6688036-1962_25_11.jpg
Digital In Arbeit

Der Weg der menschlichen Karawane

Werbung
Werbung
Werbung

Der Historiker, noch immer und — bewahrt er seine Echtheit — auf immer mit anderen Maßstäben messend, wird längst verklungenen Ereignissen und Entwicklungen größere Aufmerksamkeit widmen als diesem oder jenem jüngsten Geschehen, wenn das Voreinst wirkensträchtiger war als überlautes neueres Getriebe, als Errungenschaften des Unheils und Verderbens.

Anders der Politiker. Er steht mitten in der Gegenwart, und an ihr ermißt er die Möglichkeiten, die ihm für die Zukunft gegeben sind. Blickt er zurück, dann nur, um aus dem Gewesenen Erfahrung und damit Grundlagen seiner Vorhaben zu holen. Da sind freilich die eben erst vergangenen Jahre die wichtigsten.

Der den letzten 15 Jahren gewidmete zehnte Band der Propyläen-Weltgeschichte ist mindestens im gleichen Grad wie ein historisches ein politisches Werk. Der Herausgeber, dessen anregende Treibkraft überall zu spüren ist, und die meisten seiner zehn durchweg hervorragenden Mitarbeiter blicken auf die Welt von heute von einem Standort her, den wir als „liberal“ im amerikanischen Sinn, als angelsächsisch-deutsch-atlantisch bezeichnen dürfen. Mit einer weltoffencn Duldsamkeit, die freilich, und begreiflicherweise, nach rechts und nach links an den Grenzen zum „Faschismus“ und zum Kommunismus ihre unüberschreitbaren Grenzen findet, hat Golo Mann auch bedeutende Autoren herangezogen, die außerhalb dieses seines weltanschaulich-politischen Raumes beheimatet sind: zwei Franzosen, einen Inder, anderseits einen militanten Katholiken samt zwei dem Religiösen eher nahestehende Glaubensgenossen, einen zum Sozialismus neigenden Inder und einen deutschen Parteisozialisten von Format. Die Wahl aller dieser Teilnehmer am Sammelwerk war glücklich, denn es hat die einheitliche Struktur dennoch bewahrt.

Weniger befriedigt die Ubersetzung der ursprünglich in englischer oder französischer Sprache redigierten Beiträge. Die Übertragung stört durch ihre Schwächen vornehmlich aus zwei Gründen: Sie gibt die stilistischen Vorzüge, die vermutlich, ja zweifellos den .Originalen eignen, nur unzureichend wider, und sie hebt sich von den von -vornherein deutsch abgefaßten Kapiteln nachteilig ab, die alle mit großer, manche mit vollendeter, ungewöhnlicher Wortkunst geschrieben sind. Dafür funkeln die Abschnitte, in denen deutschsprachige Autoren die souveräne Beherrschung ihres Faches in blendender Sprachform und mit unverblendeter Hellsicht bewähren: Carlo S c h m i d („Die zweite industrielle Revolution“), der Herausgeber Golo Mann (in seiner Einleitung, den Kapiteln „1945“ und „Schlufibetrachtung“), Hans Frey er („Gesellschaft und Kultur“), Goetz Briefs („Internationale Gewerkschaftsbewegung“) und Wolfgang Franke („Chinesische Revolution“). Insbesondere die vier ersten dieser Kapitel bezeigen, auf wie hohem Niveau heute die darstellerische Kunst deutschschreibender Historiker beharrt.

Briefs hat zur Bewältigung seines Stoffes alle Voraussetzungen und seine Aufgabe glänzend erfüllt. Bei Carlo S c h m i d trifft dies gleichermaßen zu, doch er bringt dabei eine wohl nur ihm und Theodor Heuss eigene Brillanz mit, die an romanische Art gemahnt. Die historisch betrachtete Entwicklung der Produktion, der Fortschritt von einer gemütlicheren, weniger komfortablen, weicheren zur harten, stählernen, genußgierigen und genußbietenden Welt, die in steter Todesnähe alle Grenzen und wohl gar sich selbst in die Luft sprengen wird, das alles wird in Schmids Expose zu einem spannenden Epos des mitunter wohligen Grauens. Man liest es mit unverminderter Bewunderung vom ersten bis zum letzten Satz, und man ist schon von ebenjenem ersten Satz gefangen, in dem der parteimäßige Marxist bekennt, es gäbe wahren Fortschritt nur auf technischem Gebiet. Womit für untechno-romantisch veranlagte Menschen bereits gegeben ist, daß sie überhaupt einen ethisch oder überhaupt wertmäßig gefärbten Begriff des Fortschritts leugnen. Denn „was nützte es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne, an seiner Seele aber Schaden litte“?

Wiederum mit gleichbleibendem Entzücken erfreuen wir uns an der imponierenden Gesamtschau des Münstcraner Professors Hans Frey er. Die Seelenlage unserer Zeit in ihrem Ausdruck durch geistige und materielle Kultur darzutun, Wissenschaft, Künste, Dichtung einzu-beziehen, das Sichtbare zu bewältigen und das Verhehlte auszubohren, das Währende vom sich Verflüchtigenden zu scheiden, über Ideologie und Sprache, Film und Konsum — um nur einiges zu nennen — Schätzbares, oft aber Neues und manchmal Entscheidendes auszusagen: Das trifft so bald kein zweiter gleich gut und keiner besser.

Golo Mann streut geistreiche Einfälle nur so umher, charakterisiert mit ein paar Worten historisch gewordene Persönlichkeiten und läßt uns nur bedauern, daß er nicht selbst eines der eigentlichen Kapitel übernommen hat.

Auf dem seinem Standort entgegengesetzten Punkt einer umfänglichen Skala erscheint die gediegene, solide Arbeit Professor Wolfgang Frankes. Sie ist in viel stärkerem Grad Geschichte im Rankeschen Stil als die bisher besprochenen Kapitel Carlo Schmids, Briefs', Freyers, Golo Manns. Gleich ihnen greift der unübertreffliche Kenner chinesischer Dinge auf die unmittelbaren Vorläufer einer stürmischen Entwicklung zurück. Auch Jacques Freymonds „Atlantische Welt“ atmet den Hauch großer Geschichtsschreibung aus. Diese illusionslose Uberschau ist voller glänzender Formeln und kluger Einsichten; so heißt es da, die „Atlantische Welt“ sei politische Konstruktion, doch keine natürliche Gegebenheit. Als rühmlichen Vorzug dieses Kapitels stellen wir ferner fest, daß Freymond die seltene Gabe hat, jüngste Entwicklungen als pragmatische Geschichte zu erschauen und dabei nicht nur die Zusammenhänge in chronologischer Folge aneinanderzureihen, sondern auch sie genetisch und kausal miteinander zu verknüpfen, das Wesentliche vom Sekundären. Ephemeren zu trennen. Er scheut endlich nicht vor Urteilen zurück, deren entschlossene Sicherheit uns sogar dann erfreut, wenn wir — nicht häufig — anderer Meinung sind.

Hubert H e r r i n g kennt zwar, was auf jeder Seite dem Kundigen bestätigt wird, seinen Stoff aufs beste, wählt aber daraus willkürlich und ohne die nötigen Proportionen zu beachten. Schade auch, daß die vielen treffenden Urteile durch die Lieblosigkeit des Autors gegenüber seinem Thema und durch die mangelnde Konstruktion der Darstellung sehr beeinträchtigt werden.

Leider läßt auch der Abschnitt, den der bekannte indische Diplomat Kavalam Madhava P a n i k k a r übernommen hat, manchen Wunsch offen. Wir beklagen es nicht so seht, daß da in verstärktem Grad statt eigentlicher Geschichte ein — übrigens in dieser seiner Eigenschaft ausgezeichneter — politischer Traktat vorliegt, als daß in diesem Urteil Stoffauswahl und Bericht einzig im Dienst weltpolitischer Thesen beharren. Panikkar macht dem Kolonialismus einen nachträglichen — o wie nachträgerischen — Prozeß, und er tut ein gleiches gegenüber vom europäischen, imperialistischen Joch Mitbefreiten, wenn diese den speziellen indischen Auffassungen in die Quere kommen, wie vor allem Pakistan. Der Autor bezeigt über die jüngste Vergangenheit seines Vaterlandes eine allseitige und eindringliche Kenntnis der geistigen, politischen, wirtschaftlichen Verhältnisse. Dem verdanken wir ein zwar einseitig die Auffassung der Nehruschen Kongreßpartei widerspiegelndes, doch fesselndes, originelles und wertvolles Bild der neuesten indischen Entwicklung. Das Zerrlied Pakistans aber ist abzulehnen. Das im eiligsten Flug erhaschte Panorama der arabischen Welt scheint uns unzureichend und viel zu gedrängt, um auf die wichtigen Probleme dieses so bedeutsamen Kulturkreises einigermaßen gründlich zu sprechen zu kommen. Völlig danebengeraten sind die impressionistischen Farbflecken, aus denen wir uns ein Bild über die — vielleicht noch wichtigere — neueste Geschichte Afrikas machen sollen.

Wiederum eine Enttäuschung, und zwar eine schwerere denn Panikkars, als politischer Versuch immerhin bedeutende Philippika wider die Imperialisten und Kolonisatoren, ist das Kapitel des Trägers einet berühmten Namens und einer umstreitbaren Tradition, Hugh Seton-Wat-s o n, Professor für russische Geschichte an der Londoner Universität. Seine Durchdringung des Stoffes — der Geschichte der Sowjetunion und der Volksdemokratien Europas (außer der DDR) —, sein ehrlicher angelsächsischer Wille zu Fairneß und Gerechtigkeit, seine fachliche Qualifizierung bleiben außer Diskussion. Doch mit dieser seiner Arbeit verhält es sich umgekehrt wie mit der Panikkars. Der Historiker Seton-Watson wird hohen Anforderungen gerecht; doch seine politischen Urteile vertragen nur zu oft keine Uberprüfung. Aus Scheu vor apodiktischer Bewertung begnügt er sich ungezählte Male mit einem „vermutlich“, „wahrscheinlich“, „vielleicht“. Da loben und lieben wir eher Freymonds selbstsichere Unbescheidenheit. Zumal, da Seton-Watson in mehreren zentralen Fragen mit Erklärungen aufwartet, die keineswegs unwidersprochen bleiben können. So bei den Erhebungen Polens und Ungarns vom Oktober 1956 (S. 213).

Raymond A r o n erörtert — grundgescheit, allseitig unterrichtet, eigenständig wie immer, streitbar und bestreitbar, doch anregend — die Weltdiplomatie, ihre Fronten und Pakte. Er malt eine „absolute“ Diplomatie, die zum Gleichgewicht des Schreckens und der Abschreckung geleitet, die vor ihrer eigenen Courage Angst und vor Feigheit keine Furcht hat. Doch sein Zukunftsbild klingt aus in die optimistische Voraussage, daß man endlich, unter dem Eindruck segensreichen Schreckens und widerwillig dem Guten dienender Abschreckung, sich einem Zeitalter des Verzichts auf selbstmörderische Gewalt nähere. Jeder Gewalt abzuschwören, wie das pazifistische Träumer erhoffen oder Propaganden zu erhoffen vorgeben, das unterläßt der sehr real veranlagte Aron.

Ein letztes Kapitel hat den christlichen Existentialisten Gabriel Marcel zum Verfasser. Es handelt vom „Religiösen Denken in der heutigen Welt“. Wir haben dieser hochgesinnten und seelisch bereichernden Analyse nur einen — freilich ernsthaften — Vorwurf zu machen: daß sie zu kurz geraten ist. Plötzlich besinnen wir uns darauf, daß die letzte Folgerung aus dem, zunächst an eine Art geistigen Katzentischlein verbannt scheinenden, Rechenschaftsbericht über das religiöse Denken in unserer Zeit völlig übereinstimmt mit dem Endergebnis, durch das Golo Mann seine Schlußbetrachtung zu diesem zehnten Band seines Sammelwerkes und dieses als ein Ganzes krönt: „Nicht wie von selber, oder weil sie vergleichbaren materiellen Existenzbedingungen zustreben

— wenn sie ihnen zustreben —, werden die großen Gesellschaften und Machtzentren, jene, die heute schon auf ihrem Höhepunkt halten, und die. im Entstehen begriffenen sich vertragen. Vertragen ist nur, wo Verstehen, Verstehen nur, wo Treue und Glaube ist. Treue und Glaube ist nicht ohne Glauben. Darum wird Religion des Menschen wichtigstes Anliegen bleiben; sein im schärfsten Sinn des Wortes praktisches, wie sein tiefstes und letztes. Findet er keinen transzendierenden Glauben, der ihn eint, im Suchen und in der Demut, so wird er Krieg führen, gleichgültig unter welchen Formen und Decknamen. Sein Vorstoß in den kosmischen Raum, gedankenlos, prahlerisch und blasphemisch, das Schleppen seiner Waffen und Hoheitszeichen und Zwiste auf fremde Sterne, wird dann in wohlverdienten Katastrophen enden.“

Das hat ein anderer Historiker, unseres Erachtens der größte unseres Jahrhunderts, Rene G r o u s s e t, als Schlußpunkt seiner welthistorischen Betrachtungen gesetzt, mit kürzerer, eherner Prägnanz: „Ave Crux, spes unica.“ „Sei gegrüßt, o Kreuz, o einzige Hoffnung!“

Uns eine als Gesamtleistung beglückende, großartige Beschreibung des Weges der „menschlichen Karawane“ von der Urzeit ihrem unausweichbarem Ziel entgegen und bis zum Haltpunkt in unserer Gegenwart geschenkt zu haben, dafür sei Golo Mann und seien die Mitarbeiter des gewaltigen Vorhabens, auch aus Anlaß des Erscheinens des zehnten Bandes, der hier offen dargelegten Angriffspunkte ungeachtet, herzlich bedankt und, wie es sich ziemt, gerühmt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung