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Menschen hinter Schranken

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Manchmal gewinnt man den Eindruck, die neue Demokratie enthalte im wesentlichen zwei Menschengruppen: Geschädigte — Belastete. Dazwischen wogt die Masse derer, die weder „Wied-ergutmachungsan-sprüche“ stellen noch „Sühne zu leisten“ haben. Man sollte meinen, das Konto müsse sich errechnen lassen, die Schuld werde eines Tages auf Heller und Groschen beglichen sein. Dem widerspricht aber die Wirklichkeit. Zwar gibt es eine Anzahl Menschen, denen „Genugtuung“ widerfährt und es gibt auch eine andere Schar, die „sühnt“. Dennoch rinnt aus den Masdien dieses Vergeltungsnetzes etwas von der Sühneforderung der einen, von dem Schuldbewußtsein der anderen und schlägt sidi als Nebel der Unzufriedenheit über alle Menschen unseres Lebenskreises.

Dieser Nebel geht in die verschiedensten Geister ein, steigt in ihrem Denken auf und wird fruchtbar als Tau der unzähligen Lehren über den neuen Menschen, die neuen Wege, die unfehlbare Lebenserneuerung, die Überwindung des alten -Elends.

Auch in der geistigen Oberschicht sucht man nach dem neuen Menschenbilde. Man spricht viel von Humanität und Aufleben des Humanismus. Diesen verschiedenen Ansätzen ist die Betonung besonderer Menschenwürde gemeinsam. Allein, was ist das Kennzeichen menschlicher Würde?

In der Zeit immer vollkommenerer Beherrschung des Stoffes, immer leichterer Übersehbarkeit der Erde, zeigt man das Streben die Menschen zu großen Verbänden zusammenzufassen, die ihre Gliederung von außen, eben vom Stoffe her, erfahren. Doch zu gleidier Zeit hat das Forschen über seelisdie Verhaltensweisen eingesetzt und man hat die Gliederung des Menschen von innen gefunden.

Wir verdanken der medizinischen Psychologie wichtige Einblicke in das Seelenleben und es wird das unbestreitbare Verdienst Freuds bleiben, die Seele nicht mehr flächenhaft als „das unbeschriebene Blatt“ zu sehen, sondern ihre Räume und Geschosse erschlossen zu haben. Das „Unbewußte“ ist bereits zum Schlagwort psychologisch nicht gebildeter Menschen geworden.

Die Psychoanalyse sucht möglichst viel von dem ins „Unbewußte Verdrängten“ dem Bewußtsein zugängig und so beängstigende Schatten im Lichte der Tagesklarheit zunidne zu machen. Das anschaulichste Bild über den Vorgang der Verdrängung gibt Freud selbst in einem seiner berühmten Vorträge über die Psychoanalyse (gehalten an der Clark-University in Worcester Mass., 1909). Dort vergleicht er sie mit einem Störenfried, der etwa seinen eben stattfindenden Vortrag unterbrechen wolle und den der Leiter der Veranstaltung aus dem Saale führen müsse und der vor dessen Tür noch eine Weile sein Unwesen treibe. Durch Zuspruch beruhigt, werde er dann wieder zuhörfähig und könne schließlich wieder in den Saal eingelassen werden. Das unangenehme Erlebnis ist der Störenfried, das Unbewußt wird hier der Raum vor der Tür genannt und die Versuch des Saalleiters kommen der Arbeit des Therapeuten gleich.

Eine Abwandlung der Psychoanalyse, die Individualpsychologie, legt die Betonung nicht auf die seelische Wirklichkeit im Hinblick auf den Träger dieser Wirklichkeit, sondern im Hinblick der Stellung des Trägers zu einer Gemeinschaft. Sie sieht also nicht seelische Verhaltungsweisen für sich, sondern sie bedeuten ihr mir Mittel zum Zweck.

Die beiden Grundgedanken der einen so wie der anderen Therapie sucht V. E. Frank 1 in seiner Logotherapie zu vereinen. Doch legt er besonderen Wert darauf, die Zielstrebigkeit des Menschen herauszustellen. Das menschengemäße Leben ist nach ihm das Leben „in Verantwortlichkeit“. Es ist bereits ein geflügelte Wort geworden, der Mensch sei ein Verantwortlicher „dem Leben“ gegenüber.

Hier wollen wir einen Augenblick innehalten und uns besinnen, daß die sogenannte Logotherapie, wie ihr Name sagt, eine Heilmethode darstellt. Ebenso sind Psychoanalyse und Individualpsychologie die Grundpfeiler der modernen Psychotherapie. Sie waren also Antwort auf eine eigentümliche Heilungsbedürftigkeit des Modernen.

Die klassische Psychiatrie um die Jahrhundertwende vornehmlich mit dem Namen Emil K r ä p e 1 i n s verknüpft, hat der Krankheit der „Gesunden“, der Neurose, noch keine vertiefte Aufmerksamkeit geschenkt. Die Psychoscnlehre der alten Psychiatrie arbeitet mit dem Seelenbegriff des positivistisch - mechanistischen Weltbildes, stößt also keineswegs ins Transzendente vor.

Freud befindet sich bei seinen Ausgangsuntersuchungen, die die Bewußtseinsspaltungen der Hysterie betreffen, in der gleichen Lage. Seine spätere Psychologie hat die Hemmungen der mechanistischen Auffassung niemals überwunden. Ebenso steckt die zweckbetonte Individualpsychologie in diesen Grenzen. Der Mensch wird als ein durchaus erdbeschlossenes Wesen gesehen. Darüber hinaus greift wohl die Logotherapie Frankls. Aber wo greift sie hin?

Wir sprachen von der Heilungsbedürftigkeit der Seele des Modernen. Die Neurose kann man ganz allgemein als seelisch bedingte Gleichgewichtsstörung bezeichnen, als den leibseelischen oder nur seelisch hervortretenden Ausdruck für einen nicht bewältigten Lebenskonflikt. Kein Zweifel besteht darüber, daß heute mehr Menschen als je wirklich erkranken, weil sie das Leben nicht meistern können. Ein Versagen wird nicht ausgeglichen oder aufbauend verarbeitet, sondern wirkt als Fremdkörper die Lebenslinie umbiegend fort. Nad-, der Auffassung der Individualpsychologie wird eine Entmutigung durch das „Arrangement“ umgangen; mit Hilfe der Neurose wird eine Entschuldigung nicht nur gesucht, sondern gelebt und die Therapie soll die Verantwortlichkeit wecken und riditig arbeiten lassen. Man könnte sagen, daß der am Leben Verzweifelnde, der um die Sinnfrage besorgte Mensch den Geschädigten und Belasteten in einer Person darstelle. Geschädigt, weil ihm die Einsicht zum Zurechtfinden fehlt, es ist ihm ein gesundes Leitmotiv genommen; belastet, weil er die Wiedergutmachung zu leisten hat. Doch wie soll er sich dieser Pflicht unterziehen?

Die Psychotherapie der bekannten Schulen hat die Möglichkeit die Schichten abzutragen, bis sie zur Bruchlinie gelangt, sie kann den Schaden aufdecken, allein es erweist sich oft, daß der Mensch noch nicht geheilt ist, wenn man ihn dem Grunde seiner Not, der falschen Weichenstellung, begegnen läßt. Es kommen gewiß Heilungen dieser Art vor, wenn der Aufbau der Neurose einfach genug war.

Doch wie sieht es mit der Neuordnung des Lebens aus, wie zugkräftig erweist sich die Eingliederung in die Gemeinschaft? Es mutet merkwürdig an, wenn die Individualpsychologie zur religiösen Gcmeinschaffrät. (S. Novotny, Betrachtungen zur Individualpsychologie, Maudrich—Wien 1947). Die Verantwortlichkeit zu wecken, ist nicht so schwer, wie in dieser Verantwortlichkeit den zu finden, vor dem man sich- zu verantworten habe. Das Leben beantwortet nicht unbedingt einen Ruf. Das Leben steht dem Menschen nicht gegenüber, sondern er steht in ihm. Gewiß kann der Mensch nur in seinem Leben, ja, auch mit seinem Leben antworten, doch seinem eigenen Leben verantwortlich zu sein gleicht der Tat Münchhausens, der sich am eigenen Schöpfe aus dem Sumpfe zu ziehen vorgab.

Die Menschen leben hinter Sdiranken, wenn sie mit oder ohne Psychotherapie glauben, allein unter Anerkennung eines Versagens, durch die Bewußtmachung vergangener Fehler und vielleicht durch die Sühne am Menschen von einer am Menschen begangenen Schuld einen Gleichgewichtszustand herstellen zu können.. Wir sprechen hier zum ersten Male von Schuld, weil wir diesen Ausdruck in der Neuroscnlehre nicht anwenden mochten, liegt doch der Neurose meist keine ausgesprochene persönliche Schuld zugrunde. Es gibt Menschen, die jahrelang ungesühnte Schuld mit sich herumtragen, ohne Neurotiker zu werden. Wir glauben nicht, daß verlockende theologischpsychologische Kurzschlüsse den Grund zu tragfähiger Anthropologie liefern. Vor allem halten wir die Sicht für verfehlt, aus der heraus in jeder Neurose Schuldbewußtsein und Sühneforderung gesehen werden. Denn hier spielt sich dieser Ablauf allein rwischen Mensch und Mensch ab. So wird der Mensch ganz auf sich selbst verwiesen.

Gerade diese Selbstgenügsamkeit, dieses falsche in sich ruhende Selbstverständnis ist der Grund für die Lebensunsicherheit der Zeit. Hier sind wir geschädigt — dort haben wir geschädigt. Hier stellen wir „Wiedergutmachungsansprüche“ — dort treten wir an, um zu sühnen. Vergeltung, das ist die dunkle Last, die einer auf den anderen, ein Volk auf das andere wälzt. Die Schuld ist wie der Stab des Stafettenläufers, der von einer Hand in die andere geht. Mag man aber auch von „Kollektiv“-schuld oder „kosmischer“ Schuld sprechen, so wird durch diesen Gattungsbegriff nur die Tatsache verdünnt, daß der Mensch, so wie er auf dieser Erde lebt und wirkt und weitergeht, immer ein Schuldiger ist, einer der Schuld hat — vor Gott. Die Unzulänglichkeit alles Menschlichen, die unabsehbare Kette von Verwicklungen gehen aus dieser Unstimmigkeit im Menschen selbst hervor. Freilich wird aus dieser Gewißheit — und aus ihr allein — die Aufhebung der Schuld möglich. Der Stafcttenlauf ist beendet, der Haß zerfleischt die Völker nicht immer von neuem, wenn sie ihre eigene Geschichte besser deuteten, aus der hervorgeht, daß sie im einzelnen und im Verbände vor Gott schuldig sind.

Dem Menschen fehlt die rechte Erkenntnis seiner Selbst, seiner Grenzen nach unten, mehr aber noch nach oben. Die Selbsterfahrung und die Welterfahrung sollten den Menschen daran erinnern, daß er nicht das Maß aller Dinge, sondern selbst ein Bemessener ist, der sich hüten möge ein Vermessener zu werden, daß er einer ist, dem Sein und Raum und Zeit und Aufgabe zugemessen sind. Die letzte Frage nach dem Leben und seiner Verantwortlichkeit weist über ihn selbst hinaus auf den hin, der allem Lebendigen das „Werde!“ sprach.

Sechsmal hintereinander formte das „Werde!“ des unendlich liebenden Gottes aus dem Nichts Gestalt um Gestalt, sechsmal hintereinander erkannte die Weisheit des allmächtigen Gottes, „daß es gut sei!“ Sechsmal hintereinander ließ sich die unendliche Formungskraft des göttlichen Geistes herab, das Werk zu setzen, das seine Spuren und das in seinem letzten Schaffen auch seine Züge trägt.

Der wesentliche Zug ist die Freiheit des Menschen. Ja, er ist von Natur aus frei. Er hat die unbeeinflußte Wahl sich für oder gegen Gott zu entscheiden; aber diese Freiheit ist nicht Gleichgültigkeit und Unge-bundenheit. Der Wille empfängt von dem, der ihn geschaffen, notwendig die Bestimmung Gott anzuhangen und diese Bestimmung ist für ihn heilkräftiges Gesetz und fruchttragende Pflicht: sie ist sein moralisches Band. Wie sehr das der Fall ist, beweist die Tatsache, daß der Mensch sich selbst zugrunderichtet, wenn er das Sittengesetz übersieht, das unmittelbar aus dem ewigen Gesetz entstanden ist. Es enthält das Lebensgesetz des Menschen und ist zugleich die Anerkennung des Schöpferwillens.

Im menschlichen Willen selbst liegt eine Hinneigung zum Guten, die ihn gleichsam an das Gute bindet, so daß sich der Wille, wenn er vom Guten und Rechten weggeht, von dem Bande, das ihn nach oben, an seinen Ursprung, an Gott, bindet, auf unnatürliche Weise löst: In dieser Lösung, in diesem Abfall liegt der Ursprung aller Verkehrtheit in der Welt. Hier beginnt die Schuld des Menschen. Sie beruht in der eigenwillig vollzogenen Abkehr von Gott. Anders ausgedrückt: Der Mensch verkennt seine Lage, in sein Blickfeld sind Möglichkeiten gerückt, die ihm in Wahrheit nicht zugehören. Nach ihnen greift der Mensch. In diesem Griff nach dem. was ihm nicht bestimmt ist, liegt die ganz Verwirrung des Menschen, die Betäubung des Gewissens, die Thronerhebung einer unheilvollen Selbst-Gerechtigkeit. Der Mensch fühlt sich als Herr der Welt, ohne recht zu bedenken, daß ihm die Erde als Raum für seine Aufgabe zugewiesen ist. Nicht er selbst konnte sich die Erde nehmen, sie mußte ihm gegeben werden. In der Anmaßung„ sich als Gebieter über den Kosmos zu wähnen, liegt das Hinwegsetzen über den Willen des Schöpfers. Der Ungehorsam wächst aus dem Stolz, oder der Stolz aus dem Ungehorsam. Der Stolz ist eine Verwirrung des Selbstverständnisses, der Ungehorsam reißt die Grenze des Lebensraumes nieder, die Gott gesetzt hat. Damit zugleich wird aber dieser Bereich auf das Greif- und Sichtbare eingeschränkt. Der Mensch verscherzt sich so die Möglichkeit, für die Ewigkeit offen zu sein; das Jenseits hat in seinen Plänen keinen Raum.

Die Menschen werden so heimisch auf der Erde, daß sie gegen das, was auf das Jenseitige, auf die Bestimmung von Gott her, hinweist, zunächst mißtrauisch, dann ablehnend, schließlich feindselig werden. Das Fortwirken der Schuld gegen Gott gipfelt darin, daß sich der Mensch im Rüdcen Gottes ein Idol aufrichtet, dem er sein an sich echtes, hier nur verkehrt gerichtetes

Erlösungsbedürfnis entgegenträgt. Die Verwirrung steigt aufs höchste, wenn der Mensch, in Adam aus dem Paradiese verwiesen, aus seiner Erde Gott verweist. Dann versteht er sich und seine Welt ohne Christus, ohne Erlösung. Die innere Unwahrheit steigt und damit sinkt die Lebenssicherheit. Ausweichlösungen werden gesucht, das Unbehagen nimmt zu, der Sinnverfälschung des Lebens folgen Wirrnis und Not.

Die Lösung kann allein darin bestehen, daß sich der Mensch als den erkenne, der er ist: als ein vor Gott schuldig Gewordener. Alle Schuld, die in der Welt zerstörerisch umgeht, wird von Gott, dem Schöpfer, der zugleich der Vater ist, zunichtegemacht, wenn sie nur wirklich erkannt ist und Sühnebereitschaft vor Gott erweckt Der Mensch braucht nur zu wollen, dann kann er zu jeder Stunde den Vater rufen, daß er ihm verzeihe, ihm helfe.

Dann fallen die Schranken, das Leben erfährt seinen Sinn, aber auch das Leid und die Mühsal so vieler Tage.

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