vielen anderen Genialen zuteilt. Obschon zur Erläuterung dieses späten Werkes geschrieben, stößt der Kommentar (hier nur auszugsweise wiedergegeben) in die Werkstätte eines gereiften schöpferischen Geistes hinein, legt vieles bloß, deutet noch mehr an und erweitert sich zum menschlichen und künstlerischen Dokument, das die Wertschätzung jener vielen autorisierten Persönlichkeiten rechtfertigt, die der Paula Grogger seinerzeit einen ehrenden Empfang in der literarischen Öffentlichkeit bereitet und ihren Platz gesichert haben. Es wird Aufgabe der Biographen sein, ihre Erinnerungen an rühmliche Bekanntschaften und interessante Autorenreisen (einigermaßen im Diktat oder in Photobildern festgelegt) einmal übersichtlich der Nachwelt zu vermitteln. Einladungen nach Übersee,, die schon vor diversen Übersetzungen und Übersetzungsplänen an sie ergingen, konnte sie zufolge Familienpflichten oder eigener , Krankheit nicht annehmen. Ihr Name, wiewohl auf der schwarzen Liste, wurde selbst im nationalsozialistischen Deutschland, wenn schon nicht gesetzlich, so doch durch bedeutende Politiker persönlich geschützt und also von fanatischen Gegnern vorsichtig respektiert. Allerdings hat ihr ihre unbestechlich geradlinige Haltung zu keiner Zeit materiellen Nutzen gebracht, weil sie, trotz religiöser und traditioneller Treue, überpolitisch, das heißt christlich orientiert, ihren Namen und ihre Kunst niemals vor einen Konjunkturkarren spannte.

Es ist aber auch für uns Mitwisser, die wir Paula Grogger tchon lange begleiten, nicht leicht, ihre Existenz einer modernen Umwelt begreiflich zu machen, weil sie ihrer einbekannten Farbenlehre gemäß, aus dem urbäuerlichen Boden herausgewachsen, den blauen Wandlungsweg zur metaphysischen Anschauung geht... und von Gelb wieder ins Rot zurücktauchend, ihre Bilder und ihre Sprache aus dem elementaren Erbgut schöpft... und weil sie die Bekenntnisse und Deutungen und den Rest ihrer Ernte zurückhält. So ist auch dieser Brief nur eine Leseprobe, ein Versprechen der nun fünfundsiebzigjährigen Dichterin, der wir uns in Dankbarkeit und Verehrung glückwünschend zu Verneigen haben.

Lieber, sehr geehrter Herr Professor Dr. Herle!

Gott sei Dank ist es mir nun möglich, den Brief an Sie zu diktieren. Ich entrücke ja doch der offiziellen Literatur immer weiter und bin „fern von Europa“ nur darauf bedacht, die Zeit, die mir noch gegönnt ist, zur Vollendung einiger Fragmente auszunützen. Freilich, das Anbot eines so alten, lieben und getreuen Freundes möchte ich nicht zurückweisen. So erzähle ich Ihnen von den „Letzten Dingen“, die mir noch am Herzen liegen.

Wie bei mir üblich, werde ich aber für den Abdruck nur Teile freigeben! Das Spiel, das Frau Dr. Haller erwähnt hat, war anfangs eine Zwangsaufgabe, genauso erbeten wie Anno 1936 das Prinz-Johann-Spiel: „Die Hochzeit“. Da ich eben am „Grimmingtor, II. Teil“ arbeitete, hatte ich den Stoff griffbereit. Und wenn ich mich auch ungern von der Epik trennte, glaubte ich doch dem Lande Steiermark für meine Gnadenpension eine Schuld abtilgen zu müssen. Das Laienspiel sprengte im ersten Entwurf schon seinen Rahmen und wurde zu einem Schaubild des Volkstums und der Volkskunst. Ich habe in den folgenden Jahren noch viele Gelegenheitsgedichte an Zahlungs statt geschrieben. Nach dem zweiten Kriege, als mein Brotkorb immer noch himmelhoch hing, bedurfte ich fürsorglicher Hände, die ihn für mich herabzogen. Um das Jahr 50 wollte ich einer solchen Hand meinen Dank abstatten, abermals mit einem kleinen Theaterstück. Doch der Geist weht, wo er will. Und der Initiator mußte sich lange gedulden. Er hat die Wunscherfüllung nicht mehr erlebt. „Das Christkind“, seiner Gefolgschaft zugedacht, wuchs mir gleichfalls aus der Hand. Es predigt als zwölfjähriger Oblate zwischen Ostern und Pfingsten auf der großen Weltbühne.

Sie wissen ja, daß meine Ein-Bildungen immer kunsthistorisch befruchtet werden. So kam es, daß die geschichtlichen und geographischen Gegebenheiten des Erzbistums Salzburg und des benachbarten Bayern, damit verbunden natürlich die Glaubenskämpfe des ausgehenden Dreißigjährigen Krieges in mir Gestalt gewannen. Ich bin aber nicht durch die1 großen Bildszenen der Handel-Mazzetti dazu angeregt worden. Und als ich klein und volkstümlich begann, also zu Zeiten des Aristokraten Pius XII., ahnte noch niemand, daß ein Bauernpapst den Namen Johannes des XXIII. heiligen werde, indem er die ganze Welt zur Una Sancta aufrief... Das Spiel ist also weder eine historisch gebundene noch auf die Gegenwart bezogene Zweckdichtung, sondern ein aus zeitlichen Kriegserlebnissen geschöpftes überzeitliches Schaubild, das auf die ursündige Spaltung hinweist, derzufolge die Menschheit aus religiösem, wissenschaftlichem, machtpolitischem oder privatem Ehrgeiz einen unversöhnlichen Zweikampf führt und zugunsten eines lachenden Dritten der Dämonie unterliegt.

Wenn Sie mich um den Titel des Spieles fragen, so bin ich in Verlegenheit. Ich habe das Spiel anfangs „Die Bauernmesse“ genannt, weil neben allem kriegerisch-rauhen Geschehen und weltlichem Geplänkel die Hauptperson (ein erdichteter Wittelsbacher Prinz) noch ohne Gelübde und Weihen täglich die Messe zelebriert, dies auch auf der Flucht. Seine priesterliche Berufung bestimmt wesentlich das Geschehen und führt durch irdische und unterirdische Gewalten zu einer himmlischen Lösung, dem „Te Deum laudamus“. Füglich neige ich jetzt dazu, das Spiel „Te Deum“ zu nennen, was vielleicht auch für mein Lebenswerk symbolisch ist...

Daß ich mich in allen meinen Arbeiten, und in den letzten noch ausgeprägter, an eine Farbenlehre halte, dürfte Ihnen vielleicht - schon bekannt sein. Das Prinzip der Dreiheit, das von den drei göttlichen Personen ausgestrahlt, die ganze Schöpfung beherrscht, ist auch für die Kunst richtunggebend. Ich unterstelle also dem roten Spektrum Gottvaters die elementare Basis, dem blauen Spektrum Gottsohns die Veredlung und dem gelben Spektrum des Heiligen Geistes die Verklärung. Und dieser Kreislauf soll auch ein Kunstwerk runden. Wenn Sie den Vorgang auf die bildende Kunst beziehen, zum Beispiel: Der Stein, die formgebende Beseelimg'. Diese drei Ebenen: Natur — Kultur — Metaphysik sind in diesem Spiel noch konsequenter durchgebildet als in meinen früheren Arbeiten...

Es folgen nun Absätze über Religion und Kunst, Quellenstudien, Eingebungen und Überprüfungen, auch in bezug auf frühere Werke, es folgen Voraussagen aus vierzigjähriger Berufserfahrung, die kaum noch zu erschüttern ist. Wäre sie doch immer so unverletztlich gewesen1. Auf kluge und naive, wohlwollende und bösartige Kritik gefaßt, begegnet die Autorin den Fachwissenschaftlern mit gebührender Achtung und rechtfertigt sich vor ihnen nur mit ihrer ideellen Kunstauffassung, ohne sachliche Fehler zu beschönigen... Zunächst meint sie das „Grimmingtor“:

Die anfechtbare Familiengeschichte, eigenwillige Namensgebungen und Verwandtschaftsbeziehungen im Stammbaum, Gesichter und Charaktere, die ich als Augenzeugin kannte,auf Vorfahren angewendet, das wahre und doch sehr „verdichtete“ Bild der kleinen Welt werden mir Historiker verzeihen. Wer aber nicht einmal mit Schiller einverstanden ist, wird über mich den Kopf schütteln — den Stab brechen! — und was mir leid täte, sich der letzten Sicht des Mysteriumspiels verschließen, weil die meisten handelnden Personen nur von mir geborene Geisteskinder sind.

Ich will ja gar nicht aufzeichnen, was längst in Büchern steht und gelernte Fachleute zehnmal besser wissen und darstellen können. Mir geht es, wie gesagt, um das Zeitlos-Gültige, das sich aus Politik, aus Welt- und Religionsgeschichte herauskristallisiert. Und da mein Erbwissen, meine Liebe zum Überlieferten oder meine übersinnliche Schau stärker ist als meine Bindung zur Gegenwart, ist es ganz natürlich, daß sich meine Gestalten an der Vergangenheit orientieren. Und noch richtiger, umgekehrt gesagt: daß mich das allzeit Wahre und Wesentliche in vergangener Erscheinung überwältigt.

Das ist eben der Unterschied zwischen Dichter und Schriftsteller: Es arbeitet. Er arbeitet. Womit ich aber kein hochmütiges Werturteil abgebe. Besser ein souveräner Kopf als ein traumempfängliches Organ, das nicht nach dem Kunstgewissen übersetzt und ordnet Ich darf also zufolge meiner Toleranz und. Objektivität nicht zürnen, wenn Intellektuelle und Moderne mich, eine Frau, noch dazu alte Frau, zu den Vergangenen rechnen. Nur werde ich eben doch einige von ihnen überleben — auf Grund der „dreifarfoenen“ Kunst, die von Literaturmoden nicht umzubringen ist.

Mag auch ein eigenwilliger Stil die Gewohnheitsleser befremden! Die Forni ist dem Inhalt verpflichtet und nur dann Kunst, wenn sie prganisch aus der Imago kristallisiert... Solang ich meine Gedanken und Einfallsblitze für mich allein aufschrieb, ließ ich ihnen unbekümmert freien Lauf. Ich wußte ja bei meiner fraglichen Gesundheit und meinem' Alter nicht, wie weit ich damit noch käme. Später, als ich einmal über die biblischen Grundlagen sprach und sie christgläubig, aber doch für den gegenwärtigen Menschen denkbar auslegte, sagte ein Ungläubiger lächelnd: Ihr Dichter habt es leicht! Immerhin müssen auch wir Dichter unsere Aussagen gewissenhaft verantworten. Manchmal möchte sich mein farbenfreudiger Geist der abstrakten Malerei bedienen. Dann käme man wenigstens nicht in Verruf, sondern würde noch gefördert. Aber unsere Generation ist bei aller Eigenwilligkeit viel zu ehrfürchtig dem organischen Kunstprozeß verpflichtet, als daß wir ungeschult und selbstgefällig Er-und Be-Kenntnisse hinklexen, für dj£ wir uns sprachlich von Kind auf vorbereitet haben. Ich bescheide mich mit der Gewißheit, daß den Berufenen Bilder gelingen, die mir vorschweben, wenn ich einmal mit Worten nicht zurechtkomme. Ähnlichen Bildern bin ich auch in Wirklichkeit schon begegnet ... Man darf nur mit der Zeit nicht rechnen. Sie verging mir fast zu schnell. Dieweilen durch Jahre, Tage, Nachtstunden, Krankheiten und Widerwärtigkeiten mein Theater meine Welt war und mich wie ein heimlicher Besitz auch einem freundlichen, oft humorvollen Außenleben erhielt, spekulierte ich in Gedanken: Wo sind meine Mitarbeiter? Der Dramaturg, der Regisseur, der Musikus, der Theologe? Wo steht die Naturbühne, schon gewachsen, oder das große Gebäu mit Mittelstück und zwei Flügeln? Wo sind die Künstler, die Kinder mitinbegriffen, und der Maler, der alle vierundzwanzig anzieht?!

Wenn ich um mich horche, vernehme ich keine Antwort. Und das beruhigt mich beinahe. Und ich sage zu mir selber: Man muß Geduld haben. Anerkennung bedeutet noch lange nicht Erkenntnis eines Kunstwertes. Der Beifall kann auch vom Intellekt oder vom guten Willen kommen. Die Erkenntnis aber setzt jenen sechsten Sinn voraus, den der Geniale hat: eine Gabe, die geschult, aber nicht eingetrichtert werden kann. Man findet sie manchmal sogar bei Menschen, die ihre fünf Sinne nicht beisammen haben. Angesichts der Avantgardisten zweifelt man, welches von beiden Extremen vorherrscht. Trotzdem bin ich überzeugt, daß sie jetzt schon echte und große Kunstwerke schaffen, wenn ihre Expression der Impression gewachsen ist. Wer weiß, welche Vorgänge im Kosmos bei ihnen zu Gesichten werden! Auch die Wissenschaft ist hellsichtiger als vor hundert und tausend Jahren... Das ewig Göttliche und das ewig Menschliche läßt sich in unzähligen Variationen versinnbilden, vertonen und sagen. Doch ist dies an die Zeigerdrehung der Schöpfungsuhr gebunden. Auch viele Moderne bewegen sich naturgemäß. Aber mit dem Rücken gegen die Vergangenheit. Nur dem Wesentlichen, also der dritten Ebene verhaftet, beginnen sie, wenn sie die Gnade haben, symbolisch gesehen, in Gelb. Wenn sie Vernunft haben, werden sie sich nach der Harmonielehre richten, die sich in der Schöpfung und in ihrem Bewußtsein zu erkennen gibt. Aber das geistesadelige Blau würde ein Werk noch nicht zum Kunstwerk machen. Aller guten Dinge sind drei. Erst wenn die „Abstrakten“ in den Ursprung tauchen, rücklings fallend, möchte ich sagen, in der Vollendung des Kreislaufes bekommt ihr Opus die Gestalt der Vision. Es zeigen sich schon Junge, die den Stoff also deutbar machen. Genau wie wir Alten, die dort angefangen haben, wo sie aufhören werden: im Element. Wer immer die Umwandlung vom Amorphen zur Beseelung und von der Beseelung zur letzten menschenmöglichen Form erarbeitet hat, wird mein sehr konkretes Mysterienspiel verstehen... Auch die Flüchtlinge wandern durch das Dreifarbenspektrum. Im Vater, im Bruder, im Geist, dem sie nachgehen, spiegelt sich das Urprinzip...

Man darf nur nicht mit dem Erfolg rechnen. Ob ich mein „Te Deum“ auf Erden noch höre, ist Nebensache. Meine Phantasie hat mir seine sieben Bilder in einem Dutzend Jahren immer sichtbarer vorgespiegelt. Meine körperliche Substanz hat sich dabei sosehr verbraucht, daß mir die Freunde besorgt begegnen und die Feinde behutsam ausweichen. Nun geht es mir, gottlob, besser. Denn es ist wohl so, daß die Schöpfergnade, die man mit dem physischen Leben abdient, das metaphysische Leben stärkt. Und wenn man auch jeweils wie ein halbblindes Grubenpferd im Dunkel tappt, fördert der unermüdliche Geist freudig seine Eingebungen und Einbildungen zutage. Kein Erfolg, kein Beifall könnte mehr beglücken als lebendiges Sich-Mitteilen. Alle haben wir diese Erbtugend bekommen. Und wir Kunst-beflissenen hoffen wie Bauern, Handwerker, Arbeiter, Konstrukteure, spielende Kinder, Mütter und andere Leute, daß Gottvater nach sechs Arbeitstagen, -jähren, -Jahrzehnten zu unserer kleinen Nachschöpfung freundlich sagt: Es ist gut

Wenn ich jetzt bei meinem Jubiläum über etwas traurig bin, so deshalb, weil noch einige Fragmente vor mir liegen, die der Vollendung wert wären und die ich wohl auch hätte vollenden können — bei besserer Konstellation der Weltgeschichte, der Dorfgeschichte und der Familiengeschichte.

Zur richtigen Zeit, in meinen fruchtbarsten Jahren: mehr Plus und weniger Minus, mehr Frieden und weniger Sünden gegen den Geist! Dann müßten meine hoffenden und meine verneinenden „Gläubiger“ nicht immer fragen: Wann erscheint endlich Ihr nächstes Buch?

Anderseits aber darf ich mich nicht beklagen. Denn gerade der sensationelle Glückserfolg bei meinem ersten Schritt in die literarische Öffentlichkeit ist mit einer behüteten und freudenreichen Jugend vergleichbar. So bin ich unvergrämt. Mein Anhang ist mir lebenslang treu geblieben. Und die Gegenwärtigen, durch die Technik motorisiert, betriebsam und draufgängerisch, aber nicht minder treuherzig, suchen oft mehr Kontakt mit mir, als meiner notwendigen Klausur bekömmlich ist.

Was soll ich mir da noch zum Geburtstag wünschen? Einzig und allein: daß man mir noch eine Weile leben hilft mit Gebeten, Herzensgüte und Einfühlung in die künstlerische Wesenheit. Was von mir noch da ist und bleibt, kann mir keine Mißgunst nehmen. Was nicht da ist oder nicht mehr zu erwarten ist, würden auch Ehrungen nicht ersetzen.

Da ich aber sicher bin, daß mein Dasein sich zum Dortsein wandelt, dichte ich immer noch so leidenschaftlich, wie andere Menschen Liebesbriefe schreiben. Ich komme damit an kein Ende. Was uns im Alter noch jung sein läßt, ist schon Schwingung des ewigen Lebens.

Vorderhand hätte ich freilich auf dieser Erde allerhand nachzuholen. Was mich hier, abgesehen von den Impulsen meiner Berufung, noch in Atem hält, sind berufliche Aufgaben. Jeden Tag dringlicher scheint mir eine vollständige Selbstbiographie und ein Kommentar zu meinen Arbeiten, der späteren Interessenten das Rätselraten und ungeschickte Mißdeutungen erspart. Und nun Gott befohlen und herzliche Wünsche für Sie, Herr Doktor, und meine Freunde in der „Furche“.

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