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Kein zuverlässiges Literaturlexikon

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Mangelnde Zuverlässigkeit ist auf den verschiedensten Gebieten ein Zeichen unserer Zeit. Im politischen Leben werden Versprechungen nicht gehalten, im technischen Bereich bewirken Nachlässigkeiten der Konstrukteure und Aufsichtsorgane Katastrophen in Atomkraftwerken, im Bauwesen, im Flugverkehr, „menschliches Versagen" verursacht Unfälle im Eisenbahnbetrieb, auf Autobahnen und in Krankenhäusern. Und wie sieht es bei der Information in geistigen Bezirken aus? Kann man sich immer auf das verlassen, was einem in Büchern, auch in sogenannten Sachbüchern, vermittelt wird? Schon die Sprache läßt zunehmende Verwahrlosung erkennen, von Rundfunk und Fernsehen angefangen bis zu den Zeitschriften und Zeitungen. Schnitzer und Schlampereien allenthalben, selbst in wissenschaftlichen Werken, wenn man nur an die häufigen Zitatfehler denkt, die einem immer wieder begegnen.

Man sollte meinen, daß ein Lexikon von derartigen Vorwürfen ausgenommen sein müßte. Wenn man „Knaurs Lexikon der Weltliteratur" (Droemersche Verlagsanstalt, München/Zürich 1979) zur Hand nimmt, wird man eines anderen belehrt. Von Zuverlässigkeit kann hier wirklich nicht gesprochen werden. Der Herausgeber Diether Krywalski (mit zwölf weiteren Autoren Mitarbeiter diverser Artikel) sagt im Vorwort, es solle dem Interessenten mit diesem Werk „ein Orientierungsmittel gegeben werden, das ihm über erste Informationen einen Zugang zur Literatur schaffen kann". Orientierungsmittel aber müssen klar, Informationen eindeutig sein. Das alte Sprichwort „Errare humanum est" darf zu allerletzt einem Lexikon zur Entschuldigung dienen, denn die Antworten, die dem Frager und Benutzer gegeben werden, können oft nicht verantwortet werden. Hier wiegen Fehler doppelt schwer. Greifen wir zum Beweis markante Fälle heraus!

Genauigkeit in den Werktiteln müßte bei einem Literaturlexikon die mindeste Voraussetzung sein. Doch da beginnt bereits die Misere. Einige Beispiele:

Theobald Hoeck: „Gedichte des Schönen Blumenfelds" (statt „Schönes Blumenfeld"). Friedrich Theodor Vischer: „Lyrische Gesänge" (statt „Lyrische Gänge"). Nikolaus Lenau: „Savanarola" (statt „Savonarola"). Enrica v. Handel-Mazzetti: „Stephan Schwertner" (statt „Stephana Schwertner") und „Meinrad Melmpergers denkwürdiges Jahr" (statt „Meinrad Helmpergers denkwürdiges Jahr"). Franz Kranewitter; „Michael Gaißmayr" (statt „Michel Gaißmayr"). Walter Jens: „Die rote Rose" (statt „Die rote Rosa" - bezieht sich auf Rosa Luxemburg).

Ob ein Werktitel mit oder ohne Artikel angeführt wird, darf nicht dem Belieben des Lexikonschreibers überlassen bleiben, hier muß schon dem Autor Rechnung getragen werden. Auch davon mehrere Beispiele. So wird der Artikel in folgenden Fällen weggelassen, wo er hingehörte: Adalbert Stifter: „Hagestolz", „Waldsteig", „Nachsommer" (statt jeweils „Der Hagestolz", „Der Waldsteig", „Der Nachsommer"). - Wilhelm Hauff: „Mann im Mond" (statt „Der Mann im Mond"). - Rainer Maria Rilke: „Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke" (statt „Die Weise ...").

Dagegen wird ein Artikel hinzugefügt, wo er wegzubleiben hätte: Jean Paul: „Der Titan" (statt „Titan"). - Richard Wagner: „Das Rheingold", „Die Walküre" (statt „Rheingold", „Walküre"). -Knut Hamsun: „August der Weltumsegler" (statt „August Weltum-segler"). Josef Martin Bauer: „Der Kranich mit dem Stein" (statt „Kranich mit dem Stein").

Auch bei vielen Daten sind Fehler zu verzeichnen. So lautet der Name des Geburtsortes von Robert Michel nicht „Chaberovice", sondern „Chabefice". Joseph Roths galizi-sche Heimat Schwabendorf liegt nicht bei „Brodny", sondern bei „Brody". Die Mystifikation bei H. C. Artmanns Geburtsort müßte sich schon herumgesprochen haben: Ein St. Achaz am Walde gibt es nicht, Artmann ist in Wien geboren. Das Fernsehspiel von Walter Jens „Die rote Rosa" (nicht „Rose", wie schon vermerkt) ist nicht 1976, vielmehr schon 1966 entstanden. Todesdaten sollten konsequent ergänzt werden. Ernst Scheibelreiter z. B. ist am 3.3.1973 verstorben, was ein 1979 erschienenes Literaturwerk schon verzeichnen könnte; es ist in ähnlich gelagerten Fällen auch geschehen.

Niemand wird verlangen, daß ein Literaturlexikon angibt, wieviele Fassungen es von manchen Dichtungen gibt. Wenn man dies aber tut, dann muß es stimmen: So existieren von Stifters „Die Mappe meines Urgroßvaters" vier Fassungen, nicht drei, wie der Bearbeiter behauptet. Von Gottfried Keller werden die Novellen „Die Leute von Seldwy-la". und „Romeo und Julia auf dem Dorfe" angeführt. Jedem gebildeten Leser dürfte bekannt sein, daß die zweitgenannte Erzählung in dem Sammelband der „Leute von Seldwyla" enthalten ist.

Wenn von Hermann Bahrs Theaterstücken gesagt wird, daß dort „besonders expressionistische Ausdrucksweisen wirken", so wird jeder Kenner solche Feststellung als unsinnig zurückweisen.

Franz Theodor Csokors Drama „Dritter November 1918" hat mit Expressionismus und Strindberg überhaupt nichts zu tun.

Bei Hermann Sudermann heißt es: „Weltruhm erlangte er mit der Tragödie .Johannes' (1898)." Wenn man bei Sudermann schon von Weltruhm sprechen will, so war dieser nach den großen Bühnenerfolgen von „Ehre" und „Sodoms Ende" längst vorbei.

„Schutt" von Anastasius Grün ist kein Epos, sondern ein aus vier Teilen und einem Epilog bestehender Gedichtzyklus.

Beim Artikel Weinheber liest man: „... vagabundierte ... bis 1932 umher, wurde Postbeamter..." Auch das stimmt nicht. Weinheber wurde schon 1911 Postbeamter und blieb in dieser Stellung bis zum selbstverlangten vorzeitigen Ruhestand im Jahre 1932; von da an arbeitete er intensiv an seinem Werk.

Der Erzähler Friedrich Huch ist nicht der Bruder, sondern der Vetter der Dichterin Ricarda Huch;

Bei Arthur Schnitzler wird auf die Romane „Traumnovelle" und „Spiel im Morgengrauen" hingewiesen; beide sind, wie im ersten Fall schon der Titel sagt, novellistische Arbeiten.

Bei Eduard von Keyserling heißt es: „Auch K.s formal strenge Gedichte sind von Resignation und Weltflucht geprägt." Lyrische Publikationen von Keyserling sind nicht bekannt, der Lexikograph kann auch keine Titel nennen.

Richard Billinger wird nur als Dramatiker angesprochen, kein Wort davon, daß er auch Lyriker und Erzähler war.

Bei Bernhard Kellermann spricht der Lexikograph von „schwachen, dekadenten Gestalten im Roman ,Der Tunnel' ", dann redet er von utopischen Romanen Kellermanns. In Wahrheit gehört „Der Tunnel" zu den letztgenannten Werken, während im ersten Fall ganz andere Romane anzuführen gewesen wären, wie „Yesterund Li", „Ingeborg", „Das Meer".

Wieso der Münchner Franz Xaver Kroetz als „österreichischer Dramatiker" deklariert wird, ist auch nicht verständlich.

Es ist verständlich, wenn der Herausgeber einleitend sagt, daß er in einem Lexikon bei Werktiteln auf Vollständigkeit verzichten und sich auf die Hauptwerke beschränken müsse. Leider hält er sich nicht an diesen Grundsatz. So werden oft weniger wichtige Publikationen angeführt, wesentliche aber verschwiegen. Bei dem Schweden Pär La-gerquist ist das Hauptwerk, der Roman „Bar-rabas", nicht genannt, obwohl er für die Verleihung des Nobelpreises an den Dichter ausschlaggebend war.

Bei Heinrich Suso Waldeck fehlt der bedeutendste Lyrikband „Die Antlitzgedichte". Dann liest man über denselben Autor weiter: „Neben religiösen Liedern und Mariengedichten schrieb er die in knapper Sprache gehaltenen Werke .Lumpen und Liebende', ,Die milde Stunde'." Was soll sich der Leser hier unter „Werken" vorstellen? Im ersten Fall geht es um einen Roman, im zweiten um einen Gedichtband, auf den die Verlegenheitsformulierung „in knapper Sprache gehalten" keineswegs zutrifft.

Noch einmal zu Weinheber: „Aus seinem umfangreichen Werk seien Adel und Untergang', ,Wien wörtlich', .Vereinsamtes Herz' genannt." Das letzte ist ein schmales Aus-wahlbändchen früher Gedichte, in keiner Weise repräsentativ. Jedes andere der späteren Bücher, von „Späte Krone" bis „Hier ist das Wort", wäre hier besser am Platz gewesen.

Für die Unerfahrenheit der Bearbeiter bei der Auswahl ein Beispiel für viele ähnliche: Uber einen heute kaum noch bekannten Autor, den Prinzen Emil von Schönaich-Caro-lath, erfährt man: „Als Novellendichter wurde es von Storm angeregt, z. B. in ,Die Wildgänse'." Hier handelt es sich um eine bloß fünf Seiten umfassende nebensächliche Erzählung aus einer immerhin siebenbändigen Gesamtausgabe. Wenn hier schon Titel angeführt werden sollten, dann wären „Die Kiesgrube" oder „Der Heiland der Tiere" anzuführen gewesen. Mit Storm hat die genannte Geschichte überhaupt nichts zu tun.

Der Herausgeber betont im Vorwort: „Da die Zahl der Autoren unübersehbar ist, bleibt die Auswahl notwendig unvollständig." Hier geht es jedoch, wie man festhalten muß, um die richtigen Relationen. Wenn man z. B. in der tschechischen Literatur Jan Neruda und Egon Erwin Kisch aufnimmt, dann darf man Bozena Nemcovä, die bedeutendste tschechische Erzählerin im 19. Jahrhundert, oder den großen Lyriker Ottokar Brezina nicht verschweigen. Und wenn man im deutschen Raum Klaus Groth als Mundartdichter anführt, kann man den größten österreichischen Dialektdichter, Franz Stelzhamer, nicht unterschlagen. Auch dafür gäbe es noch zahlreiche Beispiele!

Daß die Länge der einzelnen Beiträge nicht immer eine Wertung der diversen Schrift-stellter bedeuten muß, wird man einsehen. Trotzdem sind manche Proportionen nicht vertretbar, so wenn einem Peter Weiss 47 Zeilen, einem Robert Musil nur 33 Zeilen zugebilligt werden. Auch das Verhältnis zwischen Dante (45 Zeilen) und D'Annunzio (40 Zeilen), läßt sich kaum rechtfertigen. Ähnliches gilt für viele andere Fälle.

Auch im beigefügten „Lexikon der Sachbegriffe" sind Mängel festzustellen. Der Alexandriner wird als „Vers von 12 Silben" bezeichnet, er kann aber natürlich auch 13 Silben haben. Bei der Stanze besteht nicht jede Zeile aus 11 Silben, es können auch nur 10 sein. Auf das „feste Reimschema" wird hingewiesen, die Art der Reimung aber nicht genannt. Dasselbe gilt vom Sonett, wo gleichfalls die erforderlichen Reimbindungen nicht angegeben werden. Die Siziliane sucht man vergebens. Manche Begriffe sind recht dürftig erläutert, so z. B. der Expressionismus, bei dem nur vom Drama und vom Roman, nicht aber von der Lyrik gesprochen wird.

Das war nur eine Auslese nach einer ersten stichprobenartigen Uberprüfung. Zweifellos würde eine systematische Durchsicht ein Vielfaches der aufgezeigten Unkorrektheiten ergeben. Wenn man vor solchen Publikationen warnt, dann geschieht dies nicht aus Freude am Kritisieren, sondern aus ernster Sorge um die Folgen, die leider nicht ausbleiben.

Wer den heutigen Betrieb an den Hochschulen kennt, der weiß, daß viele Studierende nicht mehr zu den Originalwerken greifen, sondern ihre Kenntnisse aus zweiter oder dritter Hand beziehen und sich dabei von „Hilfsbüchern" der oben geschilderten Art informieren lassen. Dadurch schleppen sich Fehler und Mißverständnisse immer weiter, gelangen in Prüfungsarbeiten ebenso wie in die Redaktionen von Presse und Funk und erweisen sich oft als unausrottbar.

Daher sind Verleger und Lektorate aufgerufen, mit mehr Gewissenhaftigkeit an ihre verantwortungsvolle Aufgabe heranzugehen.

Univ.-Prof. emer. Dr. Adalbert Schmidt lehrte an der Universität Salzburg österreichische Literaturgeschichte.

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