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Grundsätzliches zu einem literarischen Wegweiser

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Wegweiser durch die moderne Literatur in Oesterreich. Von Heinz Kindermann. Oesterreichi- sche Verlagsanstalt, Innsbruck. 127 Seiten

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Wegweiser durch die moderne Literatur in Oesterreich. Von Heinz Kindermann. Oesterreichi- sche Verlagsanstalt, Innsbruck. 127 Seiten

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Als einer der Vielzuvielen — die sich und ihr schriftstellerisches Eigentum so gerne mit dem Beiwort des einzigen versehen — Karl Kraus, den wahrhaft Unvergleichlichen, um Rat bat, welch ein Buch der Frager veröffentlichen sollte, auf daß es Nutzen bringe, da antwortete der Herausgeber der in geistiges Flachland und in scheingeistige Untiefen erbarmungslos hineinleuchtenden „Fackel": „Schreiben S’ a Telephonbuch." Ein Telephonbuch hat ohne Zweifel viel Nutzen. Ein Wegweiser nicht minder, vor allem, wenn er nicht nur Wege weist, sondern auch weg-weist von Stätten, an denen schlechte Geistesnahrung dargeboten wird. Er soilte die Empfehlenswerten je nachdem mit ein, zwei, drei und mehr Sternen bedenken, für Außerordentliches müßte die Bezeichnung „hors classe" oder „überdurchschnittlich" gewählt werden, wie bei Hotels und Restaurants. Begreiflicherweise vermag der Verfasser des Wegweisers sein Urteil nicht überall auf eigene Erfahrung zu gründen. Er ist also dazu genötigt, sich auf die Meinung anderer zu verlassen; wohl ihm, wenn er dabei auf geschmacksichere Gourmets stößt und nicht etwa auf Gourmands, die ebenso Vatel in jedem Sudelkoch sehen wie erotisch überhitzte Helenen in jedem Weibe

Doch nun ein zweites: Der Führer, dessen Nützlichkeit nicht minder unbestreitbar ist wie die des Verzeichnisses der Fernsprechanschlüsse, sollte sich darauf beschränken, Namen und Adresse,

Beruf und dazu die besonderen Kennzeichen derer zu melden, die ins Netz gehören. Bei einem Literaturlexikon also wären alle, die auf den Fernruf der Musen zu erreichen sind — kühl, sachlich und, um Raum zu sparen, unter Verwendung konventioneller Sigeln —, in alphabetischer Reihenfolge zu bringen; wobei es da noch unbenommen bliebe, ja sogar erwünscht wäre, ein Branchenverzeichnis, ja mehrere nach Sparten geordnete Register anzureihen, was zum Beispiel Kutzbach in seinem Deutschen Autorenlexikon getan hat. Es ist ebenso überflüssig, ästhetische oder moralische Wertungen beizufügen, wie in einem Telephonbuch; zumal in einer Schrift, die auf 127 Seiten 607 Autoren behandelt, kein Platz dazu ist, einen jeden wirklich zu porträtieren und die Charakteristiken dazu ausarten müssen, daß die Geringeren irgendwie mit den plattesten, wenn auch schmük- kenden Beiwörtern als „feinsinnige Lyriker", als mit Formgefühl begabt, als „geschult an" bezeichnet werden, daß sie im Bannkreis stehen, in eine Reihe oder dazu gehören, eindringlich schildern, sich gegen starre Formen auflehnen, Aufsehen erregen, umreißen und was dergleichen dichterische Tätigkeiten mehr sind. Wenn nun der Platz in einem an sich sehr brauchbaren Namenkatalog an derlei Wertungen der Mitglieder eines Unrats der Fünfhundert verschwendet wird, die morgen schon in die tiefe Nacht der Vergessenheit hinabgesunken sein werden, dann ereignet sich als unabdingbares Gegenstück dazu, daß die Anciens, die wenigen Bleibenden, ebenfalls mit abgeklapperten liturgischen Hymnen aus einer schwarzen Buchhändlermesse erledigt werden müssen, die um ein paar Leitworte — Meister, Erlebnis, vollkommen, vollendet, Sprachgewalt — kreisen.

Es gibt keinen Ausweg aus einem zwingenden Dilemma: Will man Vollständigkeit oder wenigstens Reichhaltigkeit und ein Nachschlagewerk erstreben, in das man auf Grund der .bloßen Tatsache des Erscheinens auf dem Markt der literarischen Eitelkeiten Einlaß findet, dann heißt es entweder den „Kürschner" nachahmen bzw. dessen rein bibliographische Angaben durch nüchtern biographische ergänzen und dazu, was sehr unsere Anerkennung verdient, eine allgemeine Einleitung mit Richtlinien geben, die zu Kunstrichterlinien des Führers werden dürfen, und die jeweils ein Bild der Epochen und der Gruppen eines Schrifttums skizzieren. Oder es soll grundsätzlich Urteil und sichtende Auswahl geschehen, dann wünschen wir eine Literargeschichte, bei der wir auf Namenkataloge der Unbeträchtlichkeiten verzichten, für die Ueberragenden aber den ihnen gebührenden Platz begehren.

Professor Kinder mann, dessen Bedeutung als Theaterforscher wie überhaupt als Literaturhistoriker allbekannt und anerkannt ist, hat Unrecht gehabt, bei seinem „Wegweiser" nicht einen der beiden eben genannten Wege konsequent zu beschreiten. Es hätte gewiß einer großen Entsagung bedurft, wenn er, der Sachkundige, ein farbloses Lexikon der in Oe-terreich Schreibenden veröffentlichte, das sich freilich auf die optimistisch als Schöne gerühmte Literatur beschränkte. Die Nützlichkeit wäre dennoch vorhanden und der eines Telephonbuchs vergleichbar. Dann müßten fre’lich die stereotypen Beiworte fortgelassen sein und es wäre für das Bibliographische größere Ge nauigkeit zu fordern. Stichproben haben etwa folgendes enthüllt: Es fehlen bei den Pseudonymen Gütersloh, Salten, Roda-Roda, Terramare die bürgerlichen Namen dieser zum Teil Adeligen und der adeligen eines der hier bescheiden Bürgerlichen. Ödön v. Horwath heißt richtig Horvath. Leopold Freiherr v. Andrian-Wer- b u r g, der als lebend angeführt wird, ist am 19. November 1951 zu Fryburg gestorben. Es wäre bei ihm anzugeben gewesen, daß er durch die Mutter Enkel Meyerbeers war und 1938 nach der Schweiz emigrierte. Dagegen ist er nie „Generalgouverneur von Polen" gewesen, sondern bis 1914 k. u. k. Generalkonsul in Warschau, hernach Leiter des Departments V im k. u. k. Außenministerium und endlich dessen Vertreter beim k. u. k. Generalgouvernement in Lublin. Bei Adrienne Thomas hätte erwähnt werden müssen, daß sie Gattin des bekannten sozialistischen Politikers Julius Deutsch ist. Von einem Aütor wird gesagt, er sei „Sekretär der österreichischen UNESCO". Wir haben bisher von einer „österreichischen UNESCO nichts gehört. Uebel ist dem armen Friedrich Heer mitgespielt worden. Ihm, dem am 10. April 1916 Geborenen, wird 1913 als Jahr seines Einzugs in dieses Jammertal zugeschoben; sein Pseudonym Gohde wird metathetisch zu Ghode, aus der „Europäischen Geistesgeschichte" wurde eine „Kulturgeschichte". Auf Lücken möchten wir nicht verweisen. Es fehlt ja kein Wesentlicher, und über eine grundsätzliche Angelegenheit, wie das Nichteinbeziehen der Literaturkritiker, der Publizisten und der wortkünstlerisch hervorragenden wissenschaftlichen Prosa — deren Vertreter nur dann Gnade finden, wenn, sie sich auch uf belletristischem Gebiet versucht haben —, über diese im deutschen Sprachraum von jeher anders als bei den romanischen Völkern beantwortete Frage läßt sich ja streiten.

Dagegen drängt es uns, nachdem wir im Namen der verpflichtenden Aufrichtigkeit mancherlei Vorbehalte eingestanden haben, die ausgezeichneten kurzen Einleitungen zu rühmen, die Professor Kindermann, hier seine Kompetenz und seine Urteilskraft bewährend, den drei Perioden vorausschickt, in die er den Zeitabschnitt seines Wegweisers ‘ gliedert. Einwände regen sich freilich wieder gegen die Einteilung innerhalb der Kapitel („Jahrhundertwende", „Zwischen den Weltkrie- gen", „Gegenwart"). Ein strenges methodologisches Gebot verlangt, daß Gliederungen nach einheitlichen Gesichtspunkten zu machen sind. Es wäre nicht sehr passend, sagen wir, die Bewohner einer Stadt in Männer, Rothaarige, Sozialisten, Besitzer von Fahrrädern und Antialkoholiker einzuteilen. Etwas Aehnliches dünkt uns aber vorzuliegen, wenn der Verfasser die erste Epoche also zerlegt: „Impressionisten und Neoromantiker",

„Heimatkunst und Sozialdichtung", „Als Sozialdichter treten hervor", „Die Vielgelesenen und Vielgespielten". Einmal entscheidet hier die ästhetische Methode (Impressionismus, „Wie ich es sehe"), ein zweites Mal die philosophisch-weltanschauliche Haltung (Neuromantik, also das Streben nach dem Unendlichen — in Strichs Terminologie —, zusammen mit Neigung zum idealistischen Monismus, und zwar in gegenüber der älteren Romantik erneuten Form), ein drittes Mal das Stoffliche (Heimatkunst, Sozialdichtung), in Verbindung mit politischer Tendenz, ein viertes Mal — ja wodurch unterscheidet skh das Hervortreten als Sozialdichter von der Zugehörigkeit zur Sozialdichtung? Und ein fünftes Mal wird zum Kriterium der äußere Erfolg beim sogenannten breiten Publikum. Bei dieser Aufspaltung werden die Dichter dann in eine sonderbare Gemeinschaft gepreßt, die aus ihnen hernach das bereitet, was man in Frankreich „une salade" nennt und was wir frei als „Gemischten Aufschnitt" übersetzen können, der gemischte Gefühle auslöst. Denn was haben zum Beispiel Karl Kraus und G i n z k e y, was haben Rilke und K r a 1 i k, was Schau- kal und Terramare miteinander gemeinsam (wobei wir das Einordnen in eine, wenigstens dem typographischen Bilde nach, einheitliche Rangordnung beiseite lassen) ? Man denkt bei der lei Zusammenstellung an eine Szene aus Nestroy, wo der traurige Held die Aehnlichkeit eines Stubenmädchens mit seiner Gattin herausschluchzt: „Diese Aehnlichkeit, sie hat auch ein Gesicht." Die zweite Epoche liefert uns noch stärkeren Grund zu Bedenken über Gliederung und Einordnung.

Da kommen zunächst die „Kräfte der Tradition". Nicht ohne Kopfschütteln treffen wir unter ihnen Franz Blei, den „Abt der Roten Garde" (Karl Kraus scripsit), und Andreas L a t z k o, betrachten wir die Nachbarschaft Paul Stefans und Erika Spann-Rheinschs. Jetzt wird sofort das Steuer umgeworfen und statt daß, wie erwartet, nun die Kräfte des Umsturzes daherbrausen, erscheint die „Dichterische Weltbildgestaltung" (als ob derlei nicht auch von Kräften der Tradition und der Revolution betrieben würde), und da hausen beieinander die gute Dolores Vieser neben Rudolf K a ß n e r, Martin Buber .neben Burghard B r e i t n e r. Nochmals scharfe Wendung. Nun ist’s wieder das Aesthetische, dem Maß und Wert gehorchen: „Ausdruckskunst". Die meisten dort Domilizierten haben hier wirklich Wohnrecht; doch was machen hier Jakob Wassermann, der übrigens in die vorige Periode gehört, und gar der im Gegensatz zu Dutzenden weit minder Gültigen zu Kleindruck verurteilte Winterholler, wenn je einer, der typische und kräftige Traditionshüter? Nächste Gruppe: „Radikale und Idealistische Sachlichkeit." Wir meinten, radikal sei Gegensatz zu gemäßigt und idealistisch zu materialistisch, doch das ist Nebensächlichkeit. Hauptsache bleibt, daß Polgar, Kolbenheyer und Musil, J e 1 u- s i c h, Ernst Lothar, Ferdinand Bruckner und Waggerl, Horvath und Zernatto unter eine, offenbar halb rot, halb braune und ein bisserl rotweißrote Mütze gesteckte Brüder in Apoll, so zueinander sich fügen wie in den Rezepten wilhelminischer Hausmannsküche die Ingredienzien von Kaisers Jagdessen, wie Champagner mit Weißbier, Sodawasser und Oel. Hierauf: „Landschafts- und Sozialdichtung." Land schaftsdichtung kann also offenbar nicht den „Kräften der Tradition" entspringen, noch Aus druckskunst sein, noch radikale oder idealistische Sachlichkeit. Sozialdichtung ist mit radikaler Sachlichkeit unvereinbar. Plötzlich wird die klassenmäßige Abkunft zum Einteilungsgrund; denn aufmarschieren die „Arbeiterdichter", sieben an der Zahl. Und den Reigen beschließen die Vielgelesenen und Vielgespielten, von S 1 e z a k zu F r i e d e 11, von Hans Müller zu Kisch, von Vicky Baum zu Renke r. Hier, an der Schwelle der „Gegenwart", wollen wir Abschied von unserem Führer nehmen. Mit tiefer Betrübnis, daß er nicht immer recht hat; daß ein Gelehrter vom Rang Kindermanns nicht ändern, Geringeren die dornige Aufgabe überlassen hat, ein Telephonbuch der österreichischen Literatur zu schreiben und daß nicht e r eine wahrhaft kritische und mehr die Proportionen als den Proporz beachtende Geschichte und Wertung der letzten beiden Generationen unserer Dichtung beschert hat. Dürfen wir hoffen, daß er diese dankbarere Arbeit leisten werde? Dann wird sein „Wegweiser" dafür ein nützlicher Behelf sein, und das ist er, trotz allem, auch heute schon, wenn er, mit gebotener Vorsicht, zu einer ersten Orientierung oder zur Bestandsaufnahme herangezogen wird.

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