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Das neuzeitliche Schrifttum in den Niederlanden

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Mit Rücksicht auf den Fremdenverkehr, um der Folklore und der Lokalfarbe willen, fährt im Sommer da und dort wohl noch heute einmal eine „Treckschute” durch Hollands still glänzende Gewässer. Die Treckschute — das war einst das allgemein beliebte Verkehrsmittel der Holländer und blieb auch weiterhin das Symbol einiger typisch nationaler Eigenschaften: gleichmütige Selbstzufriedenheit, bedächtige, lässige Langsamkeit, nüchterne Gediegenheit.

Diese Chärakterzüge, die auch dem Niederländer des zwanzigsten Jahrhunderts noch zur Unzeit gerne einen Streich spielen, hinderten zwar unsere Vorfahren nicht im geringsten daran, bald nachdem sie im Jahre 1648 die Unabhängigkeit der „Niederen Lande” errungen hatten, aus jenem sumpfigen Stückchen Erdboden an der Nordsee eine der ersten See- und Kolonialmächte der Welt zu machen. Desgleichen schienen auch unsere Maler beim erstaunlichen Aufschwung, den die holländische Malerei im 17. Jahrhundert nahm, alle Schwerfälligkeit gründlich abgelegt zu haben. In der Dichtkunst jedoch ging der Ungeist der Zopf- und Treckschutenzeit durchaus viel länger um, als sonst auf irgendwelchem Gebiet im Leben der Holländer. Nach V o n d e 1, dem Prinzen unserer Dichter, der in dem symbolischen Drama „de Leeuwendalers” das Ende „des eeuwigen vorlogs” enthusiastisch begrüßte und wohl auch für die Dichtung ein goldenes Zeitalter gekommen glaubte, hatte unser Schrifttum jahrhundertelang keine einzige Figur von europäischer Geltung aufzuweisen. Erst der Name Multa- tulis (f 1887) steht wieder mit goldenen Buchstaben in der Ehrenliste der Sprach- gewaltigen vermerkt.

Bei der Frage, ob unser Volk in der Neuzeit einen gültigen Beitrag zur europäischen Literatur geliefert habe, sollte man allerdings berücksichtigen, daß ein kleines Land, wie das unsere, mit einer Sprache, die nur in einem beschränkten Raum gesprochen wird, weit zurückstehen muß hinter solchen, denen eine Weltsprache zurVerfügung steht. Unsere Bücher werden in ihrer ursprünglichen Ausgabe nahezu ausschließlich von Landsleuten und Flamen gelesen. (Und eben diese Originalausgabe ist bei der Bewertung von ausschlaggebender Bedeutung, denn eine Übertragung ist selten mehr als ein dürftiger Ersatz.) Demzufolge bleibt manche verdienstliche Leistung im Ausland unbeachtet.

Vondel zum Beispiel findet erst heute einen liebevoll seinem Vorhaben hingegebenen Übersetzer: ein Limburger sieht es als seine Lebensaufgabe an, die Werke dieses großen katholischen Dichters ins Französische zu übertragen und sie somit endlich einem größeren Publikum zugänglich .zu machen. Von G e z e 11 c, dem genialen flämischen Lyriker, kennen wir nur eine kleine Auslese in der vortrefflichen nachdichtenden Eindeutschung von J. Decroos. Multatuli, Johann Hnizinga, Henriette Roland Holst, Anton van Duinkerken würden zweifellos Weltruhm genießen, hätten sie englisch, französisch oder deutsch gesch rieben, indesman sie heute bestenfalls dem Namen nach kennt.

Für unsere Zeit gilt außerdem, was Annie Romein-Verschoor in ihrem knappen, leider etwas einseitigen Literaturabriß: „Allusions et usages — Courants et figures de la lit- terature hollandaise eontemporaine”, den sie im Auftrag des Pen-Zentrums absichtlich für Ausländer verfaßte, als „das große Weh der Dichtung eines kleinen Landes bezeichnet: die Schwierigkeit als Schriftsteller ohne übereilte Produktion ein leidliches Auskommen zu finden”. Dies dürfte der Grund sein, weshalb er sein Werk nur selten bis zur letzten Vollendung ausreifen läßt.

Von der berühmten Reveille der achtziger Jahre, der Erneuerungsbewegung, die rund 1880 einsetzte, kennt man im Ausland höchstens Albert Verwey (t 1937), den Freund und Geistesverwandten Stefan Georges und vielleicht noch Ffederik van Eeden (f 1932). Man ist sich heute wohl darüber einig: die Bedeutung der „Tachtigers” haben unsere Väter weit überschätzt. Es bleibt aber ihr Verdienst, unser literarisches Leben aus seinem selbst- genügsamen Siebenschlaf aufgerüttelt zu haben. Der Geist war plötzlich über unsere Dichtung gekommen. Die Früchte reiften erst einige Jahrzehnte später.

Wir denken in erster Linie an das epische Werk zweier Meister: Arthur van Schendel (f 1946) nnd Aart van der Leeuw (J 1931). Den einen zog es nach Italien, wo er seine besten Jahre verbrachte, der andere flüchtete sich in das Arkadien seiner holden Phantasien. Van Schendel ist auch in seinem Werk ein zwiefacher: der „Italiener” schreibt eine farbige Prosa voll Sonnenduft und südlicher Reize, in den Romanen des „Holländers”, die vom Leben’und Schicksal Unserer Schiffsleute berichten, herrscht ein dumpfer, melancholischer Ton vor, der uns des Nordens trübe Welt vor die Seele ruft. Aart van der Leeuw, ein versonnener, in sich versponnener Träumer, hat im niederländischen Sprachgebiet nicht seinesgleichen. Wir ahnten ehedem kaum den überschwänglichen Farbenreichtum, den dieser Magier nnd Weise aus unserer als matt verschrienen Sprache hervorzaubert. Van der Leeuw berichtet über die ewige Sehnsucht der Deutschen nach dem Süden, über Büchners Lenz, über Gottfried Keller. Das zeigt zur Genüge, wes Geistes Kind er war. Auch als Lyriker hat er Vorbildliches geleistet.

Wer tritt heute das Erbe dieser Erzähler großen Stils an? Simon Vestdijk, der Tausendsassa, hätte durchaus das Zeug dazu. Leider hat sein Werk nicht immer das hohe sittliche Niveau, das aller Dichtung erst den wahren Wert verleiht. Von Jan de H a r t o g h, dessen Roman der Sdilepp- schiffahrt „Hollands Glorie” der größte Budierfolg der Besatzungszeit wurde, gilt das gleiche. Einen gediegeneren, beherrschteren Eindruck macht da schon Den Doo- laard, der uns heuer das Epos von der Trockenlegung der im Kriege überschwemmten Insel Wal ehern schenkte.

Fahren und wandern liegt dem Holländer im Blut. Dieser Trieb spiegelt sich auch im Schrifttum. Indien hält heute mehr denn je eines jeden Interesse rege. Nachdem Mul- tatuli mit seiner schonungslosen, freilich berechtigten Kritik im „Max Havelaar” die Gewissen in unsanfter Weise wachgerüttelt hatte, meldeten sich die Reporter und Berichterstatter serienweise. Augusta de Wit, du Perron, Fabridus, Madeion Szekely Lulofs, Beb Vanijk und viele andere schilderten uns die großartigen Wunder und Schrecknisse der Tropenwelt, die Tugenden und Laster, Hoffnungen und ergreifenden Geschicke der ungleichartigen Bevölkerung. Man erörtert, lobt und tadelt, und — wächst immer mehr auseinander. Albert Helman vertritt die Welt von Surinam, die heute auch wieder von sichtreden macht, während Land und Sprache der uns verwandten Buren in Transvaal (Südafrika) neuerdings zum Studienobjekt vieler Intellektuellen wurden.

Daneben bietet das bunte Leben Europas Stoff zu literarischen Betrachtungen. Den Doolaard wählt Frankreich und den Balkan zum Schauplatz seiner Ausflüsse, Fabricius und das Künstlerehepaar Scharten-Antink (Florenz) bewundern Italien, sind wie einst Couperus, Borei, Kees Meckel, als rastlose Weltenbummler ständig unterwegs und kommen nur nach Hause, um ihre Ernte einzubringen. Zweimal sind wir auch in Österreich zu Gast. Leonhard Huj- z i n g a leistet den Flößern Gesellchaft auf ihrer Fahrt nach Budapest. Mit Marianne Philips dürfen wir uns eine Weile an dem fröhlichen Treiben in Wien erfreuen (in ihrem humoristischen Roman „Bruiloft in Europa”). Kosmopoliten wir, immer noch, weltoffen und überall zu Hause!

Unser Volk liebt aber auch die regionalen Romane, deren beste wohl die des Braban- ters Anton Coolen sind. Wie aus den zahlreichen Übersetzungen hervorgeht („Brabanter Volk”, „Dorf am Fluß” und andere), schätzt man ihn in Deutschland und wohl auch in Österreich nicht weniger als die volkstümlichen Flamen: Streuvels, Timmermans (t 1947) und Claes.

In unserem ländlichen Limburg, das sich der Ehre erfreut, den ersten niederdeutschen Minnesänger Heinrich von Veldeke (f 1150) hervorgebracht zu haben, ist in bescheidener Stille ein rechter Dichter, voll Esprit und Gemüt, am Werk: der liebenswürdige Pater J a c. S c h r e u r s. Er ist in seinen Gedichten der Rüth Schaumann verwandt, der Romantik, dem Mittelalter. Es gibt auch Laienspiele von ihm in der Art Max Melis und sogar urwüchsige Romane.

Eine einmalige Ersdieinung ist Anton van Duinkerken, der über ein reiches, lebendiges Wissen verfügt, ein fruchtbarer Schriftsteller, gewandter Dichter, gewiegter Polemist und noch dazu ein hinreißender Redner ist. Seine Bücher „Verscheurde Christenheid” und ,,Hedendaagse ketterijen”, fesselnde apologetische Auseinandersetzungen, werden viel gelesen. Allgemein beliebt als Publizist ist BernardVerhoeven. Wiederholt nahm er Anteil am deutschen und österreichischen kulturellen Leben. Von ihm haben wir das schöne Essay über die Wiener Schriftstellerin Enrica v. Handel- Mazzetti.

Ein sonderbarer Kauz im feierlich ernsten Dichterwald, ein buntschillernder Schmetterling im dumpfigen Polderland, ist der junge Bertus Aafjes. Das vielumstrittene Dichtwerk „Een voetreis naar Rome” machte ihn mit einem Schlag berühmt und berüchtigt zugleich. Aafjes zeichnete noch das Leben der Maria Sybilla Merian in zarten Pastellfarben. Dann übermannte ihn abermals das Fernweh, und eines Tages sahen wir ihn mit einem fahrenden Zirkus von hinnen ziehen nach… Kairo. Ein bedeutendes Talent auf Abwegen?

Zwei hervorragende Namen als schöner Schlußstein. Ein glänzender Stern am europäischen Geisteshimmel ist gewiß der 1945 verstorbene Johann Huizinga. Als ursprünglicher Geist, Kulturphilosoph und Historiker von hohen Graden, dazu ‘Künstler und eminenter Sprachkundiger, kann er mit Recht ein Universalgenie heißen. In deutscher Übertragung erschienen: „Herbst des Mittelalters”, „Der Mensch und die Kultur”, „Im Schatten von Morgen” und „Homo ludens”. (Siehe „Die Warte” Nr. 10, Seite 2.)

Eine Sonderstellung in unserer Dichtung nimmt die 80jährige Henriette Roland Holst ein. Sie ist nicht nur unsere größte Dichterin, sondern auch eine der edelsten Frauen unserer Geschichte. Nach einem aktiven, höchst bewegten Leben, in dem sie vom Kommunismus zum Christentum kam, ehrt man sie als Apostel der Gerechtigkeit, als Fürsprecherin aller Armen und Enterbten. „Die Not der Menschen läßt mich oft nidtt schlafen”, klagt die gütige „Mutter von der Buisschen Heide”. Bekannt sind die Biographien der ihr ideologisch Nahestehenden: Tolstoi, Gandhi, Romain Rolland. Über ihr Werk urteilte Huizinga: „In späteren Jahren wird man die niederländisech Sprache lernen, um es zu lesen.”

Das Jahr 1948 ist für die Niederlande von außerordentlicher Bedeutung. Königin Wil- helmina wird ihr 50jähriges Regierungsjubiläum feiern, während die Niederlande ihrer 300jährigen Existenz als freier Staat festlich gedenken wollen. Wir erwarten darüber hinaus die endgültige Lösung der vielen schwebenden Probleme. Wenngleich Holland nie wieder die Großmacht werden kann, die es einst war, und wohl auch nimmer das reihe Holland von dazumal, so erhoffen wir doch einen neuen wirtschaftlichen Aufschwung und einen bescheidenen Wohlstand. Hängt davon letzten Endes ja auch das Gedeihen höherer Leistungen ab.

Leider sind wir heute noch weit entfernt vom dringend erwünschten kulturellen Zusammenwirken mit den Ländern Europas, nicht zuletzt auch zwischen dem niederländisch- und dem deutschsprachigen Raum, ein Zusammenwirken, das sich in der Zeit vor 1933 bereits zum fruchtbaren Austausch und zur anerkennenden Würdigung von Literaturerzeugnissen gestaltete. Wir denken, zum Beispiel an das vorbildliche Werk, das R. Lonner 1930 in Deutschland herausgab: „Niederland, ein Buch junger flämischer und holländischer Dichtung.”

Im Geiste eines guten Einvernehmens machen wir hier gerne aufmerksam auf das große Standardwerk „Honderd jaar Neder- land, 1848 bis 1948” von W. van Leeuwen. Es ist eine umfassende Kulturgeschichte, worin audi das Schrifttum, von dem wir kurz berichteten, eingehend gewürdigt wird.

Wenn dieses Buch demnächst erscheint, wehen bereits die Fahnen festlich über Niederland. Und aus den Schallöchern unserer alten Türme klingt es feierlich und ernst zum andachtsvoll lauschenden Volke herab: „Wir treten zum Beten vor Gott den Gerechten.” Da werden alle dankbaren Herzens in „Valerius’ Gedenkklank” en- stimmen.

Hoffen wir, daß man auch im Ausland urteilen wird, daß unsere Leistungen zu Feiern berechtigen.

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