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IN DER CASA CAROSSA

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In Passau verläßt man den Zug. Auch im Winter und im frühen Frühling, da noch Schnee auf den Hängen liegt, die einst 6chöne Weinberge getragen haben, kann die 2000jährige Stadt an den drei Flüssen — mit den flachen Dächern, den anmutigen Uferpromenaden und den vielen italienisch-barocken Bauwerken — ihren südlichen Charakter nicht verleugnen. Die 37 Kirchen und Kapellen verleihen der eher klein Wirkenden'ein geistliches Gepräge. Man hat Passau, das, nach Humboldts Meinung, zu den sieben schönsten Städten der Welt zählt, das bayrische Venedig, die Schwesterstadt Salzburgs, die deutsche Riviera genannt, und im Sommer mag man sich hier wirklich unter einen südlicheren Himmel versetzt fühlen. Und wie in vielen italienischen Städtchen findet man auch hier unwahrscheinlich enge, lichtarme Gassen, die meist, steil abfallend, auf den Strom münden. Sie sind auch im Hochsommer feucht und kühl und begünstigten — früher wie heute von ärmeren Leuten bewohnt — jene schleichende Krankheit, deren Bekämpfung sich Hans Carossa widmete, als er im Jahre 1903 als junger Arzt hier eine Praxis begann.

O meine Stadt! Warum klopft mir heute noch das Herz bei diesem Anschauen? Wie sich der scharfe granitene Sockel zwischen die zwei zusammentreffenden Ströme hineinspitzt gleich einem Dolch und frei das ganze lastende Geschiebe

De Haut In Rittsteig. Das Fensler rechts oben ist das des Arbeitszimmers trägt: Mauern, Bögen, Dächer, eisenbehelmte Türme, zerfressene Gebisse alter Zinnen, alles bang emporgedrängt um den Dom, der sonnengeschwärzte Riesenkuppeln schwer aus dem Himmel prägt!

Hier und in der näheren Umgebung der Stadt lebte der Dichter nnd wirkte der Arzt durch Jahrzehnte, und dicht bei Passau, in dem nur knappe zehn Autominuten entfernten Rittsteig, ichJoß sich am 12. September 1956 sein Lebenskreis.

Hans Carossa ist am 15. Dezember 1878 in Bad Tölz geboren. Das Kind des Arztes wurde im dritten Lebensjahr nach Königsdorf und im siebenten nach Pilsting in Niederbayern verpflanzt. Neun Jahre lang besuchte er das Gymnasium in Landshut, dann studierte er Naturwissenschaft und Medizin an den Universitäten München, Würzburg und Leipzig (das die nördlichste Stadt ist, in der Carossa gelebt hat). In Passau, Seestetten und München übte er vor dem ersten Weltkrieg seine ärztliche Praxis aus, war dann drei Jahre lang, zuletzt als Bataillonsarzt, in einem bayrischen Infanterieregiment in Rumänien und an der Westfront, kejirte nach Kriegsende wieder nach München zurück und fand in Rittsteig bei Passau, wo er seit 1941 lebte, sein letztes und schönstes Zuhause —, nun auch freier über seine Zeit verfugend, freier freilich nur im Hinblick auf die ärztliche Arbeit, dafür aber, als inzwischen berühmt gewordener Schriftsteller, allen jenen zahlreichen Beanspruchungen ausgesetzt, denen keiner sich zu entziehen vermag, am wenigsten ein Mensch seiner Art.

Das Gut Rittsteig, ein ausgedehnter landwirtschaftlicher und industrieller Betrieb, ist schon seit drei Generationen im Besitz der Familie von Carossas zweiter Frau. (Die erste, eine ehemalige Patientin des Arztes Carossa, hatte er während des Krieges verloren.) Die hellgelben, auf einer leichten Anhöhe liegenden Wirtschafts- und Fabrikgebäude umschließen von drei Seiten ein geräumiges zweistöckiges, wie aus Italien hierherversetztes Wohnhaus, das man im Süden als „Villa“ bezeichnen würde. Und nicht nur die in dieser Gegend seltene Farbe — toscanisches Gelb — erinnert an die Herkunft der Familie Carossa aus dem alten Piemont. Ein Freund des Dichters, der berühmte deutsche Kunsthistoriker und Altertumsforscher Ludwig Curtius, leitete den Namen Carossa von „Casa rossa“ ab (analog zu Ca'Giustinian, Ca d'oro). Daneben gibt es noch eine andere Deutungsmöglichkeit: „carozza“ = Wagen, also „Wagner“, die nach Sizilien weist. Im Gesicht und in der Statur des Dichters erscheinen die romanischen Elemente so stark mit bayrischen gemengt, daß sie nicht auf den ersten Blick zu erkennen sind. Dagegen treten sie bei Carossas einziger Tochter, die jetzt mit Mann und Kind Rittsteig bewohnt und den Nachlaß ihres Vaters betreut, deutlicher hervor.

Bibliothek und Arbeitszimmer des Dichters liegen im oberen Stock, zwei Räume, deren Eigenart sich dem Besucher ebenso stark einprägt, wie sie die Person des Menschen und Dichters Carossa widerspiegeln. Man betritt zunächst die Bibliothek, einen von drei großen Fenstern erhellten, etwa sieben Meter langen und nur zweieinhalb bis drei Meter breiten Raum. Den Fenstern gegenüber: eine riesige Bücherwand mit „eisernem Grundbestand“ und, wie die Tochter des Dichters erklärt, wechselnden „Novitäten“ auf den oberen Fächern. Davor ein langer schmaler Büchertisch, alles in naturfarbenem Eichenholz. An der einen Schmalseite des Raumes: ein wenig bekanntes Bild des alten Goethe — ein Geschenk, das Carossa zum 60. Geburtstag von Freunden empfing (Max Meli, Richard Billinger, Ernst Penzoldt, Wilhelm Hausenstein und andern). Darunter das von

Eva Kampmann-Carossa aufgebaute Archiv: mehrere hellgrau gestrichene Tresors mit vielen Schubfächern, darin an die 6000 Briefe des Dichters, teils in Original, teils in Photokopien, aus denen die Nachlaßwalterin, von Dr. Herbert Steiner beraten, gegenwärtig einige Hundert für einen Briefband auswählt. Es werden nur gewissermaßen Stichproben einer fast uferlosen Korrespondenz sein, die Carossa, neben seiner ärztlichen Fraxis und der eigentlichen Arbeit an seinen Büchern, zu bewältigen hatte. An der Fensterwand: wieder Bücher, insgesamt einige Tausend, unter ihnen die Werke fast aller Autoren und Dichter-freunde, die man aus den Schriften Carossas kennt, daneben auch Überraschendes, wie etwa sämtliche literarhistorischen Werke Friedrich Gundolfs und anderes Historisches und Literarisches aus dem George-Kreis. An der anderen Schmalseite der Bibliothek führt eine auffallend niedrige Tür ins Arbeitszimmer des Dichters; rechts von ihr, unter Glas, eine prächtige rosa Meeralge, das Geschenk eines Lesers aus Schottland; links an der Wand, ebenfalls ein Lesergeschenk, eine Sammlung farbenfunkelnder Schmetterlinge aus Madagaskar.

Durch diese kleine Tür betritt man den Arbeitsraum. Der erste Eindruck ist der einer fast mönchischen Einfachheit. Vor dem Fenster, mit Blick auf den Garten, ein mittelgroßer Schreibtisch, rechts daneben ein schmales Ruhebett, über diesem ein großes Panorama Roms in Farben, darüber zwei Ansichten von Florenz. An der Fenster wand, in schwarz-weiß, drei Details des Ludovisischen Altars (Die Geburt der Venus), links vom Schreibtisch ein Engel Michelangelos und, auf einem kleinen Bücherregal, eine moderne Plastik. Auf den Bücherbrettern: nichts als 18 dicke Bände des Grimmschen Wörterbuches nebst einigen noch nicht gebundenen Lieferungen. Hinter dem Schreibtisch: ein mächtiger runder Kachelofen, auf dessen Sims zwei Bildnisse stehen: das Mozarts und das Hofmannsthals. (Wir erinnern uns, wie sich Carossas spätes und zögerndes Eintreten in die Literatur vollzog: Richard Dehmel und Hofmannsthal hatten es vermittelt.) In einem im gleichen Zimmer befindlichen Bücherschrank steht auch jene zehnbändige Goethe-Ausgabe, die ihm der Vater zum 15. Weihnachtsfest geschenkt hatte.

Etwas Unerklärliches hielt mich nach den ersten Seiten fest, ließ mich los, zog wieder an. Bald schlug ich diesen, bald jenen Band auf, und fast jedesmal traf ich auf ein besonders bedeutsames Wort, zu dem ich immer wieder zurückkehrte. Die dunkelsten, entlegensten Stellen des Zweiten Faust, des West-östlichen Diwans, der Wanderjahre, der Metamorphose i der Pflanzen wußte ich bald für immer auswendig, ohne zu ahnen, was für ungeheure Elemente ich damit in mein kleines Leben aufnahm... So spielt ein Kind mit hohen gefährlichen Dingen der Geisteswelt wie mit schönen jungen Tieren, die sich eines Tages als Löwen enthüllen werden.

Nach, der Lektüre Goethes, Klopstocks und Schillers bemächtigt sich des Jünglings ein wahres „Reimfieber“. Dieses wird abgelöst von einem wissenschaftlichen Projekt: Er will sämtliche den Donaustrom bevölkernde Fische registrieren und der Reihe nach beschreiben, 500 Seiten soll das Buch haben und den Titel „Donaufischkunde“ tragen. Während der ersten Universitätsjahre treten auch die führenden zeitgenössischen Dichter in seinen Gesichtskreis, zunächst Liliencron, Dehmel und Holz. Unter ihrem Einfluß und den makabren Eindrücken des Sezier-

Arbeitszlmmer des Dichters saales entstehen unheimliche Anatomie- und Krankheitsgedichte in freien Rhythmen. Eines davon, ein besonders umfangreiches, auf dessen Entstehung überdies noch Strindberg, Nietzsche und Mombert eingewirkt haben, sandte er an Michael Georg Conrads „Gesellschaft“. Es soll gedruckt werden, aber als Carossa die Korrekturfahnen erhält, empfindet er das Ganze als fremd und überspannt, die bald darauf eintreffende Nachricht vom Tod des Redakteurs der Gesellschaft, Jakobowski, erscheint ihm wie ein Wink —, und er sendet die Fahnen nicht zurück. So bleibt das Gedicht vorläufig unveröffentlicht. Als Carossa sich bald darauf in Passau niederließ, hoffte er, das Heilgeschäft nur mehr nebenher betreiben und sich vor allem dem Beruf des Dichters widmen zu können. Aber es kommt anders. Er wird vom ersten Tag an — und mit den Jahren immer mehr — in fremde Leidenswelten hineingezogen, und Lektüre muß vorläufig das eigene Schaffen ersetzen. Nun sind es die Werke Stifters und die ersten Verse des jungen Hofmannsthal, die ihn fesseln, und an deren klingende Visionen er sich hingibt, bis die Seele „mit ihren elektrischen Energien überladen war“. Diese Stimmen kamen aus Österreich, und wenn der junge Arzt zu einem Kranken ging, der im Österreichischen wohnte, so „durchzuckte es den Sinn: du bist jetzt in Mozarts, Grillparzers und Stifters Heimat, und wenn du diese Straße weiterwanderst, so stündest du eines Tages vor dem Hause des Zauberers, der den .Abenteurer und die Sängerin',

,Das kleine Welttheater', die .Reitergeschichte' und manches unverwelkliche Gedicht geschrieben hat. Wolken, Hügel und Häuser kamen mir dann immer etwas anders vor als hinter den Grenzpfählen“.

In seinem Lebensgedenkbuch „Führung und Geleit“ schreibt Carossa weiter:

Von meinen täglichen Pflichten freilich konnten mir die seligen Dämonen fremder Dichtung nichts abnehmen ...in jener Zeit wurde ich zu einer Patientin gerufen, die mich durch Wesen und Erscheinung so besonders ansprach, daß ich sie mit keiner früheren vergleichen mochte. Ihre Gegenwart ließ mich jedesmal stark fühlen, wie sehr ferne meinem eigentlichen Wollen ich mich dahintrieb. Das junge Mädchen galt als ein schwerer, wo nicht verlorener Fall; ich gab aber nach einigen Untersuchungen diese Meinung auf und überzeugte mich, daß hier eine zarte, durch Arbelt übermüdete Natur nur einiger Pflege bedurfte, um dem Leben gewachsen zu sein. Wir heirateten und zogen auf das Land, und damit war auch meine Gesundung eingeleitet.

Das ist echt Carossa: schmucklos berichtet und nah bei der

Wirklichkeit; eine Lebensentscheidung — und zugleich das Kernerlebnis für das erste Buch des Dichters. Aus täglichen Aufzeichnungen entsteht „Die Schicksale Dr. Bürgers“, das bald als Carossas Opus 1 erscheinen sollte. Dazu kam es durch Vermittlung der beiden von Carossa am meisten verehrten Dichter: Richard Dehmel und Hugo von Hofmannsthal. Über Dehmel schreibt er:

Was dieser drängende, ewig um Klarheit ringende Geist einer suchenden Jugend bedeutet hat, wie er uns führend verführte, wie er uns manches zu schwer, manches allzu leicht machte, welche Mächte man anrufen mußte, um sich ihm zu entwinden, dieses alles im einzelnen aufzuzeigen, wäre auch für die Kommenden lehrreich. In meiner ärztlichen Praxis kehrte ich noch oft zu Dehmel zurück.,.

Hofmannsthal aber war es, der den jungen Dichter an den Insel-Verlag empfahl, der ihm — und dem er — ein Leben lang treu geblieben ist und wo, in einer Gesamtauflage von rund 1,5 Millionen, sämtliche Werke Carossas erschienen sind.

Die ersten Gedichte, 1910; Die Schicksale Dr. Bürgers, 1913; Eine Kindheit, 1922; Rumänisches Tagebuch, 1924; Verwandlungen einer Jugend, 1928; Der Arzt Gion, 1931; Führung und Geleit, 1933; Geheimnisse des reifen Lebens, 1936; Wirkungen Goethes in der Gegenwart, 1938; Das Jahr der schönen Täuschungen, 1941; Aufzeichnungen aus Italien, 1948; Ein Tag im Spätsommer, 1947, 1951; Ungleiche Wehen, 1951; Der Tag des jungen Arztes, 1955; Der alte Taschenspieler, 1956.

Im Insel-Verlag ist auch vor kurzem eine schön ausgestattete zweibändige, von der Tochter des Dichters betreute Dünndruckausgabe mit insgesamt 1918 Seiten erschienen, die sämtliche hier aufgezählten Werke enthält. Damit wird nun zum zweitenmal (die erste, ebenfalls zweibändige Gesamtausgabe ist 1949 erschienen) das gesamte dichterische Opus Carossas vorgelegt, und an ihm wird sich unsere hastige Gegenwart zu bewähren haben.

Carossas Bücher und seine Gestalten sind Sinnbilder der Ruhe und der Ordnung. „Kein Dichter der Gegenwart“, so schrieb bereits 1930 der gebildete, weltläufige national-liberale Literaturhistoriker Werner Mahrholz, „ließ sich mehr Zeit zu seinem Dichten und Denken, keiner verzichtete mehr auf den Ehrgeiz und Ruhm eines Dichters, keiner schuf in dieser Zeit Bleibenderes, Geformteres, Gestalteteres als Carossa.“ Und Mahrholz weist auch schon auf eine immer wieder hervorgehobene Besonderheit des Carossaschen Werkes hin: auf den autobiographischen Charakter seiner Dichtungen, auf die enge Verbundenheit zwischen Carossas Werk und Leben.

Das Phänomen ist nicht selten, und auch hier wandelt Carossa auf Goethes Spur. Das Bemerkenswerte aber ist, daß dies geschieht, ohne daß man je den Eindruck des Epigonenhaften, Maskenhaften oder gar Nachgemachten hat. Wir erleben in Carossas Werk vielmehr eine Wiederauferstehung des Klassischen in unserer Zeit, einer Klassizität ganz ohne Klischee, ohne Pathos und Faltenwurf, frei von jeder Stilisierung, von jedem Formalismus, von jeder Dünnblütigkeit. Dieses „Klassische“, im Sinne der vollkommenen Form, ist bei Carossa, wenigstens zum Teil, durch das romanische Erbe zu erklären. Aber was wäre die vollendete Form ohne Gehalt und Hintergrund? Dieser Dichter hat, wie wenige, ein Organ für das Geheimnis und das Geheimnisvolle. Viel Dunkles und Schweres hat er erlebt. Schon durch seine Existenz als Arzt ist ihm die Welt des Leidens und der Leidenden, des Sterbens und des Todes, wohl vertraut. Die er beschreibt, ist eine Welt „gestreift vom Todeswind“. Sie wird erträglich nur durch den Glauben an „die Mächte“, an eine höhere Vernunft, die das Leben lenkt und den Tod bestimmt, durch den Glauben an die guten Schutzgeister und die alles Dunkle überwindende Kraft des Geistes. Und Aufgabe des Arztes ist es auch, auf das Heilende zu sinnen, sich nicht mit der Diagnose, der Feststellung der Leiden zu begnügen.

Denn wir wagen nur zu singen wenn wir gute Botschaft bringen.

Diese beiden Zeilen stehen am Ende eines Briefes mit dem Titel „Zur Entstehung einer Jugendgeschichte“ und beschließen, sehr kennzeichnend und bedeutungsvoll, den zweiten Band der gesammelten Schriften Carossas.

Trotzdem ist Carossa kein „Harmonisateur“. Sein Sinn und sein Verstehen für die „andere Seite“ des Lebens bewährt sich beispielhaft etwa in der Begegnung mit der Person und dem Werk Alfred Kubins, den er frühzeitig durch die Vermittlung Karl Wolfskehls, kennenlernte. Kubins Welt ist Carossa zunächst fremd, hat er doch bis dahin kaum die Vorgänger des Magiers von Zwickledt — Goya, Breughel, Münch, Odilon Redon und Ensor — zur Kenntnis genommen. Die finsteren, unvertraulichen Visionen machen einen starken Eindruck auf ihn, freilich nicht, ohne sogleich Gegenkräfte zu wecken:

In jener Zeit erwachte mir die Ahnung, daß manche Geister dazu auserwählt sein müssen, in Zwielicht und Finsternis zu herrschen, damit andere ihres hellen Tages froh werden. Ein Künstler mag aber noch so tief im Unheimlich-Phantastischen wohnen: einmal wird es ihm doch nicht mehr genügen, die Träume seiner Nächte festzuhalten. Früher oder später muß ihm die Einsicht zureifen, daß es eine höhere Stufe gibt, ein reineres Verfahren, wo sich die Traumkraft aufsparen will für die Wachheit des Tages...

Ähnlich reagiert Carossa auf die Begegnung jnit der Kunst Thomas Manns:

Schon in meinem fünften Jahr hatte mir die Mutter das Schreiben beigebracht und sehr darauf geachtet, daß ich den Griffel nicht übermäßig scharf spitzte, ihn auch nicht gar zu hart auf die Tafel preßte; daran dachte ich wieder beim Lesen der glänzenden Novelle (Gladius Dei) und fragte mich, ob mir nicht etwa von jenem Schreibunterricht her eine gewisse Schüchternheit des Ausdrucks verblieben sei. In Thomas Manns Darstellung wirkte etwas Dämonisch-Radikales, das zur Nachahmung reizte; mir war, als hätte ich nie eine so funkelnde Richtigkeit der Bezeichnung erlebt, nie einen so unbarmherzigen Willen, die Züge, die jeder gern verbirgt, ans Licht zu kehren.

Zu Hause, in seinem stillen Zimmer, will Carossa die „Aufzeichnungen Dr. Bürgers“, die ihm blaß und vorläufig vorkommen, neu schreiben und das Ganze umformen. Aber bald erkennt er, daß man die Kunstmittel eines Meisters nicht übernehmen kann. Er fühlt, daß der überspitzte Stift nicht das für ihn geeignete Instrument ist und daß /er den von ihm gestalteten Wesen nicht allzu nahe kommen dürfe, ohne sie sich zu entfremden.

Durch solche Vergleiche gelangt Carossa zu einer immer reineren und bestimmteren Erkenntnis der eigenen Art. Da ist zunächst einmal die enge Verbindung der dichterischen Produktion mit dem eigenen gelebten Leben, wozu auch das Hinabtauchen in die Erinnerung, in früheste Lebensphasen gehört („Eine Kindheit“, „Verwandlungen einer Jugend“, „Das Jahr der schönen Täuschungen“). Fast ausnahmslos zeigen Carossas Werke noch ein anderes Charakteristikum: die Verbindung von Meditation und Erlebnis —, kleinen, alltäglichen Erlebnissen, die er aber entweder zu erhöhen oder denen er etwas ganz Besonderes oder Kennzeichnendes abzugewinnen weiß. Im Grunde also ein Verfahren, wie es auch Ernst Jünger anwendet, nur ohne Montagecharakter. Der größeren Wärme und Naturnähe Carossascher Schilderungen steht bei Jünger die technische, zuweilen fast photographische Genauigkeit der Beobachtung gegenüber. Trotzdem auch Carossa die klare, genaue Kontur gelingt, ist immer ein leichter Schleier von Geheimnis um alles, um die Dinge und die Menschen. Es ist dies, wie uns scheinen will, ein Phänomen, das man bei italienischen Landschaften und Bildern beobachten kann, und wer einmal von San Pietro in Perugia in die weite Landschaft Umbriens, etwa Assisi zu, geblickt hat, der wird diese merkwürdige Mischung von Klarheit und schleieriger Ferne kennen. So sind auch die Schilderungen Carossas: fast nie scharf, aber immer genau, plastisch, farbig und richtig. Auch eignet ihnen, besonders bei der Darstellung von Personen, ein Ingredienz, das in der neueren Literatur so selten — und daher umso schätzenwerter — ist: echter Humor. Freilich, die Zeiten waren wenig dazu angetan, ihn spielen zu lassen, und hier wurde eine Quelle verschüttet, aus der noch Ströme des reinsten und gesündesten „humors“ (was ja soviel wie Feuchtigkeit bedeutet) geflossen wären.

Jede Begegnung mit dem Werk Carossas bedeutete und bedeutet Bereicherung und Erhellung. Dies galt besonders für die Zeit, als in der deutschen Literatur, innerhalb und außerhalb der Grenzpfähle des Großdeutschen Reiches, andere Töne im Schwange waren. Es gibt da Erlebnisse, die man nicht vergißt. Es war im dritten Kriegsjahr, in einer Stadt weit im Osten, wo mir eines Tages eine deutsche Buchhändlerin, die mir schon bei früheren Besuchen in ihrem Laden einzelne vergriffene Bände von Hermann Hesse, das George-Buch von Friedrich Gundolf und einmal sogar den Essayband von Thomas Mann „Leiden und Größe der Meister“ zugeschoben hatte, ein Buch vorlegte. „Das müssen Sie lesen, wenn Sie es noch nicht kennen. Und frei verkäuflich, Sie werden sich wundern.“ Es war Carossas Lebensgedenkbuch „Führung und Geleit“. Ich las bis tief in die Nacht und kam aus dem Wundern nicht heraus. Da standen, schon auf den ersten Seiten — lobend, dankbar und respektvoll charakterisiert — die Namen von einem guten Dutzend Schriftstellern und Dichtern, deren Name und Werk damals streng verpönt waren. Aus dem ganzen aber sprach eine humane, konservative, europäische Gesinnung, die gar nicht an der Tagesordnung war. Das bereits 1933 erschienene Buch wurde auch in seinen späteren Auflagen unverändert gedruckt. (Carossas Bedingung lautete: entweder so, wie es ist, oder gar nicht) und mag vielen tausend Menschen ein wahrer Trost und ein offenes Fenster in eine sonst verschlossene Welt gewesen sein. Der unfreundliche Kommentar derer, die alles besser wußten, lautete: Carossa könne sich das eben leisten. Hierüber gibt der Lebensbericht „Ungleiche Welten“, der die Jahre seit 1933 umfaßt, ausführlich, freimütig und mit allen Details Auskunft. Es ist die reifste, menschlich gerechteste — und eben deshalb vielleicht auch die strengste und gültigste — Analyse und Abrechnung mit den tausend Jahren, die nach 1945 veröffentlicht wurde. Carossas Lage war insofern eine besondere — und sein Bericht über diese Zeit ist für uns deshalb von speziellem Interesse — weil er einerseits, als Mensch und Künstler, der ganzen Anlage seiner Natur und seinem bis 1933 geschaffenen Werk nach, so ganz und gar nichts mit der neuen, nunmehr allein gültigen Ideologie vom Menschen und von der Kunst, wie sie die Nationalsozialisten propagierten, zu tun hatte —, und weil er anderseits als einer der wenigen wirklich Bedeutenden und Berühmten sich dafür entschieden hatte, im Lande zu bleiben. Solche Künstler wurden, wenn sie nicht vom ersten Augenblick an offenen Widerstand leisteten, zunächst geschont und umworben, zuweilen auch auf Ehrenposten gesetzt. Welche Schwierigkeiten es für diese damals gab, welche Belästigungen, Zumutungen, Versuchungen, Gewissenskonflikte und Gefährdungen — das ist Leuten, die nur in schwarz-weiß sehen, (schwarz, alle, die im Lande geblieben, und weiß, die emigriert waren) schwer klar zu machen.

Als Arzt gewohnt, Diagnosen zu stellen, erkannte Carossa die neuen Herren zunächst an ihren Reden, ihren Lügen und ihren Fälschungen. An ihm selbst, dem „Führer“, ist Carossa eine gewisse Farblosigkeit unheimlich („man sah solche Physiognomien im österreichischen Grenzlande nicht selten“), die in krassem Gegensatz steht zu den brandroten Plakaten, von denen hysterische Haßparolen herunterschreien, und der Arzt erkennt, daß jene Farblosigkeit die des Nitroglyzerins oder der Schwefelsäure war, doch kann er zunächst nicht glauben, daß einem solchen Menschen, wie einem Rattenfänger, ein ganzes Volk nachfolgen und verfallen könne. Auch will es dem Humanisten nicht in den Sinn, daß in einem Deutschland, wo ein Albert Einstein wirkte, wo ein Martin Buber lehrte und ein Bruno Walter musizierte, eine staatlich gelenkte Judenverfolgung möglich sei. Aber die Zeichen des Unheils mehren sich von Jahr zu Jahr, beunruhigende und beängstigende Veränderungen gehen in eben-diesem deutschen Volke vor, jede Kritik verstummt oder wird zum Verstummen gebracht, und schließlich, nach dem 20. Juli 1944, gleicht ganz Deutschland einem Irrenhaus, jenem ähnlich, das E. A. Poe in seiner unheimlichen Novelle geschildert hat, wo die Patienten die Ärzte und Pfleger überwältigt haben und wo jetzt allenthalben ein fröhlich-makabres Treiben herrscht. Auf der einen Seite ist eine grenzenlose Naivität zu beobachten, und Carossa zitiert den Ausruf eines alten Wiener Weibleins, das beim Einzug der deutschen Truppen, inmitten vieler, in Tränen ausgebrochen sei: „O mei, o mei, de Freid wenn der selige Kaiser Franz Joseph dös no deriebt hätt' “. Oder er denkt an das Nestroy-Zitat: „Weil er uns sonst niederhaut — preisen wir ihn alle laut.“ Auch der vielgepriesene Asket, der auf Ehe und Familienglück verzichtet und allen kleinen Genüssen wie Fleisch, Kaffee, Tee und Tabak entsagt, ist dem Arzt und Psychologen Carossa verdächtig.

Aber eben dieser Arzt im Dichter kann sich mit den äußeren Tatsachen und der Beschreibung des Verhängnisses nicht begnügen, er muß, wie bei einer Krankheit, deren Ursache erforschen und auch das Lösende und Tröstliche bedenken, zumal sich oft eine unbekannte Macht solcher niedriger Werkzeuge bedient, „um zögernde Kräfte zur Entscheidung zu treiben, freilich meist einer anderen als sie meinen“. Carossa schreibt:

„Er (Hitler) war im Verein mit Rosenberg und Himmler entschlossen, gleich nach dem deutschen Siege die christlichen Kirchen aus dem Volkskqrper herauszuschneiden, auch auf die Gefahr des Verblutens hin; aber was ist geschehen? Er hat die Konfessionen, mit denen er aufräumen wollte, zu Läuterung und Selbstbesinnung, ja zur Anbahnung eines gegenseitigen Verständnisses ermutigt. Wie oft, in unserer Jugendzeit, haben wir es bedauert, unsere Kirche, die spirituellste Institution der Welt, zuweilen von ganz ungeistigen Männern vertreten zu sehen! Wenn aber nun heute wieder eine Auslese von Priestern wächst und erstarkt, wie sie noch vor vierzig Jahren nur in Ansätzen da und dort erschien, furchtlose Männer und Jünglinge, brüderlich dienend im Geiste des Urchristentums und nicht zu stolz, um auch auf Stimmen weitlicher Denker zu hören, so haben seine Verfolgungen, durch die er Tausende von Blutzeugen schuf, an dieser Erneuerung mitgewirkt.

Er hat Millionen Juden, Erwachsene und Kinder, töten lassen und dadurch erreicht, daß alle guten Menschen der ganzen Erde sich in grenzenlosem Mitgefühl dem Judentum zuwandten. Ohne sein Wüten gäbe es vielleicht noch gar keinen Staat Israel. Wenn das jüdische Volk den großen Sinn der Stunde erkennt, wenn es durch Verzicht auf Rache der Welt ein Beispiel überlegener Weisheit gibt, so wird ihm die Zukunft einen unverwelklichen Palmzweig reichen.“

Nach den Schrecken des Krieges, dem grenzenlosen Zusammenbruch, tritt das Leben wieder in sein Recht. Carossa hat auch dies noch in der Erzählung „Ein Tag im Spätsommer 1947“ geschildert.

„Sie kamen über den Domplatz, wo schon an der Wiederherstellung zerstörter Gebäude gearbeitet wurde. Die Kathedrale selbst mit ihren drei kupfergrünen von Dohlen umflogenen Türmen stand unbeschädigt; unter den alten Ahornen wehte die geistliche Luft der Jahrhunderte, junge Theologen gingen mit Büchern und Heften zum Unterricht. Weiter unten aber, in den städtischen Anlagen, sprach vieles noch von Kriegsnot und Verwahrlosung ... Hier waren einst seiden gekleidete Frauen, von ihren Sonnenschirmen bunt beschattet, auf bequemen grünen Bänken gesessen ... Nun waren alle Bänke längst in die Öfen frierender Familien gewandert, die Blumen durch Kartoffelstauden ersetzt. Neue kleine Kinder gab es auch jetzt genug, doch viele sahen unterernährt und kränklich aus; wo aber eins besonders gesund und gut gehalten war, da lag die Vermutung nahe, daß es einem der fremden Soldaten zum Vater habe, der die junge'Mutter liebte und für das kleine Leben sorgte. Sutor schien dies zu mißbilligen; Kassian aber meinte, man merke diesen Kindern auf den ersten Blick die Sorglosigkeit und Überlegenheit echter künftiger Weltbürger an: .Betrachten Sie nur einmal das Kerlchen dort, wie es mit nachlässig übergeschlagenen Beinen auf seinem Töpfchen sitzt und den Schneller mit zwei Fingern hält wie eine Zigarette! Nein, man sollte sich über den Zustrom frischen Blutes nicht beklagen.' “ Es ist das Leben, das kleine Leben in jeder Farbe und Gestalt, das Carossa so geliebt und dem er als Mensch, als Arzt und als Dichter ein Leben lang in Treue gedient hat — obwohl oder gerade weil er soviel vom Tod wußte.

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