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Gottes Traum vollenden

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Hat das jüdische Volk recht, wenn es noch immer auf den Messias wartet? Woran wird heute erkennbar, daß Gottes Wort Fleisch, daß unser Gott Mensch geworden ist?

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Hat das jüdische Volk recht, wenn es noch immer auf den Messias wartet? Woran wird heute erkennbar, daß Gottes Wort Fleisch, daß unser Gott Mensch geworden ist?

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Einem jüdischen Rabbi bringen eines Tages seine Schüler die Nachricht: „Der Messias ist gekommen.“ Der Rabbi steht auf, geht ans Fenster, blickt auf die Straße, kommt zurück und setzt sich wieder hin. „Was ist nun? Was sollen wir tun?“ fragen ihn die Schüler. „Nichts sollt ihr tun, weiterlernen sollt ihr“, sagt der Rabbi. „Wie kann der Messias gekommen sein, wenn nichts in der Welt sich verändert hat?“

Hat der Rabbi nicht recht? Müssen wir Christen nicht gegen alle Wirklichkeit—nahezu verzweifelt — glauben und behaupten, daß das Kind, geboren zu Bethlehem, der über Jahrtausende Ersehnte, der Messias ist? Daß Gott sich also

„eingemischt“ hat in unsere weltliche Todesgeschichte, damit das Leben Raum bekommt? Spricht nicht alles dagegen? Hat daher nicht das jüdische Volk recht, wenn es immer noch wartet, bis endlich der Messias kommt? Woran wird heute erkennbar, daß Gottes Wort Fleisch, daß unser Gott Mensch geworden ist? Was hat sein Kommen verändert?

Nun könnte man immer noch, gleichsam katechismusartig, zeigen, daß in der Geburt des Messias der uralte Traum Gottes von der Menschheit in die Erfüllungsphase eingetreten ist. Denn dies ist sein Traum: Er, der in sich überreiche Liebe ist, „beschließt“, sich selbst an jemanden zu verschenken, der er selbst nicht ist. Gott, der dreifaltige Liebe ist, wird vorstellbar als unendliche Liebesgebärde. Und indem er sich „nach außen“ (wie können wir dies denken?) verschenkt, schafft er uns mit, die Adressaten seiner Liebe. Er erschafft, weil er Sehnsucht hat nach dem Menschen und nicht ruht, bis er am Herzen des Menschen ruht. Erst dieser Satz macht auch seine bekanntere Umkehrung verständlich, daß auch wir randvoll sind von maßloser Sehnsucht nach Gott, und unser Herz nicht zur Ruhe kommt, bis es am Herzen Gottes ruht.

Eben dies ist Weihnacht, die sich in der Auferstehung Jesu vollendet: Gottes Sehnsucht gelangt unwiderruflich an ihr Ziel. Gott verbindet sich so sehr mit einem Menschen, daß er am Herzen eines Menschen zur Ruhe kommt. Gottes Schöpfungstraum tritt ein in die Zeit der Erfüllung. Endzeit ist (1 Kor 10,11; Lumen gentium 48). Genauer, Anfang der Endzeit. Denn Gott ist ja dabei, seinen Schöpfungstraum nicht nur am Ersten von uns einzulösen, sondern an uns allen, der einen Menschheit. Was Gott also an einem von uns vollendet hat, ist er dabei, an der ganzen Menschheit ausreifen zu lassen. Die Menschwerdung Gottes in Christus soll als Gabe Gottes an alle vollendet werden.

An dieser Stelle unserer heilsgeschichtlichen Meditation (über den Traum Gottes von der Schöpfung, ihre angebrochene Vollendung in Jesus, dem Christus, und die Bestimmung des Menschen) finden wir Zugang zur Rolle von uns Christen, unserer Kirche. Wir sind berufen, erwählt, in der noch ausstehenden Geschichte in Erinnerung zu halten und voranzutreiben, was Gott in Jesus erreicht hat: seine Einnistung in unsere Geschichte, seine Auferstehung. Damit halten wir aller Welt vor Augen, was die Bestimmung aller ist, und daß Gott schon angefangen hat, reuelos die Geschichte zu vollenden.

Kirche ist berufen, in Erinnerung zu halten, daß „Gott mit uns ist“ (Jes 61,lf.; Sach 8,23; Mt 1,23): daß also sein Wort Fleisch geworden ist. Unser unverzichtbarer Dienst an der Welt ist es, anders f omuliert, Gottesauslegung zu betreiben. „Wie kann Gott mir helfen, hat er mich doch mit einer Mutter bestraft, die nichts für mich übrig hat“, so schrieb kürzlich eine 17jährige über Gott und die Kirche. Die Mutter hat Gott nicht in „Kredit“, sondern Mißkredit gebracht. Gewiß, die verläßlichste Gottesauslegung ist Jesus selbst. Dieses „Amt“ hat er aber seiner Kirche vermacht. Wie kommt aber Gott in unserer Kirche vor, wie kommt er für die Menschheit durch uns ans Licht? Wie steht es um das „Gottvorkommen“ in unserer Kirche?

Als das Volk Israel, von seinem Gott aus der Sklaverei in Ägypten befreit, auf dem Weg durch die Wüste ist—es soll dort mit seinem Gott vertraut werden —, zweifelt es an dessen Verläßlichkeit und Nähe. Der Grund: Sie meinen, weil sie kein Wasser haben, sei ihr Leben bedroht; man könne also Jahwe nicht trauen, auch wenn er sich geoffenbart hat als „Ich da für“ (Ex 3,7). Da stellt das Volk die Frage: „Ist der Herr in unserer Mitte oder nicht?“ (Ex 17,7). Josef Fischer, theologisch hochbegabter Pfarrer aus Niederbayern, hat diese Frage umgeformt in das bedrängende Suchwort vom landläufigen, epidemischen „ekklesia-len Atheismus“.

Ob „Gott mit uns“ ist, erkennt man an der Art, wie wir als Christen zusammenleben. Mystik führt bruchlos zur Geschwisterlichkeit. Je mystischer wir Christen sind, desto geschwisterlicher werden wir sein“. Umgekehrt: Eine ungeschwisterliche Kirche ist tendenziell Gott los, sie ist „ekkle-sial atheistisch“.

Auf die Frage, was die Nachfolge „zeitigt“ (also jetzt schon bewirkt), sagt Jesus: Verlassen werden die „alten Lebensfelder“ (Haus, Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Kinder, Äcker); dafür erhält der nachfolgende Christ jetzt ein „neues Lebensfeld“ (Häuser, Brüder, Schwestern, Mütter, Kinder und Äcker) und einst das ewige Leben. Kirche ist somit ein neuer Lebensort mit einem neuen Lebenszentrum: Gott selbst, der „unter uns ist“.

Daher entfällt in der zweiten Aufzählung der Vater. (Mk 10,28-30) Bewußt: „Auch sollt ihr niemand auf Erden euren Vater nennen, denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel.“ (Mt 23,9) Wie aber auf dem „alten Lebensfeld“ das (damals patriarchale) Lebenszentrum die Mitglieder der Familie zu Geschwistern gemacht hat, so wird, wer auf das Lebensfeld Gottes (unsere Kirche) „einsiedelt“, mit allen seinen

Bewohnern verbunden durch eine „neue Geschwisterlichkeit“.

Alle menschlichen Herrschaftsordnungen, alle Hierarchien sind zu Ende, weil allein Gott herrscht, was alle untereinander zu gleichwürdigen Schwestern und Brüdern macht: „Unter allen Gläubigen besteht, und zwar auf Grund ihrer Wiedergeburt in Christus, eine wahre Gleichheit in ihrer Würde und Tätigkeit, kraft der alle je nach ihrer eigenen Sendung und Aufgabe am Aufbau des Leibes Christi mitwirken“ (Neues Kirchenrecht, 208).

Auch die Dienstämter können in einer Kirche, die allein aus Gottes Anwesenheit (in der Gestalt des Menschgewordenen und Auferstandenen als dem Haupt der Kirche) lebt, nur geschwisterlich ausgeübt werden: Der Weg dahin ist nicht leicht zu gehen.

Die andere Weise, wie Gott „(her)vorkommt“, ist unser Tun. Ob Gott mit uns ist, wird erkennbar daran, ob wir seine „Optionen“, seine Vorlieben teilen. „Wer sagt, daß er in ihm bleibt, muß auch leben wie er gelebt hat.“ (1 Jo 2,6). Dies aber sind seit altersher die Optionen Gottes: Er erweist sich bevorzugt als Anwalt derer, die (zu) wenig vom Leben haben, und deren (Lebens-)Unterdrük-kung zum Himmel schreit.

Die alte Lehre von den himmelschreienden Sünden ist eine uralte europäische Befreiungstheologie. Die Liste der „Lebens-Armen“, für die Gott optiert, ist lange: der erschlagene Bruder (Gn 4,10), die schutzlosen Witwen, Waisen und die Fremden (Ex 22,21), die Arbeiter, denen der Ta-geslohn vorenthalten wird (Dtn 24,14f., Jak 5,4). Die „Primizpre-digt“ Jesu, seine „Regierungserklärung“ für das in ihm gekommene „Reich Gottes“, setzt diese Praxis Gottes fort. (Lk 4,16-20)

Was ist nun „Politik“ anderes, als der Versuch, die knappen Lebenschancen in der einen Menschheit gerechter zu verteilen? Politik lebt als Ganzes von einer unbeugsamen Option zugunsten der Schwächeren. Und weil dies die Grundoption Gottes ist, kann Gott selbst füglich als „politisch“ von den Armen gepriesen und von den Reichen gefürchtet werden (vgl. den Lobgesang Mariens, Lk 1,46-55).

Wenn Gott Lebenszentrum unserer Kirche ist, können wir gar nicht anders, als seiner leidenschaftlichen Option für die Schwachen, Erfolglosen, Unterdrückten, Ausgebeuteten teilnehmen. Und wenn wir Christen dies heute (vermeintlich) von den-Marxisten lernen müssen, handelt es sich bestenfalls um eine beschämende Nachhilfe Gottes für uns Christen durch Fremdpropheten: was aber eine alte Weise Gottes ist, sein Volk zu lehren.

Kurz: Ob wir mystisch sind, mit Gott wirklich vereint sind, wird erkennbar, wo man uns Christen findet. Gott jedenfalls ist bei den Armen. Und wir Christen? Wieder plakativ formuliert: Je mystischer wir Christen sind, desto politischer werden wir sein. Umgekehrt: Eine unpolitische Kirche ist tendenziell Gott los, „ekklesial atheistisch“.

Zuwachs an Mystik

Wie bei der Geschwisterlichkeit, so bleibt auch bei der Politik zu fragen, wie sie heute kultiviert werden kann. Dazu müssen wir uns aus der Leidenschaft Gottes auf die Suche nach den Armen heute begeben. Wieder ist die Liste eindrucksvoll:

• die. armen Völker, auf deren Rücken wir immer reicher werden, denen wir Tod verordnen, indem wir die knappen Uberlebensmittel in verbrecherischer Veruntreuung verrüsten;

• die Arbeitslosen, auf deren Rücken die Arbeit-Besitzenden immer reicher werden;

• die nächste Generation, an deren Verelendung wir heute mitarbeiten, weil wir ihre Lebenswelt nicht ausreichend schonen, und der wir (obwohl wir — zählen wir uns mit ihr zusammen — eine Minderheit sind) bei unseren Entscheidungen über die Zukunft kein Mitspracherecht einräumen;

• die Mehrzahl der Frauen und auch jene vielen Männer, deren Lebenschancen durch unsere gesellschaftlichen Ordnungen beschnitten werden;

• die vielen, denen auf Grund ihrer Rasse oder auch ihrer Religion Lebensrechte vorenthalten sind;

• die Mitbürger, die am Brot ersticken und den Tod der Bezie-hungslosigkeit sterben;

• diejenigen, die aus Tragik („Erbschuld“) und persönlicher Schuld ihre Lebenschancen zerstört haben, die an ihrem noch un-gelebten Leben Ekel empfinden, die keinen Ausweg mehr sehen, die an Körper und Seele behindert sind.

Welch lange Liste an Elend und Armut. In ihr begegnet uns Gott. In ihren Leiden leidet er fort, ist er anwesend, um es zu zähmen, einzudämmen, zu überwinden. Auch durch uns, sein Volk.

Wer diese Zusammenhänge der Menschwerdung Gottes mit der innersten Wirklichkeit unserer Kirche begreift, wünscht nicht nur einen Zuwachs an Geschwisterlichkeit und politischer Leidenschaft, sondern, als die unumgängliche Voraussetzung dafür, an Mystik. Nicht ethische Appelle, nicht moralische Anstrengungen werden uns weiterbringen, sondern allein die Fortsetzung des weihnachtlichen Geburts-Wunders, das Gott wirkt, wenn wir mit ihm in Berührung “kommen, wenn also er bei uns heimisch wird, bei uns, in seinem Volk und damit in der Menschheit. Gott „aufzunehmen“ (Joh 1,1-6.9-14), ist unsere Urberufung. Menschwerdung Gottes im Alltag, im „Fleisch“ unserer Kirche: das ist das fortgesetzte Geheimnis der Weihnacht.

Der Autor ist Professor für Pastoraltheologie an der Universität Wien.

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