Jung - © Foto: Getty Images / ullstein bild / RDB

C. G. Jung: Das „Ewige“ im Menschen

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Vor 60 Jahren starb der bedeutende Psychologe Carl Gustav Jung. Der Schweizer war nicht nur Arzt und Forscher, sondern auch eine Art „alternativer Theologe“, der archetypische Wurzeln menschlicher Religiosität beschrieb.

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Vor 60 Jahren starb der bedeutende Psychologe Carl Gustav Jung. Der Schweizer war nicht nur Arzt und Forscher, sondern auch eine Art „alternativer Theologe“, der archetypische Wurzeln menschlicher Religiosität beschrieb.

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Er ist schon im späten Herbst seines Lebens, als Carl Gustav Jung in seinem Haus in Küsnacht von einem englischen Journalisten aufgesucht wird. Im Gespräch fragt der Reporter den damals 84-Jährigen, ob dieser als Kind an Gott geglaubt habe. „Oh, ja“, sagt Jung. Und jetzt, fast acht Jahrzehnte später? „Jetzt?“ Der grauhaarige Jung zögert kurz, dann entfalten sich seine Gesichtszüge zu einem jugendhaften Lächeln. „Schwierig zu beantworten. Ich weiß. Ich muss nicht glauben. Ich weiß.“ Der Journalist ist derart konsterniert, dass er nicht nachhakt, sondern zur nächsten Frage übergeht.

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Bevor Jung dieses so knapp wie forsch sagen konnte, ist er in jahrzehntelanger Arbeit durch die Höhen und Höllen seines eigenen Selbst geschritten. Nachzulesen ist dies seit einiger Zeit im mysteriösen, schillernd-ikonisch bebilderten „Roten Buch“, und zuvor bereits im 20-bändigen Gesamtwerk. Als praktizierender Arzt sah Jung die psychischen Abgründe von Menschen in „Irrenanstalten“ – und verhalf etlichen zur Heilung, zur Entfaltung und „Integration zur Ganzheit“.

Arbeit am eigenen Selbst

Mit der von ihm begründeten Analytischen Psychologie ist er, auch jenseits seines Fachs, zu einem Vorreiter einer Art nichtkonfessioneller Spiritualität geworden, deren Kern eben auf der psychischen Arbeit am eigenen Selbst fußt – der „Individuation“. „Individuation bedeutet, ein ‚In-Dividuum‘ zu werden“, ein nicht-geteiltes Wesen also. „Insoweit ‚Individualität‘ auch unsere innerste [...] Einzigartigkeit umfasst, bedeutet es auch, zum eigenen Selbst zu werden“, schrieb er.

Nachdem er sich in einem schmerzhaften Prozess von der Kirche seines Vaters – eines evangelischen Pastors – gelöst und eine innere „Nachtmeerfahrt“ vollzogen hatte, stellte Jung fest: Er selbst lebe nicht „im christlichen Mythos, sondern in meinem persönlichen Mythos… Ich verstand, dass das Selbst das Prinzip und der Archetypus von Orientierung und Sinn ist.“ Neben dieser Loslösung von der christlichen Religion – und der unorthodoxen Neu-Interpretation ihrer wichtigsten Symbole – wurde noch eine weitere Trennung fundamental für Jungs Psychologie: die von seinem zeitweiligen Mentor Sigmund Freud. Dessen Sexualtrieb-Theorie als grundsätzliche Erklärung für menschliches Verhalten ging Jung nicht weit, oder eher: nicht tief genug. Er selbst griff bei seinem Zugang zum Verständnis des Menschen und Patienten auf das Erbe der gesamten menschlichen Evolution zurück.

Es ist kein Wunder, dass Jung, jenseits seiner mangelnden NS-Distanz, von vielen Theologen kritisch gesehen wurde und wird.

Jan Opielka

Diese unterschiedlichen Ansätze der beiden sind auch an ihrem Umgang mit der Traumdeutung sichtbar. Freud habe seine Traum-Theorien „unmittelbar aus den Erfahrungen mit neurotischen Patienten entwickelt“, sagt der Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann. „Er sah in den Träumen selber eine Ersatzsprache, die vor allem durch die Zensur des Über-Ichs deformiert ist.“ Für Jung indes seien Träume nicht nur aus „neurotischen Deformationen [...] oder gesellschaftlich zeitbedingtem Druck hervorgegangen. Sondern da ist etwas buchstäblich Ewiges im Menschen, wenn man denn die riesigen Zeitkorridore der Evolution ein bisschen pathetisch beschreibt“, so Drewermann.

Dieses „Ewige“ lag Jung zufolge unterhalb des individuellen Unbewussten, im weit in die Geschichte der Menschheit zurückgreifenden „kollektiven Unbewussten“. Aus diesem schöpften alle Kulturen und Religionen – auch mittels der Träume – sinnververwandte oder gar gleiche archetypische Mythen, Symbole und Gottesbilder. Als „Archetypen“ werden in Jungs Psychologie die dem kollektiven Unbewussten zugehörigen Grundstrukturen menschlicher Vorstellungs- und Handlungsmuster bezeichnet. Die wichtigsten Archetypen sind demnach etwa das Selbst, der Gottmensch, der alte Weise, der Held. Könnte man das kollektive Unbewusste personifizieren, schrieb er, „so wäre es ein kollektiver Mensch, jenseits der geschlechtlichen Besonderheit, jenseits von Jugend und Alter [...].“

Im Unbewussten trage jeder von uns diesen „kollektiven Menschen“ in sich. Daher auch solle es Ziel eines jeden Menschen sein, vollständig zu werden, was bedeutet, unbewusste Teile des Selbst in einem lebenslangen Prozess zur Ganzheit zu integrieren. „Ich will lieber vollständig sein, als vollkommen“, sagte er über sich selbst.

Eine fundamentale, archetypische Vollständigkeit sah Jung etwa in Jesu Leben verwirklicht. Christus war für ihn in erster Linie ein psychisches Ur-Bild, das Menschen jenseits religiöser oder kultureller Grenzen in sich trügen. „Bestünde nicht eine Affinität [...] zwischen der Figur des Erlösers und gewissen Inhalten des Unbewussten, so hätte nie ein menschlicher Geist das Licht in Christo erblicken und es mit Inbrunst erfassen können. Das Verbindungsstück der beiden ist der Archetypus des Gottmenschen, der einerseits in Christo historische Wirklichkeit wurde und andererseits, als ,ewig‘ vorhanden, die Seele als übergeordnete Ganzheit, eben als Selbst, beherrscht.“ Ähnlich hatte es bereits Immanuel Kant gefasst. Selbst wenn es Christus nicht gegeben hätte, schrieb Kant, bedürfe es „keines Beispiels der Erfahrung, um die Idee eines Gott moralisch wohlgefälligen Menschen für uns zum Vorbilde zu machen; sie liegt als ein solches schon in unsrer Vernunft“. Laut Jung in jeder Vernunft, jeder Psyche – jenseits bestimmter Religionen.

Kritik an „Pseudoreligion“

Es ist daher kein Wunder, dass Jung, jenseits seiner zeitweilig mangelnden Distanz zum Nationalsozialismus, von vielen Theologen kritisch gesehen wurde und wird. „Pseudoreligiös“ seien Jungs Betrachtungen des Religiösen, er überschreite unzulässigerweise die Grenze der Psychologie, schrieb der jüdische Theologe Martin Buber im Jahr 1952. Bubers Kritik: Jung sehe Gott als immanenten Teil des Menschen, der seinerseits über „göttliche Schöpferkraft“ verfügen solle. „Grob gesagt“, schrieb Buber, ob Jungs Psychologie nun „versichert, ‚keine Weltanschauung, sondern eine Wissenschaft zu sein‘, sie begnügt sich nicht mehr mit der Rolle einer Interpretin der Religion; sie verkündet die neue, die einzig noch wahr sein könnende, die Religion der reinen psychischen Immanenz.“

In gewisser Weise traf Buber den Punkt, auch wenn Jung sich stets dagegen verwahrte, irgendeine Religion stiften zu wollen. Folgt man der Argumentation des Philosophen Peter Sloterdijk, gab und gibt es in der Geschichte der Menschheit ohnehin „keine ‚Religionen‘“, sondern nur „mehr oder weniger ausbreitungsfähige, mehr oder weniger ausbreitungswürdige Übungssysteme“.

So betrachtet hat C. G. Jung ein hierarchiefreies, nicht institutionalisiertes Übungssystem entwickelt. Für die polnische Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, vom Beruf Psychologin, hat ihr „privater Meister“ Jung vor allem das „benannt, was ich ahne“. Seine Konzeption sei ein „Grenzbereich von Psychologie, Theologie, der Versuch, einen gemeinsamen Nenner mit moderner Physik zu finden, die Anknüpfung an Traditionen der Philosophie und Mystik“, die zudem durch das Denken des Ostens bereichert werde. „Aus dieser Psychologie”, so Tokarczuk, „sollte eine Disziplin entstehen, die versuchen wird zu verstehen, was die Geistigkeit der Seele ist“.

Jung mahnte bis zuletzt, dass sich der Mensch eingehend mit dieser Geistigkeit beschäftigen müsse. Und mit dem Schatten, den nicht zu Bewusstsein dringenden Inhalten unseres Selbst – ohne die Auseinandersetzung mit dem Schatten gäbe keinen seelischen Fortschritt. Täten wir dies nicht, drohe die Katastrophe, persönlich und gesellschaftlich. Ob man nun an Gott glaubt, ob seiner weiß, oder nicht.

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