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Der vierte Band des Großen Brockhaus

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Der Große Brockhaus. Sechzehnte, völlig neubearbeitete Auflage in zwölf Bänden. Vierter Band, Fba bis Goz. Wiesbaden. F. A. Brockhaus 1954. 762 Seiten

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Der Große Brockhaus. Sechzehnte, völlig neubearbeitete Auflage in zwölf Bänden. Vierter Band, Fba bis Goz. Wiesbaden. F. A. Brockhaus 1954. 762 Seiten

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Fünf Themen bilden das Gerüst dieses Bandes, um das sich die andern Schlagwörter gruppieren: Film; Frankreich und dessen Kultur; Germanen samt Germanischer Altertumskunde und Germanistik; Geschichte und Geschichtswissenschaft; Goethe.

Die dem Film gewidmeten siebeneinhalb Seiten, denen sich vier Bildtafeln beigesellen, bieten auf knappem Raum eine vorzügliche Monographie des Gegenstandes, an der besonders die Ausführungen über Technik der sprechenden Leinwand und über deren ästhetische, wirtschaftliche Aspekte zu rühmen sind. Weniger erfreulich ist die übliche Vernachlässigung osteuropäischer und asiatischer Dinge, dann die des religiösen Films. Man kommt so nicht zum Bewußtsein, daß neben Hollywood, den skandinavischen Problemstreifen, dem deutschen ' geschichtlichen, psychoanalytischen und sozialen, dem neuveristischen italienischen und dem liebenswürdig ironisch-erotischen oder gesellschaftskritischen französischen Film französische und italienische Streifen über die aufs Irdische herabgreifenden letzten Fragen, dann die wuchtigen Tendenzfilme und noch mehr die gewaltigen historischen Filme der Sowjetunion — wie „Andreas Nevskij"oder „Admiral Nachimov", nicht nur „Sturm über Asien" und „Panzerkreuzer Potemkin"—, daß ferner die wunderzarten indischen Kinoschöpfungen höchste Beachtung heischen.

Die Artikel über Germanen, Germanische Altertumskunde und Germanistik sind behutsam und umsichtig abgefaßt; sie vermeiden anfechtbare Hypothesen, so in der Deutung des Volksnamens, in der Schilderung der Landnahme durch die sich ausbreitenden Stämme, bei umstrittenen Einzelheiten der Kunstgeschichte oder beim Erörtern der gegenwärtigen Lage der Deutschkunde. Ganz hervorragend und zusammen mit der gleich zu nennenden Darstellung der Geschichtswissenschaft wohl die Höhepunkte des Bandes sind die acht Seiten über Goethe, deren Wert durch eine nützliche Chronologie und umfängliche Literaturangaben erhöht wird.

Mit reichem Gewinn lesen wir die gedrängten Darlegungen über Wesen und Art der Geschichte, über das Geschichtsbild — das Schlagwort ist freilich ungeschickt gewählt; man denkt da zunächst an die übertragene Bedeutung — oder besser Historienbild, endlich über Geschichtsschreibung, Geschichtsphilosophie — hier vermissen wir die neuere christliche eines Rene Grousset, Christopher Dawson, Gonzague de Reynold, die sowjetische und die sehr beachtliche indische — und über Geschichtswissenschaft. Un- gemein dankenswert dünkt uns die auf fünfzehn Seiten gegebene Zeittafel zur Weltgeschichte seit dem Jahre 500 n. Chr. Ueber die Auswahl der gebrachten Daten läßt sich begreiflicherweise ebenso rechten wie über die Wertung einzelner Ereignisse. Doch der Wille zu größter Objektivität ist deutlich und gerade heute in hohem Grade anerkennenswert. Nicht minder löblich scheint uns die Universalität der Sicht.

Gerne erstrecken wir unsern Beifall auf die Gesamtheit der siebenunddreißig Seiten, die Frankreich, dessen Geschichte und geistigem Schaffen geweiht sind. Sie bieten eine vortreffliche Gesamtübersicht, an der wir freilich einige Schönheitsfehler zu korrigieren hätten. So schwingt in den Sätzen über die Bevölkerung ein Unterton mit, den wir auch in andern historischen und politischen Artikeln verspüren und aus dem leise, ganz leise die Melodien herausklingen: „Stolz weht die Flagge Schwarzweißrot“ und „Ich bin ein Preuße, kennt Ihr meine Farben". Da lesen wir also von 4Ö0.000 „Italienern" auf Korsika und in den Alpes Maritimes, von 1,400.000 „Deutschen" im Elsaß und in Lothringen. Das eine ist geradewegs falsch, denn man darf das Korsische nicht ohne weiteres als Italienisch ansehen und schon gar nicht die Korsen als Italiener; sie haben das im vorigen Weltkrieg klar bewiesen. Das zweite wäre richtiger so zu formulieren, daß Elsässer und Lothringer zwei deutsche Mundarten zur Umgangssprache haben, neben denen Französisch in ähnlicher Weise Hochsprache ist wie in Luxemburg. Im Abschnitt über Wirtschaft vermissen wir jeden Hinweis auf die Rolle der Finanzaristokratie („les 200 families"). Unter den Zeitschriften sind überflüssige genannt, sehr wichtige übergangen, so „Hommes et Mondes", „Ėtudes", „Tėmoignage Chretien", „Vie Intellec- tuelle", „Europa", „Les Lettres Franęaises", „Esprit", ;,La Parisienne", „La Table Ronde", „Realites". Bei den Ausführungen über die Katholische Kirche hätte die jüngste Entwicklung der Frage der Arbeiterpriester gestreift werden müssen. Zu der, übrigens ausgezeichneten, das Wesentliche gut herausgearbeiteten Darstellung der französischen Geschichte hier ein paar Vorbehalte: die Vorgeschichte der Französischen Revolution wird zu einseitig im üblichen Geist der Linken geschildert; kein Wort über die Rolle der Sociėtes de pensėe und anderer Geheimgesellschaften noch über die fremder Agenten. Der Sonderartikei über die Französische Revolution läßt näheres Eingehen auf die sozialen Hintergründe wünschen. Ein Gleiches gilt für das Erste Kaiserreich, das nicht mit dem veralteten Schlagwort einer „absoluten Militärmonarchie" zu erledigen ist. Erst mit der Julimonarchie beginnt die entsprechende Berücksichtigung der wirtschaftlichen Momente in der politischen Geschichte. Der Ausbruch des Siebzigerkrieges wird in scheinbarer Unbefangenheit berichtet; über die Fälschung der Emser Depesche gleitet man still hinweg. Die rein äußerliche Ursache des Mißlingens der Restauration im Jahre 1875 — Weigerung des Thronanwärters Grafen von Chambord, auf das Lilienbanner zu verzichten — wird statt der tieferen Gründe dieses Scheiterns vorgebracht. An der Darstellung der Dritten Republik stört die ununterbrochene Wiederholung des Slogans „klerikal". Clemenceau erhält einen ihm nicht gebührenden Accent aigu.

In der Bibliographie fehlt die beste kurze Geschichte Frankreichs, von Gaxottc; wir hätten sodann Hanotaux' „Richelieu" und „Histoire de la France contemporaine“, die Geschichten der Restauration und des Zweiten Kaiserreichs von La Goree, Siegfrieds „Tableau des partis en France" unter die unumgänglichen Hilfswerke aufgenommen.

Wohlgelungen sind die Zusammenfassungen der Kunstgeschichte, der Literaturgeschichte und der Philosophie Frankreichs. Wenigstens insoweit Tatsachen berichtet werden. Der Stil aber bewegt sich, zumal beim Bericht vom Schrifttum, in der banalsten Phraseologie der Schulhandbücher älterer Generationen. Dichter stehen nahe, abseits, in der vordersten Reihe und ohne Beisatz, sie bilden, finden und gehören zu, sind kraftvoll, kommen her von, erneuern. Immerhin: die repräsentativen Namen werden aus der unübersehbaren Zahl der Schreibenden herausgeholt. Fehlurteile sind selten, originelle oder auch nur ein- drucksam geprägte aber nicht vorhanden. Kann man einen an sich richtigen, doch nur den geringsten Teil des Wesentlichen aussagenden Sachverhalt kümmerlicher ausdrücken als etwa folgendermaßen: „Der zwischen Kontinenten und zwischen Weltanschauungen hin und her geworfene Andre Malraux gehört zu den stärksten Begabungen und führt hinüber zum Abenteuerroman der Pierre Benoit, Paul Morand und Luc Durtain. Abseits steht der feine, die Technik beseelende Erzähler Antoine de Saint-Exupery.“ Dieser als Adler alleinfliegende, freilich von den scharenweise flatternden Raben sich abseits haltende, von Dämonen und Engeln getriebene Gast aus andern in gar Übeln Zeiten wird da mit einem Bliemchen-Kaffee-Satz abgespeist, der an das Wort einer österreichischen Komtesse vom „guatn ölten Nietzsche“ erinnert. Roger Martin Du Gards „Thibault als das beste französische Romanwerk zwischen den beiden Weltkriegen" zu bezeichnen, und zwar im Namen angeblich allgemein geltender Meinung, ist etwas kühn. Wir können die Bedenken gegen Einzelheiten des Artikels über französische Literaturgeschichte nicht länger vorbringen; dazu gebricht es uns am Raum. Es sei nur im allgemeinen bemerkt, daß zwar, wie schon erwähnt, die Auswahl der Autoren zu billigen ist — wenn wir auch z. B. Estauniė, Abel Hermant, Dujardin in einer so komprimierten Uebersicht ohne Bedenken streichen möchten, anderseits auf Suaręs, Benda und schon gar auf Leon Bloy, Alphonse de Chäteaubriant, Valery, Larbaud, Colette, Jean Giono nicht verzichten wollten —; doch man sieht den Wald vor lauter Bäumen nur schwer. Dem Unkundigen ist es schier verwehrt, aus der verwirrenden Fülle der Namen des ausgehenden 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts herauszuschälen, daß Pėguy, Proust, Gide, Claudel, Valery, Maurras die Eckpfeiler waren, die den stolzen literarischen Bau trugen. Schließlich beklagen wir es, daß zwei so wichtige Unterarten erzählender Prosa, die für die französische Gegenwart bezeichnend sind, der Priesterroman und die, meist mit psychoanalytisch gedeuteter Jugendtragik verknüpfte Auseinandersetzung der Homosexualität, daß ferner die von mannigfachster Seite her ansetzende Kritik der Gesellschaftsordnung im Roman nicht hervorgehoben wurden.

Weil wir beim Kapitel Ergänzungen halten, fügen wir einige Namen hinzu, die wir unter den biographischen Schlagwörtern vergebens suchten: Fernandel, Octave Feuillet, die führenden Politiker Floquet und Flourens, Gaston de Foix, den Intendanten Fouquet, Marschall Franchet d’Esperey, den belgischen Staatsmann Frėre-Orban, die Galigai, General de Gallifet, den Theatermann Gėmier, den belgischen Dramatiker Michel de Ghelderode, Gilbert des Voisins, den Romanisten Paul Girard, den Historiker Gustave Glotz, den Poeten Godoy, General Gouraud, Marschall Gouvion St. Cyr. Soviel über den französischen Sprachraum.

Aus andern Zonen fänden wir gerne den Mediziner Fellinger, den Herausgeber des „Brenner", Ludwig von Ficker, den österreichischen Kommunistenführer Ernst Fischer, den Erzähler Wilhelm Fischer, den liberalen Politiker Fischhof, den italienischen Dichter Lionello Fiumi, den Posener Oberpräsidenten Flotwell, den Historiker August Fournier, den Dichter Ludwig August Frankl, den brasilianischen Poeten Freyre, den ungarischen Ministerpräsidenten Friedrich, den Ophtalmologen Fuchs, den konservativen Führer Victor von Fuchs, den tschechischen Schriftsteller Fučik („Reportage unter dem Galgen"), den bedeutendsten lebenden österreichischen Publizisten Friedrich Funder, die italienischen Schriftsteller Gadda und Gatti, die hispano-amerikanischen Dichter Romulo Gallegos und Gonzalez Prada Manuel, den Wiener Erzbischof Ganglbauer, den rumänischen Erzähler C. V. Gheorghiu, den italienischen Politiker Gonella. Schwerer entschuldbar als die bisher verzeichneten Uebersehen ist das Fehlen der Gallmeyer, des Tiroler Dichters Hermann von Gilm und des österreichischen Staatsmannes Ficquelmont. Ganz unverzeihlich aber dünkt uns die Nichtbeachtung dreier so wichtiger Figuren, wie des k. u. k. Außenministers Goluchowski, des ungarischen Ministerpräsidenten (der sogenannten Trabantenregierung) Baron Fejdrvary und seines österreichischen Kollegen Baron Gautsch, des Initiators des allgemeinen Wahlrechts. Die für Deutschland untadelige, für die angelsächsischen Länder vorzügliche und anderwärts sehr gute Nomenklatur ist in bezug auf Oesterreich und auf das sogenannte Zwischeneuropa ersichtlich unzureichend…

Nun aber Wollen wir nach geschehenen Einwendungen das schuldige Lob im geziemenden Ausmaß spenden. Es gilt zunächst der Ausstattung, den Reproduktionen und den wunderschönen Landkarten, der gegenüber andern Lexika weit ausführlicheren — wenn auch nach Osten hin, wie stets, unzulänglichen — Bibliographie, ferner unter den wichtigsten Wissenszweigen vornehmlich der Technik der gesamten Naturwissenschaft, besonders der Biologie, der Chemie und der

Physik, dir Nationalökonomie, der Soziologie, den Schlagwörtern über Fragen des täglichen Lebens, auch der Politik und, mit den schon angemeldeten Einschränkungen, der Geschichte und der Biographie. Vorzüglich sind die meisten lite- rargeschichtlichen Artikel größeren Umfangs. Schwach ist der theologische und der philosophische Teil.

Schließlich seien noch ein paar besonders gut geratene, längere Darstellungen hervorgehoben: Fernsehen, Finnland, Flugwesen, Garten, Geschütz, Glas, Glasmalerei, Gold, Gotik. Fetner von biographischen Notizen Fichte, Galilei, Giotto, Gladstone, Gluck, Görres, Gottsched. Weniger befriedigend Flaubert und Anatole France (beide überschätzt), Franz II. (ungerecht abschätzig), Friedrich Wilhelm I. und Friedrich der Große (zu sehr im Bann des Friedrichkults; unter der Literatur kein Hinweis auf Hegemann, Gaxotte, Konopczynski), Freud (die gewaltige Bedeutung des, ob auch umstreitbaren und umstrittenen Bahnbrechers, leuchtet nicht hervor).

Wenn wir die verhältnismäßig geringen Schwächen des Monumentalwerks berührt haben, glauben wir, die hohe Qualität seiner Gesamtleistung um so deutlicher herausgestellt zu haben. Besser und überzeugender als leeres und nicht nachprüfendes Lob auf Grund des Waschzettels wird hernach unsere aufrichtige Anerkennung für ein Unternehmen klingen, dessen Mühseligkeiten wir ebensowenig verkennen wie das dennoch Erreichte, auf das der Verlag, die Leitung des Lexikons und die, leider ungenannten, Autoren so zahlreicher wertvoller Beiträge mit Stolz blicken dürfen.

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