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Digital In Arbeit

Das Menschenbild der Individualpsychologie

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Zu dem Buche „Am Schaltbrett der Erziehung“ von Oskar Spiel. Verlag für Jugend und Volk, Wien

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Zu dem Buche „Am Schaltbrett der Erziehung“ von Oskar Spiel. Verlag für Jugend und Volk, Wien

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Der in Erzieherkreisen wohlbekannte Wiener Psychologe zeigt uns in dem vorliegenden Budi zum erstenmal einen Individualpsychologen als Lehrer an der Arbeit. Das schulpraktische Werk erweist damit den hohen Wert, den die Gedanken der Individualpsychologie über den engen Kreis der Psychotherapie hinaus für die Pädagogik der Gegenwart besitzen.

In Erkenntnis der Bedeutung, die der Schule unserer Zeit in der Heranbildung „demokratischer Staatsbürger“ zufällt, fordert der Verfasser den Vorrang der Erziehungsaufgabc vor den unterrichtlichen Belangen in der Schule. Zur Bewältigung der Erziehungsprobleme zieht die rndividualpsydiologie nicht die üblichen Mittel heran, wie Belohnung,’Ermahnung, Drohung und Strafe’, sondern versucht dem Zögling in freundlicher Ausspradie seine Mängel vor Augen zu führen. Durch Ermutigung soll das Kind zur positiven Bewältigung seiner Lebensaufgaben gelangen. Die Formalstufen dieses Erziehungsweges sind: Kontaktfindung des Erziehers mit seinem Zögling, Entlastung und Enthüllung seiner Fehlhaltungen, Training (Belastung) des Gemeinschaftsgefühls ünd Ablösung vom Erzieher zur Selbsterziehung. Der Lehrer führt dabei sein Klasse durch die „Arbeits-, Erlebnis- und Verwaltungjgemeinschaft zur Ausspradie- und Stützungsgemeinschaf:".

Diese Erziehungsmethode gewinnt Spiel aus dem Mertschenbild, das der Begründer der Individualpsychologie, Dr. A. Adler, entwickelt hat. Für ihn war der Mensch eine zielstrebige Einheit, dessen Lebensäußerungen sich im Grunde auf zwei Kräfte zurückführen lassen: auf das Überlegenheitsstreben (Macht- und Geltungsstreben) und auf das Gemeinschaftsgefühl. Adler hat erkannt, daß das Kind die Umwelt mit einem Gefühl der Hilflosigkeit, des Schwächerund Abhängigseins erlebt und diesem durchaus unbewußten passiven Minderwertigkeitsgefühl auf der Aktivseite das Uberlcgenheitsstreben entgegensetzt. Adlers Bezeichnung läßt bereits erkennen, daß dieser Potenz unserer Seele die negative Neigung innewohnt, alle gemeisterten Schwierigkeiten zur eigenen Werterhöhung gegenüber seinen Mitmenschen auszunützen.

Dieses Überlegenheitsstrebcn befindet sich in steter Spannung zu der zweiten Kraft, die einen jeder Seele immanenten Idealbegriff der menschlichen Gemeinschaft zu verwirklichen strebt. Die Erziebungskunst besteht nun nach Spiel darin, der ersten Kraft den egoistischen Charakter zu nehmen und sie als werthaftes „Überwindungsstreben" der Gemeinschaft dienstbar zu machen.

Die Dynamik der Seele wird also in der Individualpsychologie auf zwei Kräfte reduziert. Diese etwas gewaltsame Vereinfachung des Seelenlebens läßt sich nur damit begründen, daß sie den Grundbeziehungen Mensch-Ich, Individuum-Gemeinschaft entspricht. Die Individualpsychologie will in diesem Sinne eine Beziehungslehre sein und uns den Menschen in einer doppelten Verantwortung zeigen: gegenüber si-h selbst und gegenüber seinen Mitmenschen.

Tatsächlich aber sah sich der sittliche Mensch zu allen Zeiten in ein Koordinationssystem eingebaut, das als Grundbeziehungen die Stellung des Menschen zum Ich, zum Wir und zu Gptt aufwies. Diesen drei Beziehungen müssen ebenso viele zielstrebige Kräfte der Seele entsprechen. Zwei hat die Individualpsychologie aufgezeigt und erforscht; von der dritten — nennen wir sie transzendente Zielstrebigkeit — schweigt sie geflissentlich. Niemand wird von ihr verlangen, daß sie in theologischen Fragen das Wort ergreife. Sic wird ihre Aussagen selbstverständlich auf das wissenschaftlich Erkennbare im Bereich der natürlich-religiösen Ordnung beschränken. Es gilt für sie nur, nachzuweisen (oder nzu- erkennen, was die religionspsydiologischen Forschungen bereits hinlänglich bewiesen haben), daß Religion eine dem Menschen ursprünglich innewohnende werteschaffende Kraft ist, die ihn befähigt, Gott intuitiv und intellektuell zu erkennen und auf Grund der Erkenntnis sittliche Handlungen und Entscheidungen zu treffen.

Aus der ersichtlichen Einengung des Menschenbildes müssen sich für die individualpsychologische Therapie schwere Fehldeutungen ergeben. Nur wer die religiöse Kraft anerkennt, vermag zu erkennen, daß Neurosen nicht allein Scheinlösungen der sozialen Aufgabe sein können, sondern nicht selten aus der Verkümmerung oder Fehlentwicklung der religiösen Kraft entspringen.

Ohne den tozialpldagogischen Wert de Buches von O. Spiel schmälern zu wollen, sehen wir doch einen fühlbaren Mangel darin, daß die oberste Richtlinie seiner Erziehung in der Hinlenkung zur Gemeinschaft besteht, anstatt sie in der Weckung und Entwicklung der natürlichen Gottbezogenheit zu sehen. Unser Leben ist nicht nur ein Weg durch unser Ich zur Gemeinschaft, sondern es ist darüber hinaus ein Weg zu Gott.

Die rechte Erkenntnis vom wahren Wesen des

Menschen ist das bewegendste geistige Problem unserer Zeit. Möge die Individualpsychologie in ihrem Bereich an der Lösung mitwirken, indem sie ihre Lehre vom Menschen auf die angedeutete erweiterte Grundlage stellt.

E. Neuwirth

Metaphysik der Wirklichkeit. Von Robert R e i n i n g e r. Zweite, neubearbeitete Auflage, 1. Band. Verlag Braumüller, Wien.

Vor uns liegt der erste Band einer Neuauflage, der zugleich mehr als eine bloße Umarbeitung ist. Durch die Aufnahme des „Psychologischen Problems“ bedeutend erweitert, hat diese bi in Satzbau und Formulierung reichende Überarbeitung den bekannten Standpunkt des Verfassers in einer kaum zu überbietenden Schärfe herausgestellt. — Mit dem Satz vom Bewußtsein („Es gibt’ kein Sein, das nicht Bewußtsein ist“) bekennt sich R. zu einem Idealismus Kantscher Tradition. Seine Bewußtseinsanalyse ist daher keine psychologische, sondern eine transzendentale: kommt es ihm doch darauf am, das hinter den erleuchteten Partien intentionaler Bestimmt, heit • liegende vorintentionale Innesein — das „Ich“ des deutschen Idealismus, von Reininger „Urwirklichkeit“ genannt — methodisch sauber herauszuarbeiten. Das Kernstück seiner Theorie ist demnach die Bestimmung jenes Urverhält- nisses von Wirklichkeitsgewißheit und Erlebnisbewußtsein als einer Art dialektischer Transformation, deren eines Glied die Raum-Zcit- Realität vorstellt, deren anderes aber aller

„Geschiedenhett" und damit Aussagbarkeit vn- überholbar vorausliegt. Dieses Grundaxion wird nun an den bedeutendsten Problemen der Philosophie verifiziert.

Darin also liegt — bei aller Bescheidenheit des substantiellen Ertrages im Sinne etwa der christlichen fhilosophietradition — der unschätzbare prinzipielle Gewinn dieses Werkes: daß gewissermaßen den „archimedischen Punkt“ aller Philosophie augenfällig ‘macht, jene Urdialektik des Seins also, die zu übersehen oder zu überspringen in gleicher Weise verhängnisvoll ist: das eine nämlich führt in einen resignierenden Positivismus, das andere in die Positivität eines Bekenntnisses, dem man als einem „Glaubens- wagnis“ alle Achtung zollen wird., dort aber, wo es mit dem Anspruch einer verbindlichen Wahrheit auftritt, den Vorwurf ungenügender erkenntnismäßiger Fundierung nicht ersparen kann. — Bewußt und sauber zwischen beiden Grenzwegen den Weg echter Metaphysik zu beschreiten, ist das bleibende Verdienst Reiningers.

Dr. Josef D e r b o 1 r

Der amerikanische Charakter. Von D. W.

B r o g a n. Verlag Gerold, Wien.

„Der Amerikaner ist ein Mensdj, der unter neuen Grundsätzen handelt; er muß daher auch neue Ideen haben und sich neue Meinungen bilden." Dieser Vorspruch des Buches kann als dessen Quintessenz betrachtet werden. Die Unkenntnis des amerikanischen Charakters ist die Ursache jener halben und ganzen Mißverständnisse, an denen die Schilderungen allzu eiliger Amerikareisender reich sind. Amerika ist weder New York noch Hollywood, sondern ersteht aus der Vielfalt seiner Landschaften und Bewohner. Die führenden Staatsmänner stammen seit Menschengedenken nicht aus Philadelphia und New York, sondern sind zumeist. Söhne jener Landstriche und Orte, die nicht Zentren von Handel, Schiffahrt und Industrie sind. Sie kommen vielfach aus jenen Farmgebieten, die auf den Landkarten, welche der durchschnittliche Europäer von Amerika besitzt, gar nicht erscheinen. In diesem Milieu, das wirklich „typisch amerikanisch" ist, herrscht noch immer eine starke und ‘mächtige Pionierstimmung. Heute noch werden Steppen und Wüsten vom Umfang kleinerer mitteleuropäischer Staaten urbar gemacht. „Das große Heute — das größere Morgen“, Fords bekannter Leitspruch, ist in dieser oder jener Prägung der Wahlspruch der Amerikaner. Eine solche Nation muß von Optimismus und Tatkraft getragen sein. Sie findet ihre Erkenntnis auf dem Wege der praktischen Erfahrung und ist gewohnt, für harte Arbeit reichen Lohn zu finden. Sie hat ihre eigene Art zu leben und auch Krieg zu führen: Beides aus sorgfältiger Beobachtung der jeweiligen Umstände, aus genauer Planung und niemals nach einem überkommenen Schema. Brogans Charakteranalyse ist verdienterweise in England und Amerika ein Bestseller geworden. Sie ist aus fünfzehnjähriger, intimer Kenntnis Amerikas geschöpft, voll psychologischer Einfühlung und Beobachtungsgabe und eine vorzügliche Auflösung des farbenreichen Spektrums der so verschiedenartigen Elemente, aus denen der „amerikanische Charakter" erwachsen ist.

C. v. Peez

Grundzüge der Geschichte des Mittelalters.

Von Heinrich Fichtenau. Zweite durchges. und erw. Auflage. Universum-Verlag, Wien, 356 Seiten.

Schon die Tatsache, daß eine Neuauflagp sich binnen Jahresfrist als notwendig erwies, spricht für die Größe der Lücke, die der Verfasser mltf seinem Werk zu schließen vermochte. Es ist begreiflich, daß in einem Buch, das nur über rund 350 Seiten zur Darstellung und Deutung von tausend Jahren zu verfügen hat, der Anfänger manches als absichtsvolle Zielsetzung hinnehmen muß, was im einzelnen vielleicht differenzierter vor sich gegangen ist. Dieses Buch stellt keinen vorläufigen Ersatz dar, sondern eine ernste wirkliche Handreiche. An den Rand geschrieben sei der Wunsch nach einer künftigen etwas eingehenderen Würdigung der mittelalterlichen Kultur und des byzantinischen Reiches, das als ein Typus des mittelalterlichen Staates überhaupt im Abendland bis in seine letzten Jahrzehnte wirksam war. Die Roll Michaels VIIL in der sizilianischen Vesper ist keineswegs dl eines Handlangers gewesen. In diesem Zusammen hang scheint auch .die Christianisierung der Goten als eine Folge der Edikte von Sirmium 357 und Ariminum 359, die den Arianismu zum Staatsglauben erhoben, und weniger der Neigungen des Kaisers Valens nicht genug unterstrichen.

Univ.-Doz. Dr. H. L. Mikoletzky

Unser Weg zur Kirche. Religiöse Selbstzeug nisse berühmter Konvertiten. Von Dr. Joseph Eberle. Rex-Verlag, Luzern 1948.

Die lebendig, in bunter Folge gereihten Selbstzeugnissv, die vor zehn und zwanzig Jahren von dem unterdessen verstorbenen Herausgeber gesammelt und bereits in der Zeit, schrift „Schönere Zukunft" veröffentlicht worden waren, stammen sämtliche von großen Europäern. Bei Eberle sprechen abendländisch Geister, die imstande waren, den liberalistisch- materialistischen Fortschrittsglauben in sich ra überwinden, aber auch einige wie Wust und Papini, die schon in unsere Epoche des Zusammenbruches jener „sicheren“ Welt hinein, ragen und mit unseren Problemen auch unser Möglichkeiten uns voraus zu Ende führen. Viel Menschen werden hier Analogien zu ihrer seelischen Situation finden. Ergänzend sei darauf aufmerksam gemacht, daß mittlerweile Papini seine hier dargelegte Hoffnung auf eine Rück kehr Christi in diese Welt zugunsten einer geläuterten und geduldigeren Auffassung geändert hat. Anna Coreth

Der Mensch denkt Eine kleine PlaudereL

Von C. N i e s s e n. Illustriert von Paul Flor

Herr Huber im wilden Westen. Illustriert von Paul Flora. Texte von Gösta Bernedk. Zwei-Berge-Verlag, Wien 1947.

Es wäre richtig, daß wir heute weder Plat noch die Notwendigkeit hätten, Werke von solchen Autoren erscheinen zu lassen, und gerecht, daß Erzeu|nisse solch formloser Art, wie die zwei vorliegenden Produkte, kein Papier fänden. Niesen plaudert über alle ihm bekannten Wortassoziationen um das Wort „Denken", aber denkbar überflüssig. Das Erfreuliche und fast Versöhnende aj er sind di Illustrationen des jungen Paul Flora, der Wesentlichstes in treffend knappen Strichen festzubalten weiß und stets originell und humorvoll bleibt. Und demselben Paul Flora verdankt man auch ein wenig Freude am zweiten Buch, in dem die rechtsstehenden, ganzseitigen Illustrationen die lächerlich dummdreisten Sätzchen, Anspielungen und Literatenversuche auf der linken Seite gleichsam veredeln möchten. Es ist schade um dieses Forum, das sich der junge Künstler gewählt hat. Glücklicherweise aber konnte man weitere Arbeiten Floras in besserer Umgebung in Wien sehen.

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