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Im schiefen Licht

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Wie schnell politische Verhält- nisse sich ändern können, hat während der letzten Monate die radikale Wende in den osteuropäi- schen Ländern gezeigt, vor allem in der DDR. Dort waren bis vor kur- zem die Richtlinien auch für die Literatur rigoros festgelegt. So wie der Staat die Menschen überwach- te, wurden auch die Gesinnungen der künstlerisch Tätigen auf ihre Zuverlässigkeit gegenüber der al- leinherrschenden Partei kontrol-

liert.

In diesem Zusammenhang ver- dient ein Buch Interesse, das ein Jahr vor dem Umbruch in der DDR in einem „Volkseigenen Verlag" Berlin-Ost erschienen ist und den

Titel trägt: „Österreichische Lite- ratur des 20. Jahrhunderts". Es wurde von einem aus 29 Mitarbei- tern zusammengesetzten Autoren- kollektiv verfaßt und unter der Lei- tung von Horst Haase und Antal Mädl herausgegeben. Es ist viel- leicht das letzte Dokument dieser Art.

Da es sich nicht um die Darstel- lung der Literatur des eigenen Landes, sondern eines unter ande- ren politischen Vorzeichen stehen- den Gebietes handelt, wird der parteipolitische Maßstab weniger streng gehandhabt, als es anson- sten geschehen müßte. Dennoch tritt die liniengetreue Doktrin der Herausgeber an vielen Stellen in Erscheinung.

Das 880 Seiten umfassende Werk beginnt mit einer Einleitung des Budapester Literarhistorikers An- tal Mädl, der in knappem Umriß einen guten Gesamtüberblick über die Entwicklung der österreichi- schen Literatur von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert gibt. Dann folgen 34 Einzelporträts österrei- chischer Autoren, von 29 Verfas- sern geschrieben, beginnend mit Arthur Schnitzler und endend mit Peter Turrini.

Die Beiträge zeigen größtenteils verständnisvolles Einfühlungsver- mögen, lassen aber dennoch an et- lichen Stellen die parteiorientier- ten Vorbehalte und Einwendungen der Bearbeiter erkennen. So wenn bei Robert Musil vermerkt wird, daß ihm „trotz einer umfassenden, nahezu enzyklopädischen Bildung eben auch ganz elementare gesell- schaftliche und soziale Zusammen- hänge verborgen geblieben waren". Oder wenn im Zusammenhang mit Ilse Aichinger kritisiert wird, daß die „Analyse der determinierenden gesellschaftlichen und sozialöko- nomischen Faktoren in den Hinter- grund" trete. Und was dachten wohl DDR-Leser darüber, wenn an einer Stelle (im Artikel über Barbara Frischmuth) von der „durch gerin- ge Dynamik gekennzeichneten österreichischen Demokratie" die Rede ist?

Die Auffassung von der Dichtung als einer Mitstreiterin bei der poli- tischen Agitation macht es ver- ständlich, daß das Buch manche der österreichischen Autoren als ähnlich gesinnte Helfer einreihen zu können glaubt. Als solche wer- den etwa Jura Soyfer, Egon Erwin Kisch, Franz Kain und Michael Scharang empfunden. Bei zeitge- schichtlich weiter zurückliegenden Dichtern wie Hofmannsthal, Rilke oder Trakl fällt es leichter, diese sine ira et studio zu betrachten. Hier mangelt es nicht an erkennt- nisreichen Perspektiven und Ein- sichten. Die Vielzahl der Verfasser

bringt es naturgemäß mit sich, daß die Qualität der einzelnen Beiträge nicht gleichwertig ist.

Was die Genauigkeit im Textteil und im bibliographischen Anhang anbelangt, so steht es da wesentlich besser, als dies heute bei westdeut- schen literaturgeschichtlichen und lexikalischen Werken leider der Fall ist. Dennoch sind da und dort kriti- sche Einwände vorzubringen.

In der Einleitung wird Ludwig Anzengruber nur als Verfasser „naturalistischer antiklerikal ge- färbter Dorfgeschichten" genannt, seine dramatische Tätigkeit bleibt unerwähnt, obwohl besonders das Drama „Das vierte Gebot" wegen seiner sozialkritischen Haltung den Tendenzen dieses Buches weitge- hend entsprochen hätte. Eigenna- men sollten in einem Werk, in dem für jeden dargestellten Autor ein einzelner Bearbeiter verantwortlich zeichnet, richtig geschrieben wer- den: Der im 16. Jahrhundert am Wiener Schottenstift wirkende Schulmann und Stückeschreiber heißt nicht Wolfgang Schmeltz, sondern Schmeltzl; das durch seine mittelalterlichen Handschriften bekannte Kärntner Kloster schreibt sich nicht Millstadt, sondern Mühl- stätt; der Ort Kapf enberg (Geburts- ort von Michael Scharang) liegt nicht im oberösterreichischen In- dustrieviertel, sondern in der Stei- ermark; der Komponist Richard Strauss darf nicht, wie es so oft geschieht, wie der Walzerkönig Johann Strauß geschrieben werden; der Vorname der Gönnerin Rilkes, der Fürstin von Thum und Taxis, der er seine „Duineser Elegien" widmete, lautet Marie, nicht Ma-

ria.

Auch Werktitel müssen korrekt wiedergegeben werden. Hof manns- thals Komödie von 1910 ist von ihrem Verfasser „Cristinas Heim- reise", nicht „Christinas Heimrei- se" betitelt worden. Der Roman von Johannes Freumbichler, dem Groß- vater Thomas Bernhards, heißt „Philomena (nicht Philomena) El- lenhub"; in Prag hat es nur ein „PragerTagblatt" (nichtTageblatt) gegeben, die Pluralform war im Norden, zum Beispiel „Berliner Tageblatt", üblich; das Organ des Stifter-Institutes in Linz ist eine „Vierteljahresschrift des Landes Oberösterreich" (nicht Österreich); die zweibändige Literaturgeschich- te von Adalbert Schmidt ist nicht „Dichtung und Dichter Österreichs

aus dem 19. und 20. Jahrhundert" betitelt, sondern „im 19. und 20. Jahrhundert".

Bei der Sekundärliteratur über Josef Weinheber wird wohl auf eine zweiseitige Stelle in Franz Kochs „Geschichte deutscher Dichtung" hingewiesen, doch seine selbstän- dige Publikation „Josef Weinheber" (München 1942) wird gar nicht genannt. Und wenn von Weinhe- bers „Wien wörtlich" behauptet wird, dieses Buch „wurde und wird (von der Kritik) bis heute nicht genügend geschätzt", so stimmt das nicht. Es sei, von österreichischen Stimmen ganz zu schweigen, nur der italienische Germanist Claudio Magris genannt, der in seinem Buch „Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur" sagt:

„In ,Wien wörtlich' und seinen anderen Sammlungen setzt Wein- heber die reinste Wiener Volkslied- tradition und das ganze subtile menschliche wie stilistische Kul- turgut Österreichs fort und über- setzt es in das reine klare Wesen modernster europäischer Lyrik".

Bei Georg Trakl wird geschrie- ben, er habe „dask.u.k. Staatsgym- nasium in Salzburg" besucht. Der Verfasser dieses Beitrags, Lajos Nemedi, hätte als ein noch in der alten Donaumonarchie geborener Ungar und als emeritierter Profes- sor der Universität in Debrecen eigentlich wissen müssen, daß es nur ein k.k., kein k.u.k. Staatsgym- nasium in den Ländern der öster- reichischen Krone gab. Bedauerli- cherweise kennen den Unterschied zwischen den beiden Bezeichnun- gen in Deutschland und selbst im heutigen Österreich die wenigsten. Allerdings sollten Historiker, wel- cher Sparte immer sie angehören mögen, darüber Bescheid wissen.

Das vorliegende Buch ist in sei- ner Art ein Dokument. Nach seiner Lektüre dürfte sich wohl manchem Leser von heute die Frage stellen: In welchem Licht wenden künftige Literaturhistoriker aus Ostdeutsch- land nach dem Wegfall politischer Voreingenommenheit die österrei- chische Literatur des 20. Jahrhun- dertserscheinen lassen? Werden sie auch die vielen in diesem Band fehlenden bedeutenden Autoren berücksichtigen? Die Wende gibt Hoffnung.

ÖSTERREICHISCHE LITERATUR DES 20. JAHRHUNDERTS. Herausgegeben von Horst Haase und Antal Mädl. Verlag Volk und Wissen, Berlin (Ost) 1988.880 Seiten

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