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Ist Gott für uns ein Fremder?

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Zum Kongreß der Europäischen Gesellschaft für Theologie Ende August in Freising (Thema: „Gott - ein Fremder in unserem Haus?”) kamen auch Gäste aus Übersee. Die teilnehmenden Frauen waren sich einig: Der nur von Männern gepredigte Gott ist uns fremd!

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Zum Kongreß der Europäischen Gesellschaft für Theologie Ende August in Freising (Thema: „Gott - ein Fremder in unserem Haus?”) kamen auch Gäste aus Übersee. Die teilnehmenden Frauen waren sich einig: Der nur von Männern gepredigte Gott ist uns fremd!

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In unserer Welt haben sich tiefgreifende Veränderungen im Verhältnis der Kultur zur Beligion und besonders zu den christlichen Kirchen vollzogen. Die Ansicht, die Moderne habe einen steilen Niedergang der Religion sowohl im öffentlichen Leben im allgemeinen als auch in den Köpfen und Herzen der einzelnen Menschen verursacht, ist eine weithin akzeptierte Sichtweise. Mircea Eliade behauptete schon vor Jahrzehnten, daß sich der areligiöse Mensch erst in der modernen europäischen Gesellschaft voll entfaltet hat. Er betrachtet sich nur, indem er eine neue existentielle Situation auf sich nimmt, als Subjekt der Geschichte, und er verweigert sich dem Transzendenten.

Und Friedrich Nietzsche notiert in seinem fünften Buch „Die fröhliche Wissenschaft”: „Das größte neuere Ereignis - daß der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist - beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen. Für die wenigen wenigstens, deren Augen, deren Ärgwohn stark und fein genug für dies Schauspiel ist, scheint eben irgendeine Sonne untergegangen, irgendein altes, tiefes Vertrauen in Zweifel umgedreht. Ihnen muß unsere alte Welt täglich abendlicher, mißtrauischer, fremder scheinen. In der Hauptsache aber darf man sagen: das Ereignis selbst ist viel zu groß, zu fern, zu abseits vom Fassungsvermögen vieler, als daß auch nur seine Kunde schon angelangt heißen dürfte; geschweige denn, daß viele bereits wüßten, was eigentlich sich damit begeben hat - und was alles, nachdem dieser Glaube untergraben ist, nunmehr einfallen muß, weil es auf ihm gebaut, an ihn gelehnt, in ihn hineingewachsen war...”

Die weitschauende Intuition Friedrich Nietzsches scheint unserer geistesgeschichtlichen Entwicklung immer noch voraus zu liegen. Selbst Theologen fragen heute, ob Gott ein Fremder in unserem Hause ist. Wenn sie von Gott als einem Fremden sprechen und dies als ein Charakteristikum unserer Gegenwart ansehen, dann liegt in diesem Wort die Behauptung, Gott sei jener, der in unseren Lebensraüm eigentlich nicht hineingehört. Zugleich schwingt die Unterstellung mit, Gott sei in früheren Zeiten der vertraute, selbstverständliche Wohlbekannte gewesen. Jener, der immer schon zu unserem Lebensraum und zu unserer Gesellschaft gehört hat. Ist die Charakteristik der gegenwärtigen Stunde als der Epoche der Fremdheit Gottes angemessen?

Vollzieht sich mit der Moderne ein epochaler Wandel? Wird Gott vom selbstverständlichen Gott zum fremden Gott? Mit diesem Thema setzte die europäische Gesellschaft für Theologie einen scharfen Akzent. Es gibt zweifellos einen erheblichen Problemstau in der Kirche. Man kann brennende Fragen nicht einfach über Jahre tabuisieren.

Die eigentlichen Fragen des Glaubens in der heutigen Zeit kreisen um das Geheimnis Gottes. Es liegt aber auf der Hand, daß die Fraglosigkeit des vertrauten Gottes beziehungsweise der erschauten Götter - wie Aristoteles sie charakterisiert hat und die christliche Theologie sie voraussetzen konnte - im Kontext modernen Denkens zu einem Moment vergangener Wirklichkeitserfahrung geworden und ferngerückt ist. Gott wird vom selbstverständlichen nicht nur zum fremden Gott, er wird zum entfremdenden Gott. Paul Valadier hat in seinem Eröffnungsvortrag zu diesem Kongreß diesen Zusammenhang in exzellenter Weise analysiert

Wenn die Unterscheidung, wie sie Peter Hünermann am Kongreß vertreten hat, zwischen dem Gott der biblischen Offenbarung, der nie zum Gott der Selbstverständlichkeiten werden kann und somit der „wahrhaft fremde Gott” bleibt und dem vertrauten Gott der europäischen Überlieferung triftig ist, so ergeben sich wichtige Perspektiven hinsichtlich der Bewertung der kirchlichen Lage in der kulturellen und geistigen Situation der Gegenwart. Gehört es dann nicht zur Erfahrung der Kirche, daß sie ihre eigenen Institutionen und ihre Überlieferung schärfer im Lichte der Zeitlichkeit sehen lernt?

Die Kirche ist herausgefordert, von früher ganz selbstvertändlichen Formen und institutionellen Regelungen Abschied zu nehmen, weil der klare Blick der Gegenwart sehr viel deutlicher „ideologische Momente, Illusionen, die zu kirchlichen Einrichtungen geronnen sind” durchschauen läßt. Wenn die Kirchenpolitik des 19. Jahrhunderts über lange Jahrzehnte hinweg von Tendenzen geprägt war, an überlieferten, temporären Sinngestalten festzuhalten und sie gegen die analytische Rationalität der Neuzeit zu verteidigen - Peter Hünermann wies in diesem Zusammenhang auf die Herausbildung der Neuscholastik und zahlreiche restaurative Tendenzen der jüngsten Vergangenheit hin —, dann äußert sich im Grunde in solchen Versuchen ein Geist des Kleinglaubens, der die Dynamik des Geistes Gottes in der Geschichte zu bremsen sucht.

Es kann nämlich der Fall eintreten, daß der lebendige Gott gegen unseren Willen aus dem Rahmen des von uns gemachten Bildes heraustritt. Dann dürfte man vielleicht mit Nietzsche sagen: „Gott ist tot.” Mit Carl Gustav Jung wäre es aber richtiger zu sagen: „Gott hat unser Bild abgelegt, und wo werden wir ihn wieder finden?” Und er setzt fort: „Als Nietzsche sagte, Gott ist tot, sprach er eine Wahrheit aus, die für den größten Teil Europas gültig ist. Die Folgen stellten sich ohne Zögern ein: die Umnachtung und Bene-belung durch -ismen. Niemand verstand es, einen Schluß aus Nietzsches Ankündigung zu ziehen.”

Der Gott der biblischen Offenbarung und der Glaube an ihn sind nicht für den Aufbau des europäischen Hauses zu instrumentalisieren. Die Verheißung Gottes bewegt sich auf der Ebene der Umkehr, des Gewinns von Sein durch Gott her. Es läuft nicht darauf hinaus, Europa den christlichen Glauben als Zivilreligion anzudienen. Es gibt in den Augen der Glaubenden keine schlimmere Pervertierung als den Versuch, das christliche Glaubensbekenntnis zur Förderung eines der öffentlichen Ordnung dienenden Ethos und einer Legitimierung der Macht einzusetzen.

Der lebendige Gott kann sich nicht durch „irgendetwas” mitteilen. Er kann nur dadurch offenbar werden, daß der Mensch in seiner Lebenspraxis seine Identität von Gott her empfängt und vollzieht. In Jesus Christus ist dieses Geschehen aufgedeckt. Er ist der Sohn, der seine Herkunft im Vater hat, durch ihn werden die Menschen in dasselbe Ursprungsverhältnis aufgenommen und zu einem Vollzug im Geiste Gottes befähigt.

Wenn aber Gott fremd ist in unserem Hause, wo soll sich dann der Mensch beheimatet fühlen? Selbst für Paul Zulehner, der eine realistische religionssoziologische Diagnose vorgelegt hat, ist es schwierig, die Schuldigen für ein diffuses Gottesbild in einer jahrtausendalten christlichen Kultur auszuforschen. Wächst die Gefahr, wie Johann Baptist Metz befürchtet, daß aus der „gefährlichen” Erinnerung des Gottesglaubens eine gefahrlose Religion ohne Gott wird?

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