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Das Geheimnis der gefalteten Tücher

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Der Katholizismus ist keine religiöse Partei. Er ist Religion, die einzige, wahre Religion. Er freut sich neidlos über alles Gute, selbst wenn es außerhalb seiner Grenzen getan wird; denn dieses Gute Ist nur scheinbar außerhalb der katholischen Grenzen, in Wirklichkeit gehört es unsichtbar zu ihm. In der Tat, gehört nicht alles zu uns, die wir in Christus sind? Die Ausdehnung des Reiches Gottes läßt keinen gewöhnlichen Vergleich mit einer weltlichen Eroberung oder mit einem weltlichen Sieg zu.

Jacques Maritain: Religion, und Kultur

Durch das Zwielicht des Tages, yon dem sie noch nicht wissen, ob er ihnen Auferstehung oder Untergang bringt, eilen Petrus und Johannes, der Mensch des Glaubens und der Mensch der Liebe. Dann stehen sie vor den nüchternen Tatsachen. Das Grab ist leer. Der Leichnam ist nicht hier. Nur die Tücher, in die man ihn gewickelt hatte, sieht das suchende und prüfende Auge.

Wie hatte Petrus einst voll des Glaubens den Fuß von einem schwankenden Fischerboote aus auf die Wogen des Sees zu setzen gewagt! Heute herrscht in dieser Seele der Zweifel. Der kann nur feststellen: hier liegen die hohlen Linnentücher und dort seitwärts, an einem eigenen Orte, sieht man das zusammengefaltete Schweißtuch, das das Haupt des Toten bedeckt hatte. Und es weiß der zerschlagene Glaube mit solch armen Reste seiner Hoffnung wenig oder gar nichts anzufangen.

Der Jünger aber, der beim Abendmahle an der Brust des Herrn geruht, darf von sich und dieser Ostermorgenstunde berichten: „Er sah und glaubte.“ So wird denn das Geheimnis dieses ersten Osterglaubens in den leeren Tüchern und im Herzen dieses Liebenden zu suchen sein.

Wie alles Lebendige ist such das eben Geschilderte ein Gleichnis, eines von oben her, iii das wir blicken können wie in einen klaren Spiegel.

Selten hat ein abgelaufene oder eine neu anbrechende Zeit so viel vom Glauben geredet oder an Glauben gefordert, wie es in unseren Tagen geschah und geschieht. Denn die Welt will auferstehen. Das erste Notwendige hiezu aber, so sagt man, sei der Glaube. Wir erinnern uns, daß wir glauben sollten gegen alle Vernunft, und merken, daß die Forderung nach solchem Glauben auch heute noch nicht ganz verstummt ist. Ja, wir leben in einer weltgeschichtlichen Situation, deren geistesgeschichtliches Merkmal vielleicht sogar in einer Krisis des Glaubens gegeben erscheint. Ich meine eine Krisis, in der die Krankheit ihren Höhepunkt erreicht oder fast schon überschritten hat. Vielleicht sind die Merkmale, an denen wir erkennen, daß wir die Krise halb schon überwunden und halb noch zu bewältigen haben, sogar die entscheidenden Zeichen unserer Zeit.

Unser Erbe ist ein wahres Trümmerfeld des Glaubens, das nicht nur aus der jüngsten Vergangenheit stammt. Denn das Abendland hat mehr als ein Jahrhundert vertan. Doch kann uns das jüngst Vergangene eine geradezu existenzielle Bedrohtheit des Glaubens offenbaren, des Glaubens nämlich des Menschen an den Menschen und an Gott. Und es ist das hoffnungsvollste Zeichen unserer Zeit, daß sich die Menschen aufrichtig mühen, zu jener verschütteten Quelle vorzudringen, aus der die Wasser der Heilung aufbrechen.

Man hat das Obel unseres Jahrhunderts die Charakterlosigkeit genannt Woran man es erkannte und wohin es mit erbarmungsloser Folgerichtigkeit führte und wohin es. so es noch nicht ausgemerzt ist, führen muß. kann in dem einem Satz zusammengefaßt werden: daß einer dem andern nicht traut und nicht glaubt.

Die Anfänge dieser Geisteshaltung reichen bis zu den ersten Ansätzen des Individualismus. Damals sah es aus. als offenbare' sich hier mit elementarer Gewalt „bloß“ eine Erschütterung des Glaubens der Menschen an Gott und die Kirche. Mit innerer Notwendigkeit mußte der Tatbestand des Unglaubens zunächst an diesem geistigen Orte zutage treten. Doch dahinter verbarg sich ein noch tieferer Schaden, der den Glauben zuerst von innen her unterhöhlt hatte, ein Versagen der Liebe. Diese Krankheit ist der eigentliche Ursprung des Zeitalters, das davon den Namen erhalten sollte, daß das Individuum, der Einzelmensch, das Band der Liebe, das ihn mit dem Mitmenschen und mit Gott verband, lockerte oder gar zerriß.

Wer bewußt gegen die Liebe fehlt, verfehlt sich gegen die Ehrfurcht, und wer die Ehrfurcht verachtet, untergräbt den Glauben. Deswegen heißt der Ruf unserer Tage, die gleichermaßen die letzten einer versiegenden und die ersten einer neu anbrechenden Epoche zu sein scheinen: Liebe! Dies aber nicht etwa, weil der Glaube geringer ist als die Liebe, sondern weil echter Glaube sich am ehesten der echten Liebe gnadenhaft offenbart.

Wir müssen in dem, was wir in den letzten Jahren erlebten und dessen Zuckungen Europa heute noch durchbeben, wohl das Salto mortale des Zeitalters des Individualismus erkennen. Selbst wenn Millionen Individualisten sich auf den Kopf stellen, werden sie doch nie zu einer Liebesgemeinde. In seinem Innern ist jeder Individualist ein Egoist. Der Individualismus ist zu Tode getroffen durch das tödliche Blei, das er selber gegossen. Daß der Jäger freilich, der ihn jagte und erlegte, nicht von dieser Welt ist, wissen gar viele noch nicht. Zu Tod erwundet, überschlug sich das Wild. Das war das weltgeschichtlich Bedeutsame, dessen Zeugen wir waren und hoffentlich nicht ein zweites Mal sein brauchen.

Das Geheimnis der Tücher, die um den Leichnam Jesu geschlungen waren, ist nicht einmal andeutungsweise gelüftet. Waren sie so in sich zusammengesunken, als sei der Leib zu Geist geworden? War es die Ordnung, in der die Apotel sie fanden, die ihren Schlußfolgerungen den richtigen Weg wies? Tatsache ist das jähe Erkennen des Johannes und die fein unterstrichene Bedeutung, mit der dieser schildert, daß das unscheinbare Schweißtuch säuberlich zusammengefaltet an einer besonderen Stelle lag.

Das war der Herr! Und wenn er auferstand, erhob er sich so vom Tode: Er sprengte das Vergangene nicht, er überwand es von innen her. Nicht einmal das Schweißtuch ist gering vor ihm.

Er dankt ihm den Dienst durch die schlichte Tat des Zusamimenfaltens. Was sich hier offenbarte, war das innerste Wesen des Meisters. Daß er des Kleinen, des Unscheinbaren, ja des Zertretenen und Verachteten nicht vergaß, war sein Zeichen. Wie sich in einer kleinen Handbewegung das Göttliche oder Satanische eines Menschen kundtun kann, so leuchtete die Größe seiner Liebe nicht nur aus dem Gewaltigen seiner Person, sondern in einer besonderen Art gerade auch aus dem Unscheinbaren an ihm selbst. Er hat der Lilie ihr Lied gesungen, die Spat7en nannte er Vögel des Himmels, die Kinder der Straße rief er zu sich und schalt die Jünger, weil sie ihren Wert nicht begriffen, betrachtet“ — „Schaut“ — „Hört“, war seine Mahnung. Fast möchte man sagen, er selbst habe hingehorcht auf das Aufbrechen des Samenkornes unter der Erde, solche Ehrfurcht herrschte in ihm und solche Liebe. Dem Liebenden ist nichts gering.

An der Liebe und der Ehrfurcht also erkannte der Jünger den Meister. Ihm war die Erkenntnis beim Anblick jener Tücher gekommen. Am Abend desselben Tages sollten zwei Pilger, denen die Liebe des Herrn schon auf dem Wege nach Emmaus das Herz durchglühte, ihn richtig daran erkennen, wie er das Brot brach. Denn nicht einmal ein Stücklein Brot war vor ihm gering. Zwölf Körbe hätten die Menschen an einem Tag des Überflusses weggeworfen, wenn nicht er zur Ehrfurcht gemahnt hätte. Ja, es war ein Wunder inmitten — oder am Rande — des Wunders seiner Auferstehung, daß selbst aus den abgelegten Tüchern noch das Wesen Christi aufleuchtete und die Kraft, die ihn erweckte. Es war das Wesen und die Kraft Gottes, yon der Johannes später bezeugen sollte, beides sei ein und dasselbe, nämlich die Liebe.

Vielleicht ist es gut, wenn auch wir in den österlichen Tagen zu jenen Tüchern pilgern. Wir können viel für unser Auferstehen lernen. Der Mensch ruft schon seit Jahrhunderten nach der Auferstehung. Wenn er sie aber versucht — jedes Jahrhundert wenigstens einmal, in diesem jetzt gar schon zum zweiten Male —, dann sind ihre Künder die Trümmer einer zerschlagenen Welt.

Die jüngst vergangene Zeit glaubte an einen Frühlingssturm, der das Morsche niederbricht. Sie feierte die Auferstehung der Kraft, indem sie das Schwache niedertrat. Sie jubelte den Lawinen zu, nicht bedenkend, wieviel blühendes Leben diese unter sich begraben.

Wo sind aber die Menschen, die sich zu dem Sinnbild des Herrn bekennen, wenn schon von einem Sprengen des Alten die Rede sein muß? Er wies hin auf das Auferstehen des Samenkprns, wo die harte Arbeit des Landmannes vorausgeht. Keine Ungeduld kann es beschleunigen. Sein Bleiben oder Vergehen liegt auch dann noch in Gottes Hand, wenn es zum Halm erstarkt, unter Sonnenschein und Regen blüht und Frucht ansetzt. Selbst über den Sensenschnitt hinaus bis in die Scheune und bis zum Werden als Brotlaib, um den wir demütig bitten sollen, währt diese Auferstehung. Sie findet ihre Vollendung gerade hier, wo wir meinen, sie sei zu Ende. Denn es lebt der Mensch von dem Brote und so lebt es selbst im Menchen Wie aus Ewigkeiten kommend und in die Ewigkeit fortdauernd, ist solches Auferstehen.

Alles, was auferstehen will, muß lang zuvor die Kraft der Auferstehung in sich tragen. Denn die wahre Auferstehung ist kein Deus ex machina, der von außen rettend einspringt, wenn es irgendwo nicht mehr weitergeht. Auferstehung, die wirken soll, was sie verspricht, kann nur von innen kommen. Der Mensch, der sich ihr entfremdete oder sie verlor, muß sie zuerst in sich hineinholen. Denn sie wirkt nur von innen her. Das ist ihr Wesen.

Hiemit kehren wir zu den Überlegungen am Anfange zurück. Wir stehen in eine geschichtlichen Stunde, die sich vielleicht am besten mit jener vergleichen läßt, in der die zwei Jünger rum Herrengrabe eilten. Zumindest für das Abendland ist diese Stunde heute da. Auferstehung oder Ende heißt di* Frag, Man kann dieses Schicksalsschwere 'Wort auch so aussprechen: Glaube oder Liebe? Individuum oder Gemeinschaft?

Diese beiden Fragen sind absichtlich überspitzt gefaßt. Denn Glaube und Liebe schließen sich nicht aus, sie bedingen einander. Aber das. Größere ist die Liebe. Sie ist nidit nur die Blüte, sie ist auch die Wurzel. Sie ist das Einzige und Alles und ohne sie.ist alles andere nichts.

Erinnern wir uns an die Zeiten, in denen zwei am Schraubstock standen oder an der Maschine; zwei fuhren in der Straßenbahn oder begegneten einander draußen in der Natur — sie waren Menschen. Dann aber nahm jeder seine Zeitung zur Hand und da konnte es geschehen, daß aus den Menschen die „Gegner“ wurden. Der Glaube schied sie. Welche „Glaubenskämpfe“ wurden da geführt! Wo blieb die Liebe als Wort, als Wert, als Prinzip?

Wenn heute etwas unseren Glauben rechtfertigt, daß es mittlerweile Ostern geworden, dann ist es dieses: daß unvermerkt An Wunder geschah, daß nämlich der Glaube demütig hinter die Liebe zurücktrat. Das kann nicht übersehen werden und es darf nicht übergangen werden. Denn dies ist unsere Auferstehung. Noch merken es nicht alle. Die Menschen der Liebe aber spüren es an allen Orten, in allen ,.Lagern“, wo immer man nur der Liebe ein Lebensrecht einräumt. '

Jener Typ des Christen, der zuerst und zuletzt, ja fast ausschließlich, die Frage nach dem Glauben stellt, ist überwunden. Der wahre Glaube fragt nicht: „Wer bist du?“ sondern bekennt von sich aus als sein heiligstes Zeugnis: „Du bist mein Bruder“.

Gerade auf dieser Brücke kann der etwa verlorene Bruder — das ist doch der verlorene Sohn! — die Heimat finden.

An vielen geistigen Orten im europäischen Raum zeigt ich ein solches Morgenrot an. Und es sehen viele außerhalb der Kirche auch im Kirchentreuen wieder zuerst den Menschen und den Bruder. Der Ton so vieler Reden, nach diesem Zusammenbruch ist kein Zufall. Vielleicht kündet sich in ihm doch der Klang einer besseren Zeit an. Daß in Schriften, in denen man vor Jahren völlig andere Worte las. heute von Liebe die Rede ist, ja nach der Liebe gerufen wird, ist nach dem Menetekel eines chaotischen Unterganges dais Resurrexit einer kommenden Ordnung. Die Menschen beginnen, einander wieder zu trauen, aufeinander zu hoffen, mit dem Guten im andern — und in sich selbst —: zu rechnen. Wir sind auf dem Weg zum Glauben an den Menschen, an uns Menschen — und damit auch auf dem Weg zu Gott. Es geht uns wie Kindern, die den ersten Schritt getan haben. Sie merkten nicht, wie er ihnen gelang. Aber weil er gelang, so glauben sie, daß auch ein zweiter und ein dritter gelingen kann. Das aber konnte geschehen, weil wir der Liebe den Vorrang gaben. Es liegt diese Tat im geheimnisvollen Dunkel jeder wahren Auferstehung.

Mit dieser und mit tausend anderen Taten der Liebe beginnt aber auch die rechte Lösung der Spannung Individuum — Gemeinschaft. Die Spannung ist noch da, wir spüren sie täglich. Wir merken aber auch das Tauen allerorts. Die Kälte scheint wirklich gebröchen. Und wenn die ersten Blumen des März das Eis durchstoßen, so sind sie schon die Schwestern der blühenden Bäume, die Frucht versprechen. So muß unser Tun sich offenbaren am Einzelnen und der Gemeinschaft.

Auferstehung gibt es freilich nur eine oder keine: die des Menschlichen durch die Kraft des Göttlichen. Vielleicht glauben daran noch nicht alle. Viele weichen ihr bewußt aus. Es läßt sich hier wie bei allem Lebendigen nichts erzwingen, sondern es gilt zu warten. Das ist die Kraft der Liebe.

Wo Raskolnikow in „Schuld und Sühne“ davon spricht, daß der Fortschritt auf Erden nur unter blutigsten Verbrechen bewirkt werde und bewirkt werden könne, läßt der Dichter — gewissermaßen an sich selber — die Frage richten, ob er an die Auferstehung des Lazarus glaube, und zwar im buchstäblichen Sinne. Er bejaht sie. Auferstehung ist nämlich die wahrhaft entscheidende Frage an den Einzelnen und die Gemeinschaft. Es ist dies auch die Schicksalsfrage in der geschichtlich gewiß bedeutsamen Stunde der Gegenwart. Wer sich hier um die rechte Antwort mühen will, muß ein Mensch der Liebe werden.

Dazu ruft uns das Geheimnis jener Tücher, die menschliche Liebe ihrem teuersten Toten wand und in denen hernach ein Liebender den wahren Glauben fand.

Dieser Glaube, ist das Ostergeschenk des Liebenden von Anbeginn an alle, die sich inmitten der Zerrissenheit der Tage danach sehnen, wieder glauben zu können, hoffen zu dürfen und so die Kraft der Liebe empfangen. K.

„Was Immer die Ursache deines Unglücks Ist, sei's menschliches Unvermögen, sei's Zufall oder ein unvermeidliches Geschick, sei guten Mutest Die Milde des römischen Volkes, die schon so viele Könige und freie Völker in ihren Schicksalsschlägen kennengelernt, soll nicht nur der Anlaß zur Hoffnung auf deine Erhaltung sein, sondern geradezu die sichere Gewähr dafür.“ Diese Worte sprach der Konsul zum König In griechischer Sprache. Zu seinen Landsleuten gewendet, aber fuhr er lateinisch fort: „Ihr habt hier ein sprechendes Beispiel für die Wandelbarkeit alles Irdischen vor Augen. Drum soll man im Glück ]a nicht übermütig und grausam gegen jemand verfahren und nicht zu sehr bauen auf die Gunst des Augenblicks, da man nie wissen kann, was der Abend bringt. Erst der Ist ein Mann, der, wenn sein Lebensschifflein ein günstiger Wind zur Höhe trägt, nicht überheblich wird und den das Unglück nicht niederbeugt.“

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