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Die christliche Befreiung

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Wenige Worte werden heute so viel und so verschieden gebraucht wie das Wort „Befreiung“. So ungleiche Systeme wie etwa der Marxismus in seinen mannigfachen Spielarten und der Liberalismus klassischer westlicher Prägung mit seinen Vorstellungen uneingeschränkter individueller Freiheit verwenden diesen Begriff zur Umschreibung ihrer Ziele. Der Ruf nach Befreiung aus materiellen und gesellschaftliehen Zwängen wird nicht weniger erhoben als die Forderung nach geistiger Emanzipation. Heute sind wir sogar verwirrte und schmerzerfüllte Zeugen von Vorgängen, durch die Menschen im Namen irgendeiner Befreiung der Freiheit beraubt werden. Nichts enthüllt die tragische Verstrickung des menschlichen Geistes und erst recht des christlichen Gewissens deutlicher, als die Berufung auf die Freiheit, um äußerste Gewalttätigkeit und Grausamkeit zu rechtfertigen.

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Wenige Worte werden heute so viel und so verschieden gebraucht wie das Wort „Befreiung“. So ungleiche Systeme wie etwa der Marxismus in seinen mannigfachen Spielarten und der Liberalismus klassischer westlicher Prägung mit seinen Vorstellungen uneingeschränkter individueller Freiheit verwenden diesen Begriff zur Umschreibung ihrer Ziele. Der Ruf nach Befreiung aus materiellen und gesellschaftliehen Zwängen wird nicht weniger erhoben als die Forderung nach geistiger Emanzipation. Heute sind wir sogar verwirrte und schmerzerfüllte Zeugen von Vorgängen, durch die Menschen im Namen irgendeiner Befreiung der Freiheit beraubt werden. Nichts enthüllt die tragische Verstrickung des menschlichen Geistes und erst recht des christlichen Gewissens deutlicher, als die Berufung auf die Freiheit, um äußerste Gewalttätigkeit und Grausamkeit zu rechtfertigen.

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Der Christ erfährt sich gegenüber diesen Erscheinungen in einer besonderen Schwierigkeit. Einerseits wird der Kirche und dem Christentum insgesamt vorgeworfen, es sei nichts anderes als ein System der Unterdrückung. Zumindest sei die Kirche stets - ein Freund der Unterdrücker gewesen. Anderseits wird gesagt, das Evangelium sei eine Urkunde der Befreiung, und zwar gerade auch der innerweltlichen Befreiung. Deswegen müsse der Christ, der es ernst mit seinem Glauben nehme, nicht nur immer auf der Seite der Unterdrückten stehen, er müsse auch jede gewaltlose Revolution unterstützen. Noch schwieriger wird die Situation für,den Christen, wenn er, weil er keift Revolutionär sein will, des Verrats am Evangelium beschuldigt wird,

Aber heißt denn die Schlußbitte unseres zentralen Gebetes nicht: „Sondern erlöse uns von dem Bösen?'“ Die Kirche verkündet doch Befreiung, Erlösung von Sünde und Tod. Sie versteht ihren Auftrag nicht zuletzt dahin, die? Freiheit des Menschen zu verteidigen, und zwar als Grundlage seines Menschseins und als Ausfluß seiner gottgegebenen Würde.

Das Wort, das heute fm allgemeinen für Befreiung gebraucht wird, heißt „Emanzipation“. Viele verstehen darunter vor allem die Neubewertung der Stellung der Frau in unserer Zeit. Aber es gibt auch Wortverbindungen, wie Sklavenemanzipation, Judeneimänzipation, Emanzipation des vierten Standes.

Ursprünglich stammt - der Begriff „Emanzipation“ aus dem römischen Recht. Er bezeichnete dort die Entlassung des erwachsenen Sohnes aus dem Maniciplum, aus der väterlichen Gewalt. Bis zu dieser Entlassung hielt der Vater nicht nur die Rechtsfähigkeit des Sohnes In seiner Hand, sondern auch die Gewalt über Leben und Tod.

Ähnliches gilt Im.römischen Recht von der Freilassung' des ^Sklaven. In beiden Fällen bedeutete die Freilassung nicht nur ein Zugeständnis von neuen Rechten afr den Emanzipierten, vielmehr £ gewann dieser durch die Emanzipation einen ihm eigenen Rechtsstatus, in welchem er frei und in voller Verantwortung über sich selber verfügen konnte. In gewisser Weise ist der römische Begriff mit dem Mündigwerden in unserer deutschen Rechtsordnung vergleichbar.

Allerdings bekam er sein heutiges Gewicht erst in jenem Augenblick, da sich das statistische Geschichtsverständnis früherer Zeiten in der Folge der Aufklärung in ein mehr dynamisches wandelte. Man begann, die Geschichte des Menschen als Freiheitsgeschichte au begreifen. Mit der beginnenden Säkularisation trat an die Stelle der eschatologischen Geschichtsdeutung die evolutionär«. Vor allem das Geschichtsbild Hegels wurde zur Grundlage eines pointierten '''Emanzipationsbegriffes, der dann durch Philosophen wie Feuerbach, Marx und Engels auch für den unmittelbar politisch-gesellschaftlichen Raum in Anwendung gebracht wurde.

An einigen gesellschaftlichen Systemen unserer Tage läßt sich das Dilemma, in welches ein dynamisierter Emanzipationsbegriff geraten mußte, leicht ablesen. Wird nämlich die Mündigerklärung jedes einzelnen als die volle Entscheidungsfreiheit über das eigene Leben und Seine Wertmaßstäbe verstanden, muß dies notwendig auch zu gesellschaftlichen Konflikten führen, weil die ohne Schranken und Maß gelebte Freiheit zur Verletzung der Freiheit anderer und des geordneten Zusammenlebens führt. So werden jene Situationen heraufbeschworen, deren Beseitigung man von.der Emanzipation erhofft hatte. Spätestens bei Feuerbach wurde ja auch die Relieion ausdrücklich in den emanzipatori-schen Prozeß mit einbezogen.

Sind also die modernen emanzt-patorischen Bestrebungen ein später Versuch, die Forderung der Französischen Revolution nach absoluter Freiheit und Gleichheit aller in der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu realisieren? Sind sie genährt von der sokratischep Hoffnung, daß der Mensch durch wachsende Erkenntnis edler werde, einer alten Menschheitshoffnung, die im Grunde genommen schon im Paradies gescheitert ist? Gescheitert sind auch die Utopien der Französischen Revolution, da sie durch Gewalttätigkeit und neues Unrecht die Befreiung nicht herbeiführten, sondern im Namen der Freiheit den Menschen Böses taten.

Sollen wir also den Pragmatikern oder den Technokraten das Wort reden?

Theodor Adorno hat darauf aufmerksam gemacht, daß die planmäßige Steuerung auch der gesamten Innensphäre durch die Kulturindustrie dazu führe, daß kein Mensch In der heutigen Gesellschaft wirklich nach seiner eigenen Bestimmung existieren könne. Dies bedeutet, daß der moderne Mensch durch die für ihn im Detail nicht mehr überschaubare technisierte Umwelt derart manipuliert wird, daß er nicht nur nicht über sich selbst verfügen kann, sondern sich selber verliert.

Nun scheint es freilich eine der großen Bedrohungen unserer Zeit zu sein, daß der Mensch sich in der totalen Manipulation und im materiellen Wohlstand weithin wohl fühlt und daß er den Verlust der Selbstbestimmung gar nicht mehr als solchen empfindet.

Aus alledem wird verständlich, daß wir heutigen Menschen einen geschärften . Sinn für die Freiheit haben und für die Emanzipation von unguten Zwängen. Das Zweite Wati-kanum hat dazu folgendes gesagt: „Die gesellschaftliche Ordnung und ihre Entwicklung müssen sich nämlich dauernd am Wohl der Personen orientieren; denn die Ordnung der Dinge muß der Ordnung der Personen dienstbar werden und nicht umgekehrt. Die gesellschaftliche Ordnung muß sich ständig entwickeln, muß in Wahrheit gegründet, in Gerechtigkeit aufgebaut und von Liebe beseelt werden und muß in Freiheit ein Immer humaneres Gleichgewicht finden.“ Das Konzil weist vor allem immer wieder darauf hin, daß die Würde des Menschen mehr verlange als nur ökonomischen Wohlstand oder gesellschaftliche Freiheit. Das heißt aber doch,, daß jeder, der die Befreiung des Menschen auf jene Gebiete beschränkt, nur neue Manipulation und damit Unterdrückung vorbereitet.

Hier muß noch folgendes gesagt werden: Der Mensch kann in seiner Freiheit nicht weniger bedroht Werden dnrnh 7.1] errißen Reichtum als durch zu große Armut. Die Bedrohung des Menschen kommt niemals nur von einer Seite. Das Zweite Vatikanische Konzil stellt fest: „Die menschliche Freiheit ist oft eingeschränkt, wenn der Mensch es sich im Leben zu bequem macht und sich in einer .einsamen Selbstherrlichkeit' verschanzt. Umgekehrt gewinnt sie an Kraft, wenn der Mensch die unvermeidlichen Notwendigkeiten des gesellschaftlichen Lebens auf sich nimmt, die vielfachen Forderungen des menschlichen Zusammenlebens bejaht und sich dem Dienst an der menschlichen Gemeinschaft verpflichtet weiß.“

In der Tat, die Freiheit des Menschen bekommt erst dann ihr volles Gewicht, wenn der Mensch s,ich selbst, alle seine Kräfte und Fähigkeiten in den Dienst der menschlichen Gesellschaft einzubringen vermag. Nur in der wechselseitigen Spannung van Freiheit und Dienst kann es zur Entfaltung echter Humanität kommen. Gewiß muß dem Menschen das Recht gesichert werden, über sich selbst zu bestimmen, die Verwirklichung der in ihm grundgelegten Gaben und Fähigkeiten aus freien Stücken zu bewirken. Dies Recht und diese Freiheit werden ihn aber in tiefere Abhängigkeit stürzen als es eine von außen auferlegte tun kann, wenn er sich nicht in Dienst nimmt und in Dienst nehmen läßt.

Alle Utopien philosophischer .oder politischer. Natur, die die absolute Freiheit gefordert haben oder fordern, sind immer in Gefahr, in die Tyrannei zu führen.

Immer ehrt es den Verfechter der Befreiung aller Menschen aus unmenschlichen Zwängen, wenn er seinen Kampf mit heißem Herzen führt. Dieser Kampf aber wird scheitern, wenn sein Kopf dabei nicht kühl bleibt. Mit anderen Worten: Unsere persönliche Erschütterung über Unrecht, Leid und Not in dieser Welt darf uns nicht zu unsachlichen Vorschlägen und Projekten verleiten. Sonst bestände die Gefahr, daß die, denen wir helfen wollen, die Zeche für unsere Torheit bezahlen müßten. Mitleid als moralischer Antrieb zum Handeln Ist gut. Mitleid als Ratgeber zur Lösung praktischer Fragen ist meist untauglich. Das spontane und nicht selten unüberlegte Handeln hilft leider oft eher der Beruhigung eines schlechten Gewissens über eigenen Wohlstand oder größere Freiheit als zur Besserung der Zustände für die unmittelbar Betroffenen. - %\\

Die Botschaft Jesu Christi vom Heil hat den ganzen Menschen im Blick, den Menschen als leibliches und geistiges, als individuelles und soziales, als geschichtlich endliches und als für die Ewigkeit bestimmtes Wesen. Zugleich aber hat das Evangelium sozusagen einen doppelten Schwerpunkt: Es geht um Gott und um Gott allein, um seine Ehre, um die freie Anerkennung seiner Herrschaft, um die Liebe zu ihm, es geht um die Erlösung und Begnadigung durch ihn und ihn allein. Aber die Hinwehdung des Menschen zu Gott sofll sich in der Liebe zum Nächsten bewähren.

Der Mensch, der sich in Freiheit zu Gott wendet und im Glauben mit Gott verbunden ist, bleibt in dieser Freiheit, auch wenn er äußerlich unfrei ist, ja im Grenzfall kann er sich in Freiheit dn die äußerste Unfreiheit begeben. Wann war der polnische Pater Maximilian Kolbe freier als in dem Augenblick, da er aus den Reihen der Häftlinge in Auschwitz vortrat und sich statt des Familienvaters für den Todesbunker meldete!

Weil der Mensch die von Gott geschenkte. Freiheit hat, ist er vom Glauben her verpflichtet und befähigt, sich für die äußere und innere Freiheit seiner Mitmenschen einzusetzen. Er muß das Ihm Mögliche zu tun, um im Bereich des menschlichen Zusammenlebens dem Menschen ..zur Freiheit zu verhelfen.

Die von Gott.geschenkte Freiheit und die vom Menschen zu verwirklichende Freiheit dürfen weder auseinandergerissen noch miteinander vermengt werden. Ein Auseinanderreißen würde bedeuten, daß die Erlösung durch Christus auf den Bereich des Innerlichen und Jenseitigen beschränkt, würde. Ein Vermengen würde zu einem unchristlichen Integralismus führen, der alle irdischen Bereiche beschlagnahmt und damit die Freiheit bedroht.

Das hat auch strukturelle Konsequenzen für die Kirche: Sie kann sich nicht“ als nur kompetent für das ewige Heil erklären und sich darum aus dem Dienst an der Gesellschaft heraushalten. Sie kann sich aber auch nicht im Dienst für die Gesellschaft erschöpfen

Das Evangelium selbst also gibt eine doppelte; aber nicht widersprüchliche Wegweisung für den Dienst der Christen und der Kirche an der Befreiung. Einseitige Berufung auf den einen oder anderen Aspekt der evangelischen Aussagen allein führt zu Verkürzungen.

. Es fällt auf, daß Jesus seine besondere Sorge den Geknechteten und Benachteiligten zuwendet. Die Haltung bleibt Maß-gebend auch für die

Kirche, jedoch innerhalb der Sorge für alle und der Sendung an alle. Denn an alle Völker und an alle Welt ist die Botschaft Jesu Christi gerichtet. Es ist bemerkenswert, daß Jesus aber gerade nicht zum Kampf gegen die äußeren Strukturen und Verhältnisse aufgerufen und beigetragen hat, die die Freiheit des Menschen einengten. Jesus war kein Sozialrevolutionär, denn Jesus geht es um eine tiefere Freiheit, die sich nicht in der Uberwindung von äußeren Unfreiheiten erschöpft i ja, er will die äußere Unfreiheit von der inneren Freiheit her nicht nur erträglich, sondern überwindbar machen. Das christliche Verhältnis zwischen Herr und Sklave, Jude und Grieche, Mann und Frau „unterwandert“ und überwindet alle verengenden soziologischen Vorentscheidungen. -

Die Grundbefreiung von der. Sünde und vom Tode allen Menschen durch Wort und Sakramente zu bringen, ist das unverwechselbare Proprium und das Prius des kirchlichen Auftrags. Das ist durch keinen noch so guten und richtigen sozialen Dienst zu ersetzen. Hier wird auch deutlich, welchen unverwechselbaren Auftrag das priesterliche Amt in der Kirche hat. Zu diesem Auftrag gehört wesentlich auch die Verkündigung der durch Menschwerdung, Kreuz und Auferstehung Jesu Christi begründeten Brüderlichkeit, die zugleich der stärkste Impuls für die Verwirklichung der Freiheit aller Menschen ist.

Vor dieser Aufgabe, nämlich der Befreiung aus den Zwängen der Schuld, ist das Problem jeder anderen Befreiung gering zu erächten, aber von daher gewinnt es auch eine tiefere Dimension. Es“'nützt dem Menschen nichts, wenn er aus allen diesseitigen Zwängen ..befreit wird, der Zwang der Schuld aber bestehen bleibt. Auch wenn alle Unfreiheit und alle Not beseitigt wären, bedürfte der Mensch der rettenden Botschaft Gottes und müßte die Kirche Gottes Heil in Christus verkünden und zur Umkehr und Buße rufen. Selbst wenn es uns gelänge, eine äußerlich völlig geordnete Welt zu schaffen, wäre am Tage ihrer Vollendung die Aufgabe der Kirche um nichts weniger aktuell als im Augenblick des Sündenfalls.

Ich zitiere eine Stimme aus einem Entwicklungsland: „Wenn man nicht den ganzen Menschen erfaßt, seine Mentalität vor allem — die durchaus nicht immer gut ist —, Hat es gar keinen Zweck, Gelder in diese Entwicklungsländer zu werfen oder Hilfskräfte dorthin zu entsenden. Vielleicht wäre das sogar eher zum Schaden als Nutzen dieser Menschen“ (Brief des Bischofs von Cruzeiro do Sul vom 26. September 1972). Wer als Christ sagt, Aufgabe gerade der Christen sei die Änderung der Verhältnisse und möglicherweise sogar mit Gewalt, und nicht weiß oder nicht sagt, daß die eigentliche Befreiung des Menschen In seinem Verhältnis zu Gott beginnen muß, der hat — bildlich gesprochen — nicht zu enge Schuhe an, sondern geht einen falschen Weg.

Im luxemburgischen Echternach ist der heilige , Willibald begraben, der große Missionsbischof von Utrecht und Apostel der Friesen. Uber seinem Grab ist eine schlichte Tafel angebracht mit der Inschrift: „Du stehst hier am Grab des Mannes, der als erster dir Religion und Kultur brachte.“ Hat es je einen Missionar gegeben, der seinen Heilsauftrag auf das übernatürliche Leben beschränkt hätte? Verkündigung des Wortes und Dienst an den Menschen sind immer Hand in Hand gegangen. Auf dem europäischen Kontinent war es so zur Zeit seiner Missionierung, und In den Entwicklungsländern ist es heute nicht an«-ders. Die große. Leistung der christlichen Missionstätigkeit damals in Europa und heute in den Entwicklungsländern beruht darauf, daß Religion und Kultur niemals als Alternativen gelehrt oder praktiziert wurden. Es gibt heute Theorien und Ideologien, marxistische und li'bera-listische, die aus Religion und Kultur Alternativen machen möchten. Sie werden keine bessere Zukunft und keine wahre Befreiung des Menschen bringen.

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