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Neue Chance der Gotteserfahrung

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Dominanz der Strukturen, Sprachzerfall, Instrumentalisierung des Menschen: Erfahrungen, die es ermöglichen, dem sich in der Armut und Ohmacht Jesu offenbarenden Gott zu öffnen.

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Dominanz der Strukturen, Sprachzerfall, Instrumentalisierung des Menschen: Erfahrungen, die es ermöglichen, dem sich in der Armut und Ohmacht Jesu offenbarenden Gott zu öffnen.

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Wenn nach einem geistreichen Wort die Zukunft auch nicht mehr ist, was sie war, mag dies mit grundlegenden Umwälzungen und Entwicklungen unserer Erfahrungswelt zusammenhängen. Hat das Thema „Freiheit" wie kein anderes in der Neuzeit in der Veränderung der religiösen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Lebensformen einen besonderen geschichtlichen Rang erhalten, so ist mittlerweile dieses „Experiment der Freiheit"

auch schon auf bislang ungeahnte Grenzen gestoßen. Dabei denken wir nicht nur an die neuen Existenzprobleme des Menschen selber, die zu vielfachen Überlegungen bezüglich der Errungenschaften unserer Freiheit vor allem in der technischen Beherrschung und Manipulation der Natur geführt haben, die Fragen der Grenzen des Wachstums, der Ressourcenknappheit, der Ökologie u. a. m., sondern an die der Freiheit gleichsam von innen her erwachsenden Gefahren, die die in ihr begründete Würde des Menschen ernsthaft bedrohen.

Die Moderne mit ihrem raschen Wechsel macht den Menschen vergeßlicher, unaufmerksamer und äußert sich weithin bereits in einem unverbindlichen, „hypothetischen" und durch einen wachsenden Realitätsschwund gekennzeichneten Lebensstil. Das kaum mehr zu vermittelnde Nebeneinander verschiedener Sprachen, Sprachwelten und nach immanenten Regeln funktionierenden „Sprachspiele" hat die Kommunikationsfähigkeit erheblich herabgesetzt und dies, obwohl die Menschen aufgrund des modernen Nachrichtenwesens einander nie so nahe waren.

Es scheint der Mensch - wie Kulturkritiker prophezeien - in eine Art „zweite Unmündigkeit" (J. B. Metz) zu sinken. Ein Verfall an kritischer Vernunft zugunsten der instrumenteilen Vernunft, eine neue „Barbarei" beginnt sich abzuzeich-

nen, wie sie Horkheimer und Adorno als seltsame „Dialektik der Aufklärung" diagnostizierten. Mitten im registrierten „Sprachzer-fall", der „Dominanz des Strukturellen", dem irrationalen Status einer „Evolutionslogik" und dem damit verbundenen Verlust geschichtlicher Erinnerungsfähigkeit ist auch schon das Wort vom „schleichenden Tod" des Menschen selber (J. B. Metz) gefallen.

Es wäre allerdings faule Taktik eines Apologeten, aus den Erfahrungen dieser Noch- oder Nachmoderne unmittelbar theologisches Kapital schlagen zu wollen, indem man den Gott des Christentums zur Rettung des Menschen im Kampf um seine Menschlichkeit heraufbeschwört. Dennoch mögen wir heute bereits deutlicher damit rechnen, daß sich diese Religion schon um des Glaubens willen die Freiheit im Vollraum ihrer menschlichen Würde auch bis hinein in die Möglichkeit einer Selbstinterpretation ohne Gott voraussetzt und der Mensch -wie man vom Glauben her oft zuwenig in Rechnung stellt - innerhalb seiner Humanisierungsprozes-se das durchaus besinnungsfähige Wesen der Umkehr und Erinnerung bleibt.

Immerhin eröffnen sich hier und heute neue Chancen einer Gotteserfahrung, in der uns gerade der Gott epochal näher rückt, der mit seiner gesamtmenschlichen Gnade auch ein Leben des Menschen im Ganzen menschlicher Sinnansprüche verlangt und darin seinen Sinn entfaltet. Nicht das Christentum istin einer Krise. In die Krise geraten ist aber eine Auffassungs- und Lebensform des Christentums, die es abzieht von der Wirklichkeit, es isoliert und sich im Grunde genommen, weil es sich nicht der Lebenswelt des Menschen voll aussetzt, der Möglichkeit einer echt christlichen Erfahrung Gottes beraubt, in der er uns als der unerschwingliche und unauslotbare Sinn des Menschen neu aufgehen könnte.

Diejenigen, die den Glauben von der Humanität abtrennen, müßten sich eigentlich fragen lassen, ob sie

wirklich ernsthaft glauben, daß Gott seine eigenste Wirklichkeit gerade im Ja zum Menschen geoffenbart hat.

Der Glaube verschleiert nichts, er tröstet nicht billig und träumt auch nicht von spannungslosen Harmonien. Er hat einen nüchternen Blick auch für die Schattenseiten des Lebens, für das Vertane, das Unwiederbringliche, das Bruchstückhafte und überhaupt für das Unversöhnte und Unversöhnbare unserer Lebenswirklichkeit. Deshalb drängt er in eine Gemeinschaft mit denen, die stöhnen und leiden im Hunger nach einer Gerechtigkeit, die mehr ist als eine möglichst ausgewogene Lebensbilanz. Es gibt den „wunden Punkt" unserer Wirklichkeit, der, mag man sich damit auch längst schon resignativ abgefunden haben, durch keine gesellschaftliche wie auch individuelle Selbstverwirklichung geheilt werden kann. Unglaube wäre es, das Leben in dieser tiefsten Entfremdung ideologisch stillegen, verharmlosen oder „sündevergessen" sich nur auf die kleinen Perspektiven des Lebens zurückschrauben zu wollen.

Nicht das Vergessen, nicht die Unterdrückung, sondern das bewußte Hervortretenlassen der Freiheit auch in dieser letzten Ohnmacht ist selbst schon eine Form des christlichen Gottesgedächtnisses, das uns dem näher bringt, der sich in der Armut und Ohnmacht Jesu selbst gewährte, indem er nicht nur den Menschen in seiner freien Würde, sondern auch sich selbst als Schöpfer endgültig gerechtfertigt hat. Der Glaube weiß und ergreift in dieser Selbstgewährung die neue Sinngebung unseres Daseins, das er voll anerkennt, voraussetzt und fordert, indem er es als nichts Letztes überschreitet.

Vielleicht stehen Menschen heutiger Welterfahrung wieder bewußter in der Erwartung jenes „Wor-

tes", das uns den menschenfreundlichen Gott näherbringt, der umgreift und heilt, wo sie das Bruchstückhafte und Rätselhafte ihres endlichen Lebens zu keinem heilen Ganzen zu bringen vermögen. Darin liegt der eigentliche Schlüssel für die Neuentdeckung Jesu: Wir erfragen ihn heute nicht mehr als den Repräsentanten einer gewissenhaft verinnerlichten Moral, der in der Heteronomie eines im Gesetzesgehorsam erstarrten Lebens für die Autonomie des Gewissens steht, wir suchen ihn auch nicht mehr als das produktive Vorbild für die Verwirklichung der Humanität in Friede und Gerechtigkeit, als Symbolfigur für Menschenrechte und ihre institutionelle Verankerung.

Gefragt und gesucht ist er in der Fraglichkeit, Strittigkeit und Not des Glaubens als die hilfreiche Zusage einer freien und befreienden Gottesbegegnung, die auch noch einmal ein moralisch verkürztes Gottesverhältnis als Spiegelung und Durchsetzung humaner Kriterien in letzter Instanz hinter sich läßt. Es ist die Urerfahrung des jesuanischen Glaubens, die in reflexer Durchbildung die Eigenart des christlichen Glaubens geworden ist, daß Gott sich im Ja zum Menschen nicht kurzschlüssig an dessen eigenes Werk bindet, ohne es deshalb als belanglos zu distanzieren, wie es nun einmal in die Freiheit der Liebe selbst gehört, die nicht richtet und verwirft, sondern sucht und verwandelt und darin den Menschen zu neuer Freiheit auferstehen läßt. Daran zerbricht nicht nur der moralische Gott einer moralischen Weltordnung, sondern im gleichen auch der despotische Gott der Willkür, der gewissenlos heimsucht, straft oder beseligt.

Im Freiwerden von dieser Alternative ist der Glaube die größere Freiheit, weil kein theoretischer oder praktischer Maßstab aus der Endlichkeit herhalten muß und herhalten kann, das letzte Geheimnis des Daseins vor Gott zu ermessen.

Der Autor ist Dekan an der Katholisch-Theologischen Fakultät Wien.

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