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Humanistisches Wissen

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Vorerst kurz die Gliederung dieses Werkes. Zunächst wird, bei besonderer Bezifferung und anknüpfend an den vorigen Band, der die alphabetischen Schlagwörter bis einschließlich des Buchstabens K gebracht hatte, das Lexikon auf den heutigen Stand der Dinge ausgeweitet. Neue Schlagwörter treten auf, die der Tag oder fortschreitende wissenschaftliche Erkenntnis uns beschert haben, die Länderartikel sind bis in den Spätsommer 1962 fortgeführt, Biographien desgleichen. Neue Gestalten, die in den Vordergrund des Geschehens gerückt sind, erscheinen. Die Sorgfalt der da auf rund 450 Spalten in knappster Form gebrachten Arbeit, die treffende Auswahl der neu Aufgenommenen, zumal aus der afro-asiatischen Sphäre, sind sehr zu rühmen. In diesem Teil, wo nüchternste strenge Sachlichkeit waltet, ist selbstverständlich für Entfaltung der Individualität des jeweiligen Mitarbeiters kein Raum.

Doch jetzt zu den tausend Spalten, denen die Herausgeber den Obertitel „Geist und Kultur“ gegeben haben. Mir fehlt da ein dritter, einer, der die harmonische Gemeinschaft der beiden ständig stört: der Ungeist. Am besten wäre: Geist und Kultur im Kampf gegen Ungeist und Unkultur. Derlei Überschriften würde sich freilich der Vertriebsleiter, der an Freund Publikum denkt, verbieten... Wir lassen uns also aufs kundigste von H. Klages, G. Stavenhagen, W. Fischer in die moderne Industriegesellschaft einführen. Eine nette Gesellschaft: Kultur im Dienste des Kaufmanns, wie Karl Kraus vorahnend es definierte, und des Raufmanns, wie es während einer Schreckenszeit traurige Wahrheit wurde. Herausgeschleudert aus einer organischen, stetigen Entwicklung — um in der Sprache der Philosophie dieser Zeit zu reden —, wesen und verwesen wir in einer Welt, deren Wesen und Unwesen die ausgezeichneten Verfasser der fachlichen Darstellungen ungewollt entlarven, wenn sie hier, von Konzentrationstendenz sprechend, Erinnerung ans KZ, dort, bei der Schilderung des „Menschen im moderen Betrieb“, aber daran wachrufen, daß wir nur noch dem Trieb und darüber dem Betrieb Untertan sind. Welche Stoßseufzer um nichts die hervorragenden Zusammenfassungen über Soziologie (W. Bernsdorf). Industrialisierung, Wirtschafts- und Sozialpolitik, Arbeit und Beruf herabsetzen sollen. Mit Betrübnis lesen wir W. Dreiers vorzügliches Bild von Ehe und Familie und das, was Erlinghagen, M. Kranse, N. Schmidt über Jugend und Alter, Stadt und Land zu melden haben. Kabinettstücke dünken mich die Aufsätze über Großorganisationen (R. Mayntz), öffentliche Meinung und Meinungsbildung (E. Scheuch, G. Kunz) und über die Presse (W. Haacke), wo vor allem der Abschnitt über das Feuilleton entzückt.

Weitere knappe Kapitel zeigen zahlreiche Aspekte der industriellen Gesellschaft; unter ihnen ragen heraus: Teilenbachs Bemerkungen über die Hochschulen,

F. Landwehrmanns Charakteristik des modernen Lebensstils. 138 Spalten waren der industriellen Gesellschaft gewidmet; 68 sind es der politischen Ordnung. A. Albrecht, der das gesamte Thema mit souveräner Sicherheit bewältigt hat, stellt das Sollen eines von Autorität und Freiheit getragenen Staates dem Sein gegenüber, verficht mit Schwung sein Ideal einer geordneten, dem einzelnen wie der Gesamtheit gemäßen Gemeinschaft und wendet sich zuletzt einer polemischen Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Staat zu.

Am Panorama über die Religionen und über die Theologie, einem Viertel des Gesamtbandes, erfreut vor allem der wahrhaft ökumenische Geist, der dennoch nichts vom unwandelbar Grundsätzlichen des Katholizismus preisgibt. Der Reihe nach werden erörtert: nach einem Liebig-Extrakt aus Religionsstatistik und Religionsgeographie die Situation des Christentums in unserer Gegenwart — eine, wie stets bei diesem Autor, tiefe, gedankenreiche, von leichtfertigem Optimismus wie kopfhängerischem Pessimismus gleich weit entfernte, ins Herz der Probleme und in die Herzen der Leser treffende, glänzend formulierte Analyse —, Katholizismus, protestantische Glaubensgemeinschaften, Orthodoxie, christliche Freikirchen und Sekten, christliche Einigungsbestrebungen (ökumenische Bewegung, Vaticanum II und so weiter). Sodann Judentum, Islam (besonders hervorzuheben die Beiträge B. Spulers), die afrikanischen Religionen — wären besser ans Ende zu rücken gewesen —, Hinduismus, Shiks, Parismus, Buddhismus, Konfuzianismus, Shintoismus, endlich die „neuen Religionen“, Abstruses wie den indochinesischen Caodaismus, Wodu und Macumba, das Mormonentum mit eingefügt.

Von höchstem Interesse sind die Kapitel über das Missionswesen der Christen, aber auch des Islam, der beiden indischen Hauptreligionen und der nur mit großem Vorbehalt als Religionen anzuerkennenden neuen und neuesten Weltanschauungen.

G. Lanczkowski, der an mehreren der bisher genannten Themen seine sich weithin erstreckende Kompetenz, seine Darstellungskunst und seinen wissenschaftlichen Ernst bewahrt hat, läßt seine brillante Zusammenfassung des Wesens und der Ziele der Religionswissenschaft in eine Durchstrahlung einiger ihrer Hauptanliegen (zum Beispiel „das Heilige“, „Urmonotheismus“, „Sakrales Königstum“) münden.

Auf eine Einleitung über Theologie als Wissenschaft — darin hervorstechend C. Söhngen, H. Vorgrimler — folgen deren Grundprobleme: Glaubensbegriff, Offenbarung, Schrift und Tradition, Exegese, Hermeneutik, sodann Dogma, Gottesbegriff, Christologie, Mariologie, das Menschenbild, Sakramente, Evangelium, Gnade und Rechtfertigung, Eschatologie. Es schließen sich an: praktische Theologie, Kirche und Soziallehre (P. v. Nell-Breuning SJ.), Christentum und Marxismus, Tiefenpsychologie, moderne Wissenschaft, Evolutionslehre.

Von der Theologie gleiten wir hinüber zur Philosophie. Wiederum eröffnet ein Kapitel über die allgemeine Situation den Eingang zu den derzeit im Vordergrund stehenden Hauptfragen: philosophische Erkenntnis, formale Logik, Philosophie der Mathematik, der Natur. Die beiden letzterwähnten Abschnitte, von A. Menne und A. Wenzl dargeboten, sind wie die folgenden über Technik als philosophisches Problem (D. Brinkmann) und über Geschichtsphilosophie (O. Köhler) Perlen aus einem reichen Kranz. Es reihen sich an: die Kultur und ihre Einflußgebiete, eine philosophische Anthropologie (H. W. Jäger), zuletzt die Religionsphilosophie, geschildert von K. Th. Humbach, der auch in der nun anhebenden Länderübersicht Deutschland behandelt.

H. W. Petzek hat etwas ganz Ungewöhnliches vollbracht, indem er in großangelegter Synthese, ebenso eigenständig wie eigenwillig, einen Querschnitt durch die gesamte zeitgenössische Kunst bescherte. Dabei ist auf die Zergliederung nach Ländern verzichtet worden, und das hat hier nicht geschadet, sondern ermöglicht, etv s aus einem Guß zu schaffen. Künstler, Publikum und Kunstwerk, sodann neue Leitbegriffe, voran Ta-chismus und Informel, werden beleuchtet, durchleuchtet, allerdings, und darauf wird zurückzukommen sein, nicht immer so, daß dem Mann von der Heerstraße ein genügendes Licht aufgeht. Künstler und Werke, zunächst der Malerei und der Plastik, dann die der Architektur, ziehen an unserem geistigen Horizont vorüber, zuletzt die des Kunsthandwerks. Die Auswahl und die Reproduktion der Bildbeigaben zu Petzeks Übersicht erheischen höchstes Lob, weil sie den Text geradezu revelatorisch ergänzen.

Die Verteilung der Literaturdarstellung unter drei Dutzend Bearbeiter ist Ursache vieler Überschneidungen und Wiederholungen. Dabei ist dennoch zum Beispiel der größte französische Poet unserer Zeit, St. John-Perse, unter die Räder geraten und vom Zug der Mittelmäßigkeit überfahren worden. Wir lesen ferner nirgends die Feststellung der kapitalen Tatsache, daß sich, ähnlich wie in der Weltpolitik, in der immer stärker Wirklichkeit werdenden Weltliteratur eine absolute Vorherrschaft der Übergroßen zeigt: nur, daß dies zwar einerseits und vornehmlich die

Angelsachsen sind, anderseits aber keineswegs die Russen.

Der Gesamtabschnitt über Literatur bespricht zu Beginn die Lage des Büchermarktes, der Autoren und der Leser: vor allem aus deutschem Aspekt (E. Kurri). Er charakterisiert die heutige Literatur (K. A. Horst), schildert Lyrik, Drama und Prosa und wendet sich sodann den Themen und Problemen zu. Hier macht sich wiederum die Aufsplitterung störend bemerkbar. Der ausgezeichneten Betrachtung von Hirst über Krieg und Kriegsgefangenschaft fehlt, weil da nur die westliche Welt einbezogen wird, der Ausblick auf die dominante Rolle des Kriegserlebnisses in den osteuropäischen Literaturen. Dabei sei darauf hingewiesen, daß es bei allem grausamen Realismus ohne exhibitionistische Ekelsoße gestaltet wurde. Ähnlich steht es um die Problematik von Sexus und Eros. Hier treffen wir allerdings zwar nicht in der UdSSR, doch vor allem in Polen auf ein paar durch Zügellosigkeit in Sprache, Darstellung und Gesinnung ihre Westlichkeit bekunden wollende Ausnahmen, die dann, literarisch hoch überschätzt, ins Ausland exportiert werden.

Dem Autor des Kapitels über deutsche Literatur muß man zugute halten, daß er diesen seinen Stoff umfangmäßig vortreiben mußte und daß er deshalb die Proportionen insofeme verzerrt, als er für die Beachtung von Schriftstellern und Werken weit niedrigere Maßstäbe anzulegen hätte als seine Kollegen bei anderen Nationalliteraturen. Davon abgesehen, ist sein Überblick vorbildlich klug und kenntnisreich. Zwiespältige Gefühle weckt die Studie, die J. Hahn Polen gewidmet hat. Er kennzeichnet zwar in den Grundzügen richtig die Situation, nennt eine Reihe repräsentativer polnischer Schriftsteller, bleibt aber das Eigentliche schuldig. Der Raum mangelt, um dieses Urteil hier eingehend zu begründen. Es sei nur betont.

laß die qualitativ wie ob ihres Anklangs m berufenen Leserkreis führenden Erzäher katholischer Prägung ebensowenig ge-lannt werden wie der größte Dramatiker, Cruczkowski, und dessen kommunistischer jesinnungsgenosse, der geniale Poet Bro-tewski, daß der durch eine Modewelle mporgespülte unbeträchtliche Hlasko in rinem Atem mit dem grandiosen Mrozek rrscheint.

Hut ab vor den Kapiteln über Musik. 5ie allgemeinen und theoretischen Dar-egungen von H. Bennwitz sind ebenso in ich vollendete Kurzdarstellungen ihres rhemas wie seine Ausblicke auf die Mu-ik in Südamerika, in Israel und vor allem m abendländischen Kontinentaleuropa. So ind wie bei Petzek hätte man gerne alle jroßab schnitte behandelt gesehen 1 Ch. Itroux löst mit Geschick die schwierige Aufgabe, in wenigen Seiten die osteuro-läische Musik, ihre Lebensbedingungen tnd ihre Hauptvertreter vorzustellen. Sehr ;ut ist der nur allzu schmale Abschnitt iber den Film von D. Kuhlbrodt gelungen, fahrend die Raumnot den an sich zu be-ahenden Aufsatz Melchingers über das fheater und dessen Stil beinahe abwürgt.

Schließlich Professor W. Herzfelds .Weltgeschichtliche Entwicklung seit 1945“: Die abgeklärte, leidenschaftslose, tuf stupender Kenntnis des Gesamtstoffes gründende Erzählung der drei so wenig llustren Lustren, während deren sich die Menschheit vergebens bemühte, den Alp-lruck des Krieges abzuschütteln, könnte vohl kaum gehältiger, vielseitiger sein, als ;ie da auf 138 Spalten festgehalten ist.

Und so wie mit diesem Geschichtsbild, ist es mit dem gesamten Herderschen Kompendium des humanistischen Wissens inserer Gegenwart beschaffen. Es ist ein »uter Kamerad auf dem Lebensweg; „einen Jessen findst du nit“.

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