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Das Sterten Philipps IL

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Seit fast zwei Jahren kann der König nicht mehr gehen. Auf einer Fahrt durch Madrid bat er den Infanten, an seiner Stelle einem mit dem Sakrament vorüberschreitenden Priester zu folgen: er selbst hätte es getan, aber seine kranken Beine erlaubten es ihm nicht. Nun kommen Stunden, wo die Kälte der Majestät von seinen Zügen weicht; wenn einmal der strenge hohe Hut das kahle Haupt nicht bedeckt, so leuchtet aber dem dunklen Kleid das einfache, tiefermüdete Gesicht eines Greises, das das Alter allein besitzt. Er ist erschöpft; der Tod wird kommen; das ist das einzige Ereignis seiner letzten Tage.

Er ist so müde, wie Karl war; aber der Sohn, den ihm sein Vater für die,se Zeit wünschte, wurde ihm nicht geboren. Isabel Clara Eugenia und der Erzherzog Albert sehen ihn dieses eine Mal weinen, da er über seinen schwachen Sohn klagt und über das verwaisende Reich.

Gegen den Rat der Aerzte bricht er am letzten Juni des Jahres 1598 von Madrid nach dem Escorial auf. Man fürchtet, es werde seine letzte Reise sein. Keine andere kann seine letzte sein als die nach dem Escorial. Die von der Gicht zermarterten Glieder ertragen die Erschütterungen des Fahrens nicht. So trägt man den König auf einem einfachen, nur mit Leder bezogenen Stuhl, über den eine Plane gespannt ist. Trotzdem der Sommer glüht, wählt man den weitesten Weg, weil er ebener verläuft als die anderen.

Noch einmal ist Philipp dem Lande so nah, als schritte er hindurch. Isabel Clara Eugenia und der Infant gehen mit. Begegnende sehen ihn so gelassen, als empfände er keine Schmerzen. Am Mittag schenken dem Zug Pinien und Steineichen oder eine kleine Schenke ihren Schatten. Wieder ist der Vollender mitten unter den Seinen und doch schon von ihnen getrennt. Fünf Tage dauert die Reise, die ein Reiter in ein paar Stunden macht. Am 5. Juli erreichen ie Fresneda, ein Gut des Klosters, das kaum eine halbe Meile von ihm entfernt liegt. Der König sieht die Türme, die Kuppeln, die mächtige graue Front. Aber wie kurz der Weg hinüber ist: in dieser Nacht, der einzigen seines Lebens, bleibt er in Fresneda. Die Bäume hier ließ er pflanzen, als man noch den Boden ebnete für den Bau; nun legen sie ihm, am spätesten Abend, ihren Schatten auf sein Haus. Drüben, auf der Felsensrufe, steht die Wohnung der Heiligen und des Kaisers: das bis zur letzten dünnen Turmspitze vollendete Werk.

Der Prior und die Mönche kommen ihm entgegen und fragen, wie es ihm geht. Sehr gut, erwidert er zufrieden. Auf seinem Stuhle liegen ein paar Bücher; er ergreift eines und blättert darin mit Leichtigkeit: seine Finger gehorchen ihm wie früher — Zwei Tage nach seiner Ankunft im Escorial betrachtet er noch einmal sein Werk. In der Bibliothek verweilt er lange. Der Bibliothekar wagt einige Aenderungen; Philipp prüft und ist zufrieden. Nun ruht er wieder in dem Bett neben dem Altar, zwischen dem ernsten Raum seines Dienstes und dem immer gegenwärtigen Herrn.

Von den Schreinen, in denen die Gebeine der Heiligen ruhen, kann er sich nicht trennen. Er hatte eine heimliche Furcht, daß man ihm diese Kostbarkeiten rauben könnte; nun endlich sieht er sie gesichert in seinem Bau. Auf dem Tragstuhl sitzend, unter leise beginnenden Fieberschauern, blickt er auf diese Trümmer menschlicher Gestalten; nichts ist vergänglicher als dieser Staub, diese letzte, noch einmal sich zerlösende Form, in der sich doch das ganze Geheimnis der Ewigkeit birgt. Der Siebzigjährige, einer beispiellosen Last langsam Erliegende, beugt sich zu den Gebeinen hinab; kann der Tod vielleicht doch ihn den Unerreichbaren näherbringen?

Ein unerhörtes Leiden beginnt. Am Knie bildet sich eine immer stärker anwachsende Geschwulst, die furchtbare Schmerzen erregt. Die Gichtwunden an den Fingern brechen wieder auf, der Zeigefinger der rechten Hand trägt vier, der Mittelfinger drei; auch die Zehen öffnen sich. Zugleich schwellen die Schenkel und der Leib gewaltig an, während die übrigen Körperteile immer schwächer werden. Wie die Wunden brennt der Durst; die Aerzte verweigern die Getränke. Obwohl sie fürchten, der Kranke werde den Qualen erliegen, entschließen sie sich, eine Operation am Knie vorzunehmen; während dieser Marter läßt sich der König von seinem Beichtvater das Matthäusevangelium vorlesen.

Bald hat sich die Empfindlichkeit des von der Zerstörung ergriffenen Körpers so gesteigert, daß man nicht mehr wagen kann, die Wunden zu behandeln, unter denen die am Knie die grausamste ist. Auch die Wäsche kann nicht mehr gewechselt werden. Damit beginnt die eigentliche, die tiefste Schmach der Krankheit. Sie ist unerträglich für den König, der während seines ganzen Lebens mit größter Genauigkeit auf seine Kleider achtete, keinen Strich an den Wänden seines Zimmers und keinen Flecken auf dem Fußboden duldete.

Er, der durch die Feinheit seines Empfindens in allen körperlichen Dingen seine Umgebung in Erstaunen versetzte, muß die tiefste Peinlichkeit des Leidens erfahren: auf verfaulendem Bett sieht er die Verwesung seines eigenen Leibes mit an. Es bleibt ihm nichts erspart in diesen 53 Tagen, während denen er nicht einmal die leiseste Drehung ausführen kann: auch die Schultern bedecken sich mit Wunden, und selbst die Hände werden unaufhörlich von den giftigen Ausflüssen befleckt. Wenn ihn der Schlaf für eine kurze Stunde begnadet, so mischt sich das Fieber in seinen Traum und hetzt grauenvolle Bilder an ihm vorüber; das Herz springt auf wie ein getroffenes Tier und tobt und wirbelt in seinem Gefängnis. In greller Dissonanz zerreißt der Körper, der so oft wegen der Vollkommenheit seiner Proportionen bewundert wurde.

Wenn irgendwann, so muß sich jetzt die Religion des Leidens bestätigen. Zu allen Seiten seines Bettes läßt der König Kreuze und Heiligenbilder aufhängen: ist sein Leib auch unbeweglich gefesselt, so finden doch die Augen auf ihrer kurzen Wanderung unermeßlichen Trost. Neben der schmalen dunklen Kammer liest der Priester die Messe auf dem kleinen Altar des Oratoriums. Dort und auf einem kleinen Tische neben seinem Bette ruhen die Reliquien. Der Beichtvater reicht sie ihm täglich, daß er sie mit den Lippen, den Augen berühre. Unersättlich in seinem Verlangen nach Gnade verfolgt der Kranke jede Handbewegung des Priesters; seine Blicke hängen fast von Angst erfüllt an den Heiligtümern. „Seht, die Reliquie jenes Heiligen habt Ihr vergessen; Ihr habt sie mir noch nicht zum Küssen gegeben.“

Schließlich ist es Zeit, Gewißheit zu erlangen. Am 1. August beantwortet ihm der Beichtvater seine Frage: ja, diese Krankheit wird das Ende seines Lebens bedeuten. Der König findet kaum Worte genug, um zu danken. Nun ist er von allen Zweifeln befreit und hat nur noch das einzige, das Notwendigste zu tun. Von der ganzen Summe der Verantwortung, die er trug, bleibt allein die für seine Seele. Die Klugheit des Diplomaten, des Beobachters und kalten Enträtslers seiner Umgebung weicht der höheren Klugheit dessen, der die Ewigkeit spürt; wieder nötigt er seinen Vertrauten den Beinamen „el prudente“ ab durch seine umsichtig vorbereitende Sorge für das ewige Heil. Die armen Rechenkünste der Welt sind zu Ende; die letzte, der Seele dienende Klugheit sucht allein die Sakramente und das Gebet. „Pater, Ihr seid an Gottes Statt, und vor Ihm erkläre ich, daß ich das tun werde, was Ihr mir als notwendig bezeichnet für meine Rettung; und also trifft Euch die Schuld an dem, was ich unterlasse, denn ich bin bereit, alles zu tun.“ Drei Tage dauert die große Beichte dieses Lebens. In der Hölle seiner Schmerzen beglückt ihn das Sakrament.

Unter der nicht zu stillenden Marter fügt sich der König vollkommen in den Willen des Herrn. Seine Schmerzen werden enden, wenn er für immer resigniert hat, wenn sein eigener Wille bis in die letzte Wurzelfaser gebrochen ist. So wird er so völlig eins mit der überirdischen Macht, daß ihm der Beichtvater zu sagen wagt: er wünsche jetzt, daß er sterbe; denn wenn der König wieder genese, so werde er vielleicht diese Ergebenheit verlieren, die Gott ihm gesandt habe. Philipp hört das Wort ohne Schmerz, mit tiefer Dankbarkeit.

In der einzigen Kammer, die dem Herrscher noch bleibt, gelten die Gebote der Erde, die Erfordernisse des Staates nicht mehr; nur die Seele regiert, deren Ziel wie ein unversöhnlicher „Stern über allen Straßen und Landschaften steht. Der in der Enge seines Bettes, in der Schmach des Leibes Gefangene kann sich nicht sättigen an den Gleichnissen vom verlorenen Sohn und vom Guten Hirten: siebzig Jahre währte seine Verbannung, sein Irrweg; nun kehrt er heim. Mächtig hallt der 41. Psalm in die Seele, die sich unwiderstehlich vom Staub und den Ekeln des Körpers losreißt: Quemadmodum desiderat cer-vus ad fontes aquarum, ita desiderat anima mea ad te, Deus.

Er hat nur noch einen Wunsch, ein einziges Gebet für die Zeitlichkeit: daß die Stunde des Lieberganges, wie qualvoll sie sich auch vorbereiten mag, schmerzlos sei. In diesem einen Augenblick soll ihn der Körper nicht mehr martern, daß er ungetrübt, mit freiem geöffnetem Auge, dem Ungeheueren entgegengehe. Die Entscheidung, die er durch siebzig Jahre erwartet, die sein ganzes Tun im voraus bestimmte und allen Plänen eine Richtung gab, soll ihn bewußt und verantwortlich antreffen.

Es gilt, den Tod zur Tat zu machen; er ist die letzte Möglichkeit der Wirkung, der größten Wirkung vielleicht. Noch einmal und nun endgültig soll die Wahrheit bestätigt werden, für die Philipp herrschte und opferte. Am Tod muß sich die Kraft des Gedankens erweisen; wenn jetzt sich der Glaube behauptet, so steht er unverrückbar da. Die verwirrte, zerspaltene Welt soll die Stimme des Verteidigers noch von seinem Sterbebette hören; mehr vielleicht als seine Taten wird dieses Bekenntnis zu dem Glauben bewirken, aus dem die Taten kamen. Der Sterbende übergibt den Lebenden den Protest gegen die Zeit, die im grausamsten Leiden erhärtete Erklärung für die unveränderliche Tradition:

„Ich, der niedrigste Sünder, der losgekauft wurde mit dem kostbaren Blut unseres Herrn Jesu Christi, erkläre auf das deutlichste: daß ich mit ganzem Herzen allen verzeihe, die auf irgendeine Weise und irgendwann mich beleidigt oder bekämpft haben; demütig bitte ich alle, die Anwesenden wie die Abwesenden, daß sie auf die gleiche Weise mir verzeihen, wenn ich sie in irgendeiner Sache beleidigt habe. Ich bekenne, daß ich bis jetzt nicht mit jener Reinheit und Heiligkeit in der Furcht des Herrn gelebt habe, die sich gebührt. Ich bekenne, daß ich viele Sünden begangen habe. Ich bekenne, daß meine Verfehlungen und Nachlässigkeiten zahlreich sind.“ Dennoch vertraut er: „Ich habe die allerheiligste Passion als Zuflucht und Verteidigung, und wie eine undurchdringliche Rüstung lege ich sie um mich gegen meine unsichtbaren Feinde.“ Dann legt er das Glaubensbekenntnis ab.

Mit der größten Sorgsamkeit bereitet er sich auf die Letzte Oelung vor. Der Beichtvater muß ihm das Zeremoniell erklären und vom ersten bis zum letzten Buchstaben die Vorschriften vorlesen. Nachdem der Geistliche eine etwas lange Ermahnung vorgetragen hat, meint er, es sei nicht notwendig, bei der Erteilung des Sakramentes diesen Anfang zu wiederholen. Doch der König ist nicht einverstanden: „Doch, wiederholt diese Worte noch einmal und noch einmal; sie sind sehr gut.“ Auf Philipps Wunsch wohnt der Thronfolger der Feierlichkeit bei; er soll das Sakrament nicht wie sein Vater erst am Ende des Lebens kennenlernen. Nachdem die anderen gegangen sind, behält der König den Sohn zurück: „Ich wollte dich gegenwärtig bei dieser Handlung, damit du siehst, womit alles endet.“

An dem Tag der Letzten Oelung, dem 1. September, enden die Geschäfte der Welt. In den zwölf Tagen, während die Seele des Königs noch in dem zerstörten Körper wohnt, ist er frei von seinem Amt; er duldet nur noch Gespräche über die himmlischen Dinge. Er lebte für Völker, für Generationen; nachdem er sein letztes Wort gesprochen, stirbt er für sich allein.

Er ist der Verheißung gewiß; sein Gewissen spürt keine Lasten mehr. Die ungeheure Verantwortung, die ihm der Verzicht des Vaters übertrug, fand ihn nicht zu schwach. Da er bereit war, zu opfern, wenn er ohne Verfälschung nicht besitzen konnte, so überliefert er das kostbarste Gut ohne Verminderung. Aber vor der Ewigkeit, der seine Seele entgegengeht, verlöschen alle Gebote. Wann schlägt die Stunde? „Sagt mir, wann sie kommt; ich will mit Gott sprechen.“

Am Eingang in sein Gemach steht der Sarg, in den ein zweiter aus Blei eingelassen werden soll. Er ist innen mit weißem Atlas ausgeschlagen; außen wird ihn ein schwarzes Tuch bedecken, auf das in der ganzen Länge des Sarges ein rotes Kreuz aufgeheftet ist. Nur die beiden vertrautesten Kammerherren dürfen seinen Leichnam entkleiden und waschen. Er bedarf allein eines frischen Hemdes und eines reinen Tuches; um den Hals soll man eine einfache Schnur legen, an der ein Kreuz aus Holz befestigt ist.

Um Mitternacht scheint das Ende gekommen. Auf einen wilden Schmerzenskrampf folgt Stille. Doch wie der beauftragte Kämmerer sich niederbeugt mit der brennenden Kerze von Montserrat, trifft ihn das Auge des Königs mit seiner vollen Gewalt: „Es ist noch nicht Zeit!“

Dann, im Uebermaß des Begehrens, streckt die arme verwundete Hand sich aus nach dem Kreuz des Kaisers, als greife sie nach des Vaters Tod. Sie schien zu schwach für den geringsten Dienst; nun führt sie das Holz an die Lippen mit einer wunderbaren Kraft. Unzählige Male küßt der König das Heiligtum. Die am Bett Stehenden erstaunen. Sie waren ein unbewegliches, ernstes Gesicht selbst während der heftigsten Schmerzen gewöhnt; aber in dieser Stunde, die unzweifelbar die letzte ist, breitet sich, wie ein nicht mehr irdisches Licht, ein beglücktes Lächeln darüber aus.

Wieder neigt sich der Kämmerer herab: „Ja, es ist Zeit.“ Während in das düstere Zimmer seines Dienstes der erste Schein des Tages fällt und in der Kirche zu seiner Linken die Chorknaben die Frühmesse anstimmen, stirbt der König. Die Priester stützen seine blutenden Hände; er hält in der einen das Kreuz des Kaisers dem er folgte; in der anderen die Kerze, die auf dem heiligen grauen Berg der Verwandlung geweiht worden ist.

Aus „Philipp II. oder Religio und Macht“, Verlag Hegner, Köln

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