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14. Juni 2o74 - im StepKansdom

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Soeben ist der Roman „DerachteTag“ in deutscher Sprache erschienen. Editionen in spanischer, französischer und holländischer Sprache sind in Vorbereitung. Ein Gegenwartsbuch in der literarischen Form einer Zukunftsvision: Rückblick auf Kampf und Krisis der Christenheit in unseren Tagen, vom imaginären Standort und Standpunkt zunächst eines jungen Amerikaners, der in einer Juniwoche des Jahres 2074 zur politischen Schulung nach Wien kommandiert wird. Ein Atheist, aufgewachsen in einer Welt, dio sich weit von Gott entfernt hat, sieht staunend auf die Relikte einer untergegangenen christlich-humanistischen Hemisphäre: aus diesem Abschnitt des Buches bringen wir einen Auszug — vom Besuch J. P. Browns, so heißt der junge Mann, im Stephansdom, Eine Visite, die im weltanschaulichen Programm dieses Kurses für höhere politische Leiter vom BÜRO, von der Regierung der autonomen M. G., der Menschheitsgesellschaft, angesetzt ist. J. P. Brown sieht das Panorama einer entgötter-ten und entmenschlichten Welt im Künstlerlager Pallas II, in der Menschenzuchtanstalt Kiinnekür, im Atlantikwall der Bastion Colon, im Stabsquartier Wüstheide, in der Beamtenakademie Knöttenkee, im Wiener Stadion und in Rom, am Grabmal des letzten Papstes. Und dann sieht er noch anderes: langsam werden ihm die Augen geöffnet für Leben und Wirken der Christen in eben dieser Welt, für ihre Resistance, die einzig echte Resistance gegen Terror und Übermacht der großen Mächte der Welt. Davon aber wird in der demnächst erscheinenden Besprechung zu reden sein.

Tanja wartet, unser Tagessoll beginnt jetzt erst richtig anzulaufen: Mittags, vierzehn Uhr muß ich im BÜRO, Abt. II f, zur Visitation antreten — heute ist mein erster Kontrolltag. Wenn alles gut geht, können wir am Spätnachmittag noch zum Sportfest der 9. Brigade ins Gigantstadion fahren. Jetzt aber müssen wir in den Stephansdom, in die Ausstellung „Kunst des vorwissenschaftlichen Zeitalters“. Besuch ist Pflicht.

Ich war ursprünglich der Ansicht gewesen und hatte diese Hoffnung still in mir genährt, in diesen zwei für den Stephansdom vorgesehenen Stunden eine Entspannung zu finden, eine Erholung von der Auseinandersetzung mit den schweren und ernsten Dingen, mit denen ich mich für die Dauer des Lehrganges eingedeckt sehe. In meinem Hotelzimmer türmen sich die Akten und Belege, die ich durchzuarbeiten habe. Die Krudi täten, die abstrusen Komplexe des vorwissenschaftlichen Zeitalters haben mich nie sonderlich interessiert. Was es an Positivem geschaffen hat, ist längst amalga-miert und verarbeitet im Bau unserer Gesellschaft, der Rest verdient meiner Ansicht nach nicht die museale und archi-valische Konservierung, die man ihm hier in Europa aus nicht ganz durchsichtigen Gründen immer noch angedeihen läßt.

Die Ausstellung „Romanik, Gotik und Barock“ im Wiener Stephansdom hat mich eines anderen belehrt. Ein ansehnlicher Bau, dieser Wiener Stephansdom! Geschmackvoll und elegant die Verjüngung seines Turmes, eindrucksvoll die schöne Rechenhaftigkeit seiner gotis iien Embleme; wirkungsstark die Westfront, das Gemäuer um das Riesentor. Die Kunstkammer Wiens ist zu beglückwünschen, eine solche Ausstellungshalle zu besitzen. Wir treten durch das mit Fahnen verschleierte Portal ins Innere; eine helle Halle, geteilt in eine nicht sofort übersehbare Zahl von Ausstellungskojen.

Sinn der Exhibition: die Schaubilder und Dokumente der drei demonstrierten Kunslepochen sollen zeigen, wie stark, blühend und mächtig damals bereits der menschliche Schöpfungsgeist aufbegehrte, die Welt zu formen, zu gestalten verlangte — und wie sehr er verbogen, restringiert, gedrosselt und in den Dienst falscher Ideologien gestellt wurde. Diese Absicht hat die Ausstellung, arrangiert unter der Oberleitung von Chefinstruk-tor Wadschädl und Chefkonservator Doktor Fattinger, voll und ganz erreicht. Ich sehe es an den staunenden Gesichtern dieser Mongolen aus Ulan-Bator, dieser Kirgisen, Inder und vor allem _NTeger aus Timbuktu. Ihre Anteilnahme, ihre Begeisterung, ihr Entzücken über das hier Geschaute ist so stark, daß ich fast zurückschrecke: ist für diese Menschen, die großteils erst seit wenigen Jahrzehnten am Genuß der Kultur des wissenschaftlichen Zeitalters teilnehmen, diese Schau politisch wirklich geeignet? Scheint sie nicht in ihnen Sentiments zu wecken, Rückerinnerungen an stammhaft-atavistische, trotz aller Schulungskurse, Arbeitslager und Testprüfungen noch nicht ganz überwundene Residuen abergläubisch magischer Verwurzelung ihrer Kollektivseele? Kann nicht die unglaubliche Fülle des hier Gebotenen in ihnen die Versuchung wecken, dieses „Mittelalter“ Europas vom achten bis achtzehnten Jahrhundert alter Zeitrechnung selbst und selbständig nachzuholen — überwältigt von der unleugbaren Vitalität und Eigenkraft des hier Gescheuten?

Ich teile meine Befürchtungen dem Politführer Callidus mit, den ich mit sorgenvoll vergrämter, abwehrender Miene in der Ecke einer Koje, an einen Pfeiler gelehnt, stehen sehe.

Callidus freut sich sehr über meine

Äußerungen. (Dies dürfte einige Gutpunkte für mich in der Konduitliste des Kurses geben. Nun, ich habe daran nicht gedacht, als ich etwas impulsiv auf ihn lossteuerte.) Er ist ganz meiner Meinung: die hier gezeigte Kunst übt heute bereiteinen starken Anreiz auf das Form-schaffen zumal Zentralafrikas aus, auch in Australien, Insulinde, China sind Einflüsse dieser Mittelalterkunst nachweisbar; wie seduisant und pervertierend diese Erscheinungen zu bewerten sind, erweist die leidige Tatsache, daß nach Ende der täglichen Ausstellungszeit immer

Neger, Innerasiaten, Angehörige der Turkvölker und Araber aus ihren Verstecken in einzelnen Kojen aufgespürt und gewaltsam entfernt, werden müssen. Sie versuchen sich hier zu verbergen, hinter, unter großen Monumentalgruppen von Altären, Statuen usw., um die Nacht abzuwarten: dann holen sie mitgebrachte Leuchtkörper hervor und ergeben sich abergläubischen Devotionen vor den Madonnen, Heiligen und Christusfiguren.

Ein Einwurf, eine Frage Tanjas: ob sich auch Weiße und Europäer unter diesen Eingeschlichenen befänden, beantwortet Callidus verneinend, fügt jedoch hinzu: „Ja, doch auch, aber das ist, Sie verstehen, Frau Oberkommissar“, er nennt ehrfurchtsvoll ihren Titel, „eine peinliche Sache; es sind Diebe, Agenten angesehener Persönlichkeiten, von VIP's sogar, die, als Arbeiter, Aufseher, Führer verkleidet, versuchen sollen, einzelne Kunstwerke zu entwenden und sie den Privatsammlungen dieser Herren zuzuführen, über dieses Kapitel ist daher nicht zu sprechen, um so mehr aber über das andere! Wir in der politischen Instruktion haben es mehrfach, leider ohne großen Erfolg, zur Diskussion gestellt: was nützen die Millionen Thaler, die wjr für Erziehung und

Schulung der Alt- und Neuvölker ausgeben, wenn deren hier zusammenströmende Elite, durch so unkluge Exhibi-tionen verwirrt, verdorben wird? Wir kämpften seinerzeit gegen Art und Wahl des Ausstellungsthemas. Sie wissen, daß der Stephansdom im vorwissenschaftt liehen Zeitalter eine Kultstätte des Christentums und ein Ort hoher Aktivität seiner Ideologen war. Kann man also, so stellen wir fest, einen unpassenderen Ort für diese Schaustellung finden als diese Stätte? Alles vergebens! Das einzige, was wir erreichen konnten, war das Verbot — nicht der ganzen Ausstellung, ach nein, wo denken Sie hin, hier in Wien“ —, Callidus' Augen funkeln wütend, „wohl aber der Nachtführungen! Das hätten Sie, lieber Freund, sehen sollen! Die letzten fanden im vergangenen Dezember statt. Angestrahlt mit allen Mitteln moderner Beleuchtungstechnik, erschienen diese romanischen, gotischen und barocken Figuren wie Gestalten einer anderen Welt, . einer besseren, schöneren, menschlicheren Sphäre!“

Callidus stößt diese Adjektive impulsiv aus sich heraus, wirft sie pfeifend in den engen Raum der Koje. „Der Andrang der Massen — Großbetriebe hatten geschlossene Führungen organisiert — war so stark, daß, wie errechnet wurde, für Jahre hinaus Nachtvorstellungen ausverkauft gewesen wären. Die Nachricht vom Eindruck dieser Schau lockte in wenigen Tagen tausende Kollektivbestellungen aus ganz Europa herbei. Ein Skandal sondergleichen! Dichtgedrängt, dabei ziemlich diszipliniert, zogen stumm, aber von sichtbarer Spannung ergriffen, die Massen aus Stadt und Land an den hell strahlenden Idolen des vorwissenschaftlichen Zeitalters vorbei. Sie hörten nicht auf die Erklärungen der Pub-Sprecher, lasen nicht die Erläuterungen, die wirklich sorgfältig von der Kunstkammer, politische Sektion, an und um die einzelnen Ausstellungsobjekte appliziert worden waren, sondern sahen nur schauten, schauten starr, fast ekstatisch auf die Objekte.

Sehr schnell wurde hier offenkundig, daß die mit der Eröffnung dieser Exhibition verbundene Erziehungs- und Schulungsabsicht hier nicht erreicht, vielmehr in ihr Gegenteil verkehrt wurde. Nicht eine Stärkung der psycho-physischen Gesundheit, nicht eine politische Schulung wurde hier erzielt, sondern eine Pervertierung, ein Rückfall in Atavismen. Der Andrang, der Ansturm der Massen offenbarte übrigens sehr schnell nicht nur die Gefährdung der inneren, sondern auch der äußeren Gesundheit. Frauen und Männer, selbst Jünglinge brachen im Anblick der Objekte ohnmächtig zusammen. Vor dem Dom mußten zwanzig Rettungswagen ständig bereit stehen, ihre Ambulatorien wurden durchgehend beansprucht. Mit Hilfe der Sanitätspolizei gelang es uns, zunächst die erste Einstellung der Nachtführungen durchzusetzen. Das BÜRO verhielt sich, ohne Befehle, obwohl es vom ersten Tage an mit Zuschriften, Appellen und Beschwerden einsichtiger Männer und Frauen bestürmt wurde.

Das BÜRO geht, wie Sie, mein junger Freund, wissen, seine eigenen Wege. Vielleicht wollte es, durch seine Beobachtungskommissionen, die psycho-physi-sche Reaktion der Massen beobachten und faßte seinerseits die ganze Ausstellung als politisches Versuchsfeld auf. Erst als die Exzesse immer größere Ausmaße annahmen — verdiente Künstler, Kommissare, Wissenschaftler wurden beschimpft, Spottlieder, von Mund zu Mund gehend, sangen von der Impotenz unserer Epoche, vom Richteramt jener mittelalterlichen Objekte — erst als das Mitglied des Stadtbüros, Ministerialdirigent Dr. Muus“, ich verhalte den Atem, „in der Ausstellungshalle hier, persönlich insultiert wurde, mitten in einem Vortrag über die „Perversion der mittelalterlichen Kunst“, da erst erfolgte das Einschreiten des BÜROS. Die Ausstellung wurde für die Dauer eines ganzen Monats geschlossen und gänzlich umorganisiert. Verboten wurde jede Indienststellung moderner Propagandamittel, wie Leuchtkörper, Farbwechsler, Geruchsmischer und Schattenspieler zur Erhöhung der Attraktion der Objekte. Jede Koje erhielt neues kulturpolitisches Aufklärungsmaterial — ich weiß im Moment nicht, wie viele hundert Tonnen Papier hier bereits an das Publikum verausgabt wurden — und darf nur während des Sprechens der .ihr zugeteilten Kammerbeamten besichtigt werden, so daß das Bild ständig durch das Wort ins rechte Licht gestellt wird. Die Nachtführungen wurden endlich zur Gänze verboten. Jeder Besucher der Ausstellung wird beim Eingang registriert; das BÜRO besitzt dergestalt eine wertvolle Gelegenheit, seine Testrollen zu ergänzen.“

Callidus verabschiedet sich. Ich überfliege die ersten Seiten des dicken Ausstellungskatalogs. Die Leitsätze der Einführung sind mir bekannt: die Kunst der drei hier projizierten Perioden, die eng miteinander verbunden sind, entstammt dem Wettstreit zwischen Kirche und herrschenden Klassen, hier also Adel und Bürgertum. Die Kirche erkannte früh in der Kunst ein hervorragendes Propagandamittel zur Verbreitung ihrer Ideen, zugleich eröffnete sie der Kunst ein Experimentierfeld zu Ausdruck und Ab-reaktion von Empfindungen und Leidenschaften, die sie sonst schwer bändigen konnte. Die führenden Klassen, Stände Vrenannt, rangen in ihrer Herrschaftskunst der Kirche die Macht ab: indem sie ihre feudalen Dome und Christkönigsherren (Bildwerke), ihre bürgerlichen Hallenkirchen, Madonnen und Flügelaltäre schufen, errichteten sie sich eine eigenständige Sphäre: mit ihren Priestern, ihren Orden, ihren Stiftungen, die sie im sogenannten Spätmittelalter säkularisieren, das heißt auch äußerlich der Kirche abnehmen. Die hier gezeigte Kunst stellt also ein lehrreiches Beispiel dar einerseits als Illustration der kirchlichen Machtergreifung über die gesamte psycho-physische Struktur des vorwissenschaftlichen Menschen, andererseits als interessantes Exempel für klassenmäßig gebundene Machtkämpfe auf dem Boden einer zentral und total gelenkten Weltanschauung.

Ein Hinweis, der jeder Seite des Heftes als „battle line“ aufgesetzt ist und bei jedem einzelnen Ausstellungsobjekt, auf oder neben dasselbe geheftet, wiederkehrt: „Vergessen Sie nicht: alles Positive an dieser Kunst, alles, was Sie an ihr anspricht, ist Werk des unterdrückten, zu harter psycho-physischer Fron gezwungenen Volkes, das selbst in der Sklaverei des Feudalismus und der adeligen und großbürgerlichen Kirchenherren erschütternde Zeugnisse der Aussage seiner Leiden und Freuden freischöpfe-risch schuf. Diese Kunst ist somit Dokument eines gigantischen Selbstbehauptungswillens der unterdrückten Volksmassen: das Volk selbst ist der leidende Christus, den Sie hier so oft dargestellt finden. Zum anderen: alles, was Sie hier abstößt, was Sie hier als abgeschmackt, närrisch, töricht, unkünstlerisch empfinden, ist Werk jenes Mystizismus, zu dem die Herrschaftsmächte Kirche, Feudalismus, zuletzt auch Bürgertum, das Volk zwangen, um seine gewaltigen Kräfte umzubiegen und gefügig zu machen für : klavischen Dienst.“

Dieses große Plakat klebt, hängt, liegt tausendfach in diesen Kojen, findet sich 'n Flugzetteln vor dem Portal der Ausstellungshalle, am Fußboden verstreut, rchwebt in Riesenlettern in der Wölbung des Domes. Und wird hundertfach repliziert, abgewandelt, illustriert in den Re-len der für jede Koje bestimmten Ex-' 'ositionsredner. Unter“ diesen Umständen ist es nicht leicht, zu einer Begegnung mit den einzelnen Kunstwerken •“orzudringen. Manchmal gelingt es mir, manchmal nicht. Immerhin, ich habe man-('-.es aus den Gesprächen bei Dr. Muus behalten und das klang allerdings anders als seine hier mehrfach abgedruckte Rede „über die Perversion der mittelalterlichen Kunst“. So gelingt es, einzelne Kojen zu finden, die nicht gerade von geschlossenen Lehrgängen schulischer Anstalten, von Betriebsausflügen und Reisetrupps überlagert sind.

Auch hier surren, wenn auch gedämpft, die Lautsprecheranlagen, die Aufsichtsredner legen, sobald sie nur einiger Besucher gewahr werden, los mit ihren Pflichtreden. Es geht aber doch. Der Eindruck der hier gezeigten Objekte ist groß, oft verwirrend in seiner Wucht, manchmal beklemmend; befreiend und bedrückend, niederschmetternd und erhebend. Ganze Register unbekannter Töne werden in meiner Brust aufgerissen. Es schmerzt sichtlich. Es ist, wie wenn sich verhemmte überlagerte Schichten lösen wollten; ein Aufstand des Unterbewußten gegen die Sedimente des Rationalen, der wissenschaftlichen Weltordnung.

Schweiß steht auf meiner Stirn, ich werde hier von diesen Gekreuzigten, diesen liebeblickenden Frauen, diesen strenggesichtigen Männern eingefordert.

Es ist ein riesiger Gerichtssaal. Ein gotischer Christus blickt mich an: Mensch, was tust du, was bist du Sandkorn? — Ein romanischer Christkönig trägt die Last seines Leidens mit einer herrscherlichen Kraft, die bestürzt. Im Volk der Geißelnden, Speienden, Kreuzigenden stehen Gestalten der Besucher, der Menschen unserer Zeit, vor mir. Ein oft nahezu unerträglicher Anblick, diese gotischen, diese barocken Passionsbilder.

Dieses Leiden und diese Leidenschaft! Diese Besessenheit, diese Kraft, diese Energie. Diese Macht. Ich sehe plötzlich einen kleinen ausgestreckten Finger, ich weiß nicht mehr, ob ich ihn auf einem romanischen Mosaik oder einer gotischen Retabel fand, ob er einem Christus, einem Heiligen oder einem Sünder gehört. Dieser kleine Finger zeigt hindurch, durch meine ganze Welt. In Abgründe, in Fernen, in Weiten, die ich schmerzlich ahne.

Ungeheuer die Eindruckskraft, die Wucht dieser Kunst. Sie überfällt mich merkwürdigerweise nicht nur in den „dunklen Werken“, wie ich sie bei mir nenne, in den “Martyrien und Passionsbildern, in den Höllenfahrten und Schinderszenen, in den monumentalen Darstellungen des Jüngsten Gerichtes, sondern ebenso, ja fast mehr noch, in den linden, leisen „lichten Werken“. Eine stille, schwächliche Madonna mit Kind rührt zu Tränen. Ein Jünglings-, ein Greisenkopf im Schnitzwerk eines Flügelaltars entwaffnet durch die Kraft innerer Sammlung jede Gegenwehr. Die Milde eines Heiligen, die Güte eines Sünders greifen ins Herz. Singende, schwebende Engel, Kinder der Menschheitsfrühe, tanzen den Reigen einer Harmonie, die fremd ist.

Ich verstehe auf einmal Macht und Wesen des Märchens: seine leise Hand greift in Gründe in unserem Innern hinein, von deren Existenz wir zwar durch unsere Psychologie, Medizin und politische Testforschung wissen, deren Essenz wir aber nicht eigentlich erloten, erhellen durch Eingriffe unseres Sezierapparats. Das Märchen — man hat mit Recht seine Lesung für den Normalverbraucher verboten —, es übt die Banngewalt einer überwundenen Welt. Seltsam, ein Widerspruch, aber ein lebender Widerspruch. Diese Objekte der Kunst des vorwissenschaftlichen Zeitalters sind offensichtlich dem Märchen verwandt. Und sind doch anders. Sind mehr. Ich vermag ihre Wirkung noch nicht zu erklären, sehe sie aber deutlich an anderen Besuchern der Ex-hibition, an mir selbst.

Ich wanke, erschöpft, nach einer Stunde Aufenthalt, von Koje zu Koje, mehrfach wende ich mich ab, fühle mich zu schwach, den Anblick dieser Menschen zu ertragen. Gott? Genien? Heilige? Sicherlich nur Menschen, aber was für Menschen! Begabt mit einer Potenz, einer inneren Fülle und Selbstmächtigkeit, mit einer Strahlkraft, die überwältigt. Wie seltsam: diese Menschen des vorwissenschaftlichen Zeitalters dachten, gefangen in Wahn und Aberglauben, einen Gott und Halbgötter zu bilden und schufen Menschen, die ihresgleichen heute nicht haben. Wir schaffen keine Götter, und — es gleitet mir so in die Feder — auch keine Menschen mehr.

Unsinn. Ich bin übermüdet, verwirrt, zerschlagen. Das aber kommt daher, daß ich mit diesen Eindrücken nicht fertig werde; ich kann sie nicht verdauen, nicht überwinden, nicht rational verstehen. So verfolgen sie mich, Schattenbilder meiner überreizten Nerven. Stehen im Wagen, ''m Hotel, im Halbschlaf vor mir. Große, dunkle Augen einer heiligen Barbara, zärtlich weiches Lächeln einer Schutzmantelmadonna. Ein Christus, als Weltenrichter in der Mandorla thronend, sieht mich an, das Richtschwert im Munde. Jünglinge, Märtyrer sterben, verbrennend, verkohlend, mit strahlendem Blick; ein Mädchen, Blutzeugin wie sie, wendet ihr innig-offenes Gesicht dem Himmel zu. Dann versinken diese Lichtgestalten in einem Flimmern, gehen unter wie alte morsche Schiffe, im Sturm und Regen der Plakate, Broschüren und Flugzettel, werden weggefegt vom Lärm der Tonsetzer, der Einsatzredner der Kunstkammer der Politsektion.

Es ist gut so; diese Kunst ist nichts für uns; sie stammt aus einer anderen Welt, die an und in ihrer Schuld zerbrochen ist. Diese Kunst überfordert uns, mit ihren Maßen und Gewichten, die nicht die unsrigen sind. Saugt uns aus, entblättert, enthüllt uns; verweist uns ins Nichts, in die Leere. Das ist nur natürlich: wir vermögen sie mit unserem Denksystem nicht zu erfassen; unser Alphabet reicht nicht einmal aus, ihre Worte zu buchstabieren, geschweige denn ihre Sprache zu sprechen. Ich habe alle Mühe, mich aus ihren Netzen zu befreien, mich aus der Wirrnis ihrer das Unterbewußtsein ansprechenden magischen Bilder und Vorstellungen zu lösen.

Ich brauche einen klaren Kopf, die Nebel dieser Dämmerwelt verdüstern mich.

Um vierzehn Uhr muß ich im BÜRO sein, es ist Kontrolltag.

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