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Der Bericht des Nikodemus

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Im Verlag Herder, Freiburg im Breisgau, erschien in deutscher Uebersetzung der Roman des polnischen Dichters lan Dobraczynski „Gib mir deine Sorgen“, der in Briefform das Schicksal des Nikodemus aus der Heiligen Schrift behandelt. Wir bringen im folgenden daraus einen Abdruck

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Im Verlag Herder, Freiburg im Breisgau, erschien in deutscher Uebersetzung der Roman des polnischen Dichters lan Dobraczynski „Gib mir deine Sorgen“, der in Briefform das Schicksal des Nikodemus aus der Heiligen Schrift behandelt. Wir bringen im folgenden daraus einen Abdruck

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Endlich verging die Dämmerung. Rasch ging ich nach Hause zurück. Ich trat in die obere Stube. Gedankenschwer ließ ich mich auf eine Bank nieder.

Ich war so in Gedanken vertieft, daß ich die Schritte auf der Treppe nicht hörte und erst den Kopf erhob, als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte. Es war Joseph. Neben ihm stand Johannes, der Sohn des Zebedäus.

Unwillig fragte ich: „Was wollt ihr?“

„Ich weiß nicht, ob die Kunde schon zu dir kam, daß er nicht mehr lebt“, sagt Joseph. ,.Er ist rasch gestorben. Dieser Junge da meint richtig, daß der Hohepriester, wenn ihn diese Nachricht erreicht, dem Pilatus die Vorschrift des Gesetzes vorhalten könnte, das die Bestattung eines Hingerichteten noch vor der Abenddämmerung fordert. Dann wird er mit den beiden anderen in eine gemeinsame Grube geworfen. Ich meine aber, daß diesem Menschen eine anständige Bestattung gebührt. Wenn du also willst, gehen wir gleich zum Prokurator und bitten ihn, er solle uns den Leichnam überlassen. Viel Zeit haben wir nicht. In einer Stunde beginnt der Sabbat.“

Ich hob meinen müden Blick auf Joseph.

„Du willst um seinen Leichnam bitten? Pilatus wird damit nie einverstanden sein“, suchte ich ihn zu überzeugen, weil in mir von selbst der Wunsch aufkam, diesem Vorhaben fernzubleiben.

„Dafür wird er bestimmt Verständnis haben“, antwortete er. „Er wird sich natürlich bezahlen lassen, aber er wird zustimmen. Auf jeden Fall kann man es versuchen. Wie ist's? Gehst du mit? Du hast doch diesen Menschen hochgeachtet.“

,,Ja. selbstverständlich“, stammelte ich. „Gehen wirf“

Wir gaben am Tore des Palastes unsere Namen an, und ein syrischer Knabe lief in die Burg hinein, um dem Prokurator unsere Ankunft zu melden. Ich berührte Joseph am Ellenbogen und erinnerte ihn daran, daß wir durch unseren • Eintritt in ein heidnisches Haus unrein würden. Er antwortete mir nur: „Dein Meister hätte sich bestimmt darum nicht gekümmert.“

Ja, das war richtig. Joseph hatte recht. Für den Meister stand eine Tat der Barmherzigkeit immer über dem Gesetz. Aber anderseits: Was sind die Lehren eines Gekreuzigten wert? Zum Nachgrübeln blieb keine Zeit Der Knabe kam zurück, der Prokurator erwarte uns. Wir gingen durch einen Vorraum, einen Hof und kamen über einige Stufen in das Atrium. Pilatus kam uns entgegen, in eine weiße Toga gehüllt. Als wir uns verneigten, erhob er seine große Pratze, die einem Schlächter Ehre gemacht hätte.

„Seid gegrüßt!“ sagte er. „Was führt euch zu mir, ehrwürdige Gelehrte, am Abend und zudem an einem Tag wie heute? E ist doch euer größter Feiertae. nicht wahr? Schon am Morsen wollten eure Aeltesten die Schwelle meines Hauses nicht überschreiten, als hätte ich den Aussatz...“ Es kam mir vor, er verspotte uns, und es wurde mir unbehaglich. Aber er bemühte sich wirklich, freundlich zu sein. Er wies uns Plätze an und setzte sich auch.

Joseph sagte ihm, warum wir gekommen waren.

„Was? Er lebt nicht mehr?“ rief er aus. „Das ist kaum möglich.“ Mir schien, er atme bei diesem Ausruf auf wie einer, dem eine große Last von der Seele fällt. Dann sagte er noch: „Ich muß einen Soldaten hinschicken, daß er das feststellt.“ Er schlug auf eine kleine Metallplatte und ließ den Zenturio rufen.

„Höre, Longinus“, sagte der Prokurator, „reite rasch zur Höhe hinauf und stelle fest, ob es wahr ist, wie die Gelehrten hier sagen, daß der Galiläer schon tot ist!“

Der Zenturio trat ab. Pilatus wandte sich uns zu. „Angeblich hat er sich einen Sohn Jupiters genannt oder so was Aehnliches?“ Er erwartete keine Antwort und wischte sich von seiner Stirne kleine Schweißtropfen ab. Auf einmal wurde er neugierig: „Joseph, wozu brauchst du seinen Leichnam?“

„Wir wollen ihn begraben, wie es sich gehört. Dieser Mensch war ein großer Prophet. Ich glaube nicht, daß er das alles verschuldet hat, was ihm die Unserigen vorgeworfen haben.“

„Selbstverständlich hat er es nicht verschuldet“, stimmte Pilatus bei, „selbstverständlich! Aber was konnte ich machen? Hätte ich diesen Schreiern ihre Bitte verweigert, wäre ein Aufstand die Folge gewesen. Blutvergießen wäre nicht zu vermeiden gewesen, und diese Sadduzäer hatten mich beim Kaiser...“ Das Letzte murmelte er nur, dann hing er seinen Gedanken nach. Wir schwiegen.

Nach einer Weile erschien der Zenturio wieder auf der Schwelle des Atriums.

,,Na, und?“ fragte ihn Pilatus.

„Es ist so, wie die jüdischen Gelehrten sagten. Der Galiläer lebt nicht mehr. Zur Sicherheit habe ich ihm seine Seite durchbohrt. Es kam Blut mit Wasser heraus.“

„Also wirklich ... Er ist tot“, sagte der Pro-kitrator halblaut. Dann wandte er sich an uns: „Wie man sagt, hat er bei seinen Lebzeiten Wunder gewirkt, geheilt, sogar Tote auferweckt. Jemand hat das meinem Weibe erzählt. Aber so kommt es immer: Derlei Wundertäter zeigen verschiedene Künste, und dann, wenn es sich um sie selbst handelt, gehen sie zum Hades, wie jeder von uns. Dumm ist diese Welt, und dumm geht alles aus. Die Dümmsten aber sind die, die in dieser Dummheit irgendeinen Sinn suchen.“ Er winkte den syrischen Knaben herbei: „Gib mir ein Stück Papyrus!“ Auf dieses schrieb er einige Worte, und der Knabe drückte ein Siegel darauf.

„Da!“ sagte er. „Gegen Vorweis dieses Zettels könnt ihr den Leichnam des Galiläers haben.“

Wir verneigten uns dankend. Ich war aber überzeugt, daß die Sache damit noch nicht erledigt war. Es wunderte mich sogar, daß Pilatus nicht schon vorher Bedingungen gestellt hatte. Wir hatten zwar beide etwas Gold in den Beuteln am Gürtel, aber wir konnten ihm ja einen Schuldschein geben, wenn ihm das, was wir bei uns hatten, nicht genug war.

„Wieviel sollen wir, ehrwürdiger Prokurator für den Leichnam zahlen?“ fragte ich.

Auf das Gesicht des Römers trat ein unschlüssiger Zug. Schon schickte er sich an, einen Preis zu nennen, als er plötzlich innehielt. Nachdenklich strich er sich über die glattrasierte Wange.

„Na, also .... vielleicht. .. , sagen wir ...“, begann er und wandte sich uns zu. Er sah aus wie einer, der sein väterliches Erbe oder etwas ebenso Teures aufgeben muß. „Vielleicht also..., nein, nein!“ Er schnaufte. Im Gegensatz zu seinen Worten wurde sein Gesicht boshaft und bitter. „Nein!“ sagte er noch einmal. „Ich schenke euch diesen Leichnam. Nehmt und begrabt ihn! Begrabt ihn würdig! Bestattet ihn feierlich, so gut ihr nur könnt! Die ... anderen sollen sich ärgern!“ Seine Miene hellte sich auf. Als wollte er sich wegen seiner überraschenden Freigebigkeit selber trösten, sagte er noch: „Denen habe ich eins ausgewischt, wie? Das werden sie nie vergessen können! .Könis: der Juden;' Hahaha! ein köstlicher Witz.“

Joseph ging mit dem Zettel des Pilatus und einigen unterwegs zusammengerufenen Männern geradewegs auf die Golgothahöhe, und ich begab mich unterdessen auf den Markt, und kaufte etwas Myrrhe und Aloe ein.

Als ich dann auf die kleine Ebene kam, die der Gipfel bildet, war der Leichnam schon abgenommen. Er lag auf einem langen Leinenstück steif ausgestreckt, rotbraun von eingetrocknetem Blut und vom Schein der untergehenden Sonne. Das Haupt, das vorhet auf die Brust gesenkt war, fiel jetzt nach hinten und ließ das Antlitz sehen. Das war nicht mehr das Antlitz des immer freundlich lächelnden Meisters. Der heitere Gleichmut Toter zeigte sich nicht darauf. Der Mund war in Schreien, Qual und Verzweiflung erstarrt und schien noch immer anhaltend zu schreien und zu leiden. Von dem ganzen Menschen war nur noch die Größe geblieben. Bei Lebzeiten hatte er die anderen um einen Kopf überragt: Jetzt schien er noch größer geworden zu sein, ein Riese, der seinen Leib über die ganze Anhöhe ausstreckte.

Ich rief Joseph beiseite und zeigte ihm die mitgebrachten Wohlgerüche. „Warum habt ihr den Leichnam noch nicht gewaschen?“ fragte ich. „Es ist schon spät. Und schau nur, die Soldaten werden ungeduldig.“ Die Wachleute, die unterdessen die Leiber der gekreuzigten Räuber abgenommen hatten, gaben uns Zeichen, daß wir uns beeilen sollen.

„Das merke ich“, nickte er, „sie wollen nicht mehr warten. Ich hätte ihnen das Geld erst am Ende geben sollen.“

„Was sollen wir also tun?“

„Es gibt nur eine Möglichkeit. Wir werden ohnedies nicht mit allem fertig. Aber, ich habe dort drüben, in der Wand des Hügels, ja ein Grab Wir werden den Leichnam mit duftendem Oel besprengen und einfach vorläufig dort beisetzen. Am Morgen nach dem Sabbat kann man ihn dann waschen und mit dem, was du mitgebracht hast, salben, wie es sich gehört.“

„Aber die Vorschriften!“ rief ich aus.

Unwillig winkte er ab: „Ach, diese pharisäischen Vorschriften! Sieh, wie sie ihn anschaut!“ Er zeigte auf Maria, die das Haupt des Meisters auf den Knien hielt. „Ich brachte es nicht über mich, wegen einer blöden Vorschrift ihr den Leichnam abzunehmen. Vielleicht beging ich eine Sünde, aber ...“

Der Anführer der Soldaten trat zu uns: „Rasch jetzt! Beeilt euch!“ sagte er. „Schafft diesen Leichnam weg! Es wird schon dunkel. Die Juden sind imstande, uns anzugreifen, wenn wir ihren Feiertag schänden.“

Es gab keinen Ausweg mehr. Wir riefen Johannes herbei und erklärten ihm Josephs Plan. Er hatte nichts dagegen. Er schien kein Aergernis daran zu nehmen, daß wir den Leichnam ungewaschen in ein Grab legen wollten. Ich sah, wie er zu Mirjam ging, sie leise an der Schulter berührte und auf die untergehende Sonne wies. Ohne Widerspruch nahm sie das Haupt ihres Sohnes von den Knien und legte es auf das Linnen. Während man den Leichnam hob, liefen aus der weit offenen Seite wieder Blut und Wasser. Endlich deckte ein Tuch das Gesicht des Meisters zu, aber wenn es dieses auch unseren Augen verhüllte, in der Erinnerung lag es offen vor uns da. In mir wenigstens blieb sein Bild, wie mit glühendem Eisen eingebrannt.

Den ganzen folgenden Tag traute ich mich nicht, zum Grab zu gehen. Als aber abends die Passahfeier beendet war, hielt mich nichts mehr zurück. Ich eilte aus dem Hause. Der Mond leuchtete groß und rund mit heiterem Lächeln. Die Tore waren schon verschlossen, ich kenne aber Seitentüren, durch die man auch bei Nacht durch die Mauern kommen kann. Die eine ist neben dem Taltor. Ich lief hastig wie ein Verliebter zur verabredeten Begegnung.

Ein Schattenstreifen, der am Fuße des Hügels wie ein von den Schultern abgeworfener Mantel lag, war mein Ziel. Kaum aber hatte ich die Grenze von Licht und Schatten überschritten, als ein Anruf mich wie ein unvermuteter Fausthieb traf: „Halt!“ Ich blieb wie angewurzelt stehen. „Was suchst du hier?“ fragte jemand. Ein Mann kam aus dem Schatten heraus und ließ in den Fluten des Mondlichtes einen Panzer funkeln. Es war ein römischer Soldat. Ich war allein. Er trat mir also unbesorgt entgegen, doch hielt er den Speer stoßbereit. „Was suchst du hier?“ fragte er noch einmal.

„Ich ..., nichts..., ich komme nur ... zum Grabe .. .“, stammelte ich.

„Zum Grabe?“ lachte er auf. „Warum denn? Tote brauchen keinen nächtlichen Besuch. Na, na! Heraus mit der Sprache! Wozu bist du gekommen? Los, sag's schon, oder ich werde dich zum Reden zwingen.“

Zu meinem Glück trat eben jetzt ein anderer Soldat aus dem Dunkel. Ich hörte eine mir bekannte Stimme: „Laß ihn, Antonius! Das ist ein ehrwürdiger Gelehrter. Ich kenne ihn. Verschwinde!“ Der Mann, dem diese Stimme gehörte, trat an mich heran. „Kennst du mich noch, Rabbi?“

„Ja..., freilich“, stammelte ich. Dieser Unteroffizier hatte einmal von mir für einen kleinen Dienst einige Denare bekommen. Er war ein alter Soldat mit einem grauen Kopf,ein seltener Schlaumeier. Ahir hatte ihn einmal zu mir gebracht und gesagt, man könne von ihm für Geld alles haben. Ich war gerettet. „Freilich kenne ich dich, gut sogar, Lukianus! Was für ein Glück, daß ich dich hier finde! Ich werde dir das nie vergessen. Aber sage mir nur“, ich hatte meine Stimme wieder, „was tut ihr hier?“

„Wir?“ lachte er. „Wir wurden doch befohlen, den Galiläer zu bewachen. Eure Schriftgelehrten und die Pharisäer baten den Prokurator darum. Als es schon dämmerte, drückten sie ein großes Siegel an den Stein. Ich kann dir's zeigen. Aber in das Grab darfst du nicht hinein!“

„Aber der Leichnam wurde weder gewaschen noch gesalbt“, rief ich aus.

„Da kann ich dir nicht helfen, Rabbi“, sagte er. „kh habe zwar gehört, daß du und loseph, der Kaufmann von Arimathäa, euch des Begräbnisses angenommen habt und daß der Prokurator euch den Leichnam ausgeliefert hat, ohne dafür etwas zu verlangen. Ich diene schon zwölf Jahre unter Pilatus, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt. Ich hätte eher angenommen, daß ihr bei einem Wucherer eine Schuld aufnehmen müßtet, um -ihn zufriedenzustellen. Jetzt kann ich aber für dich nichts tun, leider! Ich habe Befehl, bis morgen abend dieses Grab zu bewachen und niemand hineinzulassen. Eure Priester und Gelehrten haben uns dafür von sich aus eine kleine Belohnung zugesagt. Ich kann mich nur wundern: Was für ein Einfall, einen Toten zu bewachen! Gut, daß es nur eine Nacht ist!“

„Ihr sollt also nur bis zum nächsten Abend Wache halten?“

„Ja! Denn dieser Galiläer hat angeblich vorausgesagt, daß er in drei Tagen auferstehen werde. Wenn er aber in drei Tagen nicht wieder lebendig wird, dann wird er's überhaupt nicht mehr, sagten sich diese klugen Leutchen. Die Sorgen möchte ich haben!“

Langsam trat ich zum Felsen. Lukianus folgte mir. Vielleicht fürchtete er, ich könnte mich am Siegel vergreifen. Ich aber fühlte mich durch seine Anwesenheit gestört. Eine Weile wenigstens wollte ich mit diesem Toten allein sein.

„Lukianus“, sagte ich, „ich verspreche dir, das Siegel nicht einmal anzurühren. Laß mich hier an diesem Stein beten! Nur eine kurze Zeit! Und bitte, heiße deine Kameraden etwas still sein! Ich werde ihnen dafür gern einen Schlauch Wein spenden.“ Ich griff rasch in den Beutel, nahm einige Geldstücke heraus und drückte sie dem Unteroffizier in die Hand.

„Man hat uns, solange wir am Grabe wachen, nicht einmal einen Tropfen in die Kehle erlaubt“, sagte er verschlagen.

„Ihr könnt also später etwas kaufen, nimm das nur!“ Ich legte noch etwas dazu. „Und laß mich einen Augenblick hier verweilen!“

Er stand unentschlossen da, von meiner Bitte überrascht. Aber das Silber überwog alle Bedenken. Gemächlichen Schrittes ging er zu seinen Kameraden. Ich hörte, wie er auf sie einredete. Ein Ausbruch schallenden Gelächters antwortete ihm, aber dann wurde es still.

Der Fels war hart er war kalt und naß. Als ich mein Gesicht an ihn legte, hatte ich das Gefühl, ich lege es an die Wange eines Toten. Meine Stirne, die ich darandrückte, begann mich sogleich zu schmerzen. Ich strich mit der Hand über den glatten Stein. Hinter ihm lag auf einem schmalen Steinlager der, den ich drei Jahre lang beobachtet hatte. Ich war ihm von weitem gefolgt, immer unentschlossen, den letzten Schritt zu tun. Ich hatte die Freude, die Hoffnung, die Verzückung nicht geteilt, an denen seine Jünger sich berauschten. Ich sprach kaum ein paarmal mit ihm. Ich kam, ihn etwas zu bitten, brachte aber meine Bitte dann nicht vor. Ruth starb. Er heilte sie nicht, obwohl er so viele herrliche Wunder wirkte. Darauf bot er mir unverständliche Worte an. Was hatte das zu bedeuten: wiedergeboren werden? Was bedeutete: Nimm mein Kreuz auf dich, und ich will das deine auf mich nehmen? Was bedeutete: Uebergib mir deine Sorgen? Wenn auch unverständlich, so wachsen diese Worte doch in mir. Einmal schienen sie mir der Schlüssel zu einem großen Geheimnis zu sein.

Er lehrte, daß die Barmherzigkeit alles und alles andere ein Nichts ist. Wenn er noch da wäre, würde man — wer xveiß? — vielleicht die Wahrheit, daß die Barmherzigkeit über jedem Gesetz steht, weitervererben können. Er sprach nur, er starb nur für diese Wahrheit. Er scheute vor dem entsetzlichen Tod nicht zurück, als wollte er zeigen, daß diese Barmherzigkeit, von der er so viel sprach, auch in den Schrecken eines Kreuzestodes gelegen ist.

Er starb für eine Wahrheit, die keine Wahrheit ist. Die Tochter des Jairus ist auferstanden, Lazarus ist auferstanden. Er ist gestorben und liegt da, vom Siegel des heiligen Tempels erdrückt — wie von der Weissagung des Kaiphas und von dem Stiefel des römischen Legionärs. Niemand wird ihn auferstehen lassen, wie er auch Ruth nicht auferstehen ließ. Man könnte glauben, er habe sich und sie wissentlich dem Tode ausgeliefert. Und wozu? Damit ihr Tod eben bezeuge, daß das Gesetz über der Barmherzigkeit steht, daß der Allerhöchste strafen kann, aber nicht verzeihen will.

Ich trat von der Felswand zurück und ging wieder zum Feuer. Einige Soldaten würfelten,andere liefen umher, um sich durch Bewegung den Schlaf zu verscheuchen,

„Ich danke dir, Lukianus“, sagte ich zum Unteroffizier, schüttete den Rest meines Geldes aus dem Beutel und legte ihn ihm auf die Hand. „Ich danke dir sehr. Wenn du mich einmal brauchst...“

Dann ging ich weg und kehrte nach Hause zurück. Ich konnte nicht schlafen, und deshalb schreibe ich Dir, o Justus!

Ich sollte zufrieden sein, daß ich mich weit genug von ihm fernhielt, daß ich nicht sein Jünger wurde. Der Sanhedrin und der Große Rat werden es mir vielleicht doch nicht nachtragen, daß ich für ihn eingetreten bin. Ich sollte damit zufrieden sein. Indessen bringt mich dieses Gefühl im Gegenteil fast zur Verzweiflung. Es kommt mir vor, als hätten die, die ihm immer folgten und an ihn glaubten, trotz seines Todes und der Enttäuschung doch noch etwas bewahrt. Ich habe daraus nichts gerettet! Für mich ist er gestorben wie Ruth — ganz und gar. So, als hätte ich Ruth zum zweitenmal verloren, als ertrüge ich zum zweitenmal den Schmerz, daß der Allmächtige sie mir nicht lassen wollte. Und zugleich — o Justus, das ist kaum zu erfassen! —, zugleich fühle ich, daß in der Tiefe meiner Verzweiflung eine Wandlung vor sich geht. Wieder klingen in meinem Ohr seine Worte vom Neugeborenwerden. Woher das erwartungsvolle Ahnen, daß diese Nacht eben die Nacht meiner zweiten Geburt werden soll? Was hat sein Tod mit einer Wiedergeburt zu schaffen? Ich spüre einen Schmerz in meinem ganzen Leibe, einen furchtbaren schneidenden Schmerz wie den einer Gebärenden oder vielleicht wie den einem Erwachsenen unbekannten Schmerz des Kindes, das auf die Welt kommt.

Er ist gestorben, um mir zu beweisen, daß er für mich alles zu tun bereit ist. Ich weiß nicht, warum es so ist. Aber er ist für mich gestorben. Es war mein Kreuz, an das sie ihn angeschlagen haben. Mein Kreuz! Und das seine? Was habe ich auf mich genommen? Nichts! Gar nichts! Simon hat nach dem Schwert gegriffen, Judas ist, wie man sagt, zu Kaiphas gelaufen, um ihm das Geld vor die Füße zu werfen, das man ihm für seinen Verrat gezahlt hatte. Und ich, was habe ich getan? Nicht einmal das! Ich wollte nur beobachten. Ich habe meine Anest und meine Sorge für mich behalten. Ich weiß schon, was ich bin: unfruchtbarer Boden Tch werde nicht neu geboren. Ich werde über ihn keine Haggade schreiben. Ich werde sterben, bevor der Morgen anbricht. Ich werde vor Ekel vor mir selbst sterben . .. Ich werde sterben.

Jemand kommt gerade an das Tor meines Hauses gelaufen.

Justus, es war der Unteroffizier. Er stand zitternd vor mir, so wie ich in der Nacht vor ihm gestanden war. Er atmete laut, und der Schweiß rann ihm über die Wanden, obwohl der Morgen eiskalt war. Speer, Schild und Helm hatte er verloren. Seine Hand umklammerte einige Geldstücke. Er schrie mich an und schlug sich mit der Faust auf die Brust: „Dir aber, Rabbi, sage ich: Wir haben nicht geschlafen! Wir haben auch nicht getrunken! Es war wirklich kein Traum!“

Denn, begreife das, er sagte, der Meister sei aus dem Grab herausgekommen! Das sagte er.

O Justus, ich weiß nicht mehr, was ich Dir schreiben soll. Etwas würgt mich in der Kehle, und zugleich verspüre ich einen Angstschauer auf meiner Haut. Das ist unmöglich! Ich habe sein Kreuz nicht auf mich genommen. Aber das wäre zuviel! Nein, das ist ihnen sicher nur so vorgekommen. Es wäre zuviel der Barmherzigkeit. Wozu soll man sich in trügerischen Hoffnungen wiegen? Es wird dann nur wieder so ein entsetzliches Gefühl geben, als“*erwache man aus einem Traum, in dem Ruth lebt und nicht leidet!

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