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STERNSUCHER

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Peter wußte nicht, ob ihn die harte Rede des Vaters so elend werden ließ, oder das unnütze Hocken in der Sonne oder die allzureichliche Kirschenfracht im nüchternen Magen. Er döste vor sich hin, kämpfte gegen den übergangenen Schlaf, und was um ihn herum geschah, erschien ihm bald als höchst fern und unwirklich.

Erst als nach dem Frühstück die Mutter auf des Vaters Geheiß heimzu ging und nicht einmal einen Schritt zu ihm tat und die Kathi nun die zweite Sense aufnahm, heulte er. Doch er setzte s^ch dabei so, daß die anderen es nicht merken konnten. Und wie er im Weinen sein Herz erleichterte und nur mehr die freie Talwelt vor Augen hatte, schien ihm jedes Ding in der Nähe und Weite noch mehr denn zuvor als ein Teil seines eigenen jungen Lebens. Ja er fand, daß dieser Besitz ihm heimlich zugesprochen sei und auch wert, daß man ihn mit Trotz und Kraft verteidige gegen jeden Menschen in der Welt.

Jene seltsame Stimme redete nun wieder zu ihm, und da er auf sie horchte, verging mit der Angst vor dem väterlichen Zorn auch der Trotz gegen den harten Mann und die kränkende Bitterkeit, daß er inmitten der Mahd wie ein fauler Nichtsnutz auf einer Garben hockte.

Die Stimme aber redete mit ihm, und er antwortete, als hätten sie in der Zwischenzeit allerlei sehr nützliche Fragen ausgetragen. Ich bin bisher den falschen Weg gelaufen, sagte er zu sich. Jetzt, in diesem Augenblick weiß ich es erst. Wer die Sterne erfahren will, muß vorerst den Kirchturm von Kematen messen und jenen von Oberperfuß und die Kirschbäume auf dem Bühel vor dem Hause und die Fichten auf dem Rangger Köpfel, dann erst den fliegenden Adler und auch dann noch lange nicht das weltferne Gestirn. Es läutete aber, da er dies neue Wissen so recht verkostete, die Elferin drüben, auch ihre Kameradin in Zirl fiel ein und die dünne Glockenstimme von Oberperfuß. Und da er sich verstohlen nach seinen Leuten umsah, stand die Kathi vor ihm. Sie bot ihm ein Stück Brot mit einer schmalen Schnitte Speck darauf und den Krug mit gewässertem Wein. „Da trink dich an“, sagte sie, „wir brauchen den Krug nötiger, wir haben mehr geschwitzt als der Herr Bruder.“ Er tat einen kleinen Schluck und nahm auch das Brot, die Speckschnitte wies er zurück.

„Für Schmalzkrapfen hat es der Mutter nicht mehr gelangt“, sagte das Mädchen, „hat ja die halbe Nacht auf dich gewartet.“

„Ich tat euch auch keinen wegessen“, sagte Peter, „so einer bin ich nicht.“

Die Kathi hatte aber stets das letzte Wort. „Hast es auch nicht verdient.“ Und nach einer bösen Weile: „Schaust dich ja nicht einmal nach deinen Leuten um.“

„Weil die Welt vor mir schöner ist als hinter mir.“

„In Innsbruck ist's freilich schöner.“

Er starrte die Schwester an, weshalb sie denn just auf Innsbruck verfallen sei. Bei der Kathi hatte ja jedes Wort Grund und Zweck. Er beneidete sie oft heimlich darum. Es ging aber noch manches Wort zwischen den Geschwistern hin und her, ehe er sie begriff und selber im Eifer verriet, daß er die Nacht nicht in Innsbruck, sondern, heimlich eingeschlossen, auf dem Oberperfer Kirchturm verbracht habe. Das erste und das letite Mal, denn fürder brauche er den Turm nicht mehr. Es sei aber für ihn eine höchst wichtige, ja vielleicht für sein Leben entscheidende Nachtwache gewesen.

Leicht war ihm j nicht ums Herz. Er wußte nicht, sollte er sich freuen, daß sie ihn in Innsbruck bei den gelehrten Herren vermutet hatten, oder sich ärgern, daß man ihm zutraute, er renne am Tag vor dem Kornschnitt davon. Die Schwüle des Mittags und sein untätiges Sitzen neben den Arbeitsamen ließen ihn den rechten Gedanken in diesem Zwiespalt nicht finden. Noch mehr: Was ihm bisher eindeutig und völlig gewiß erschienen war, nun ward es von solchem Zweifel angesteckt und selber zwiespältig, war er nämlich, als der erste Zorn über die Schwester verflogen war, beinah entschlossen, vor den Vater hinzutreten und seine Schuld freimütig zu bekennen, wie es einem gel imen Sohne ziemte, so erchien ihm die Schritt auch gleich wieder sehr gefährlich. So viel wußte er mit seinen neunzehn Jahren aus dem eigenen Leben und aus mancher fremden Geschichte: es gab Punkte im Leben, da durfte einer nicht weichen, selbst wenn es um den Kopf ging, und an einem solchen Punkt, schien ihm, stehe er nunmehr. Es kam ihm aber auch aus diesem Trotz diesmal keine neue Kraft. Die fremde Stimme schwieg, ob er nun an den fliegenden Adler dachte oder an den Kirchturm und den feinen Meßrahmen, ob ihm die Sterne wichtiger vorkamen oder die irdische Welt. Das eine ward bald so gleichgültig wie das andere, und am Ende schlief er ein.

Als er von Stimmen und Schritten erwachte, stand der Vater neben ihm: „Geh mit uns heim“, sagte er, „und trag deine Sense, sonst meinen die Leut wirklich, wir führen einen Narren mit.“ Mehr sagte der Vater nicht. Die Mädchen schritten bereits voraus und der Vater blieb gern ein wenig zurück. Peter trabte zwischen beiden. Er spürte die sonst geliebte Stille des Abends kaum, auch den Traum, den er knapp vor dem Erwachen durchlebt hatte, konnte er nicht deuten. Er wußte nur, an seinen Gliedern spürte er es, daß er sehr schwer gewesen war und ihn aus all seinen kühnen Plänen gerissen hatte. Der Kirchturm von Kematen hatte darin mitgespielt, ein anderer Kirchturm und ein Meßrahmen. Und da er in die feierliche Stille des Waldes eintrat, wußte er es ganz deutlich: In Kematen hatte der Meßrahmen die Prüfung ausgezeichnet bestanden, doch da er dann beim Oberperfer Turm die Messung wiederholen wollte, genügte der gleiche Rahmen nicht mehr. Ja er hätte, das war ihm selbst im Traum deutlich geworden, neue Marken und ein neues Abschreiten gebraucht, einen neuen Rahmen, der wieder nur für den Oberperfer Kirchturm paßte und für keinen anderen. Mit dem Zirler Turm, dem Rangger Köpfel, mit dem Nußbaum hinterm Haus und den Fichten war das nicht anders. Er hatte es bloß in seiner raschen, kindischen Art übersehn. Wenn aber jedes neu zu messende Ding einen besonderen Rahmen und eine so umständliche Vorarbeit erforderte, dann war er mit seiner so fröhlichen Entdeckung auch nicht einen Schritt weiter gelangt, es sei denn, wie er jetzt einem alten Gelehrten gleich bedachte, daß ein herrlicher Gedanke sich als nichtswürdig erwiesen hatte und er nunmehr wußte, daß er ohne die Herren in Innsbruck nicht weiterkam.

Beim Nachtmahl hockten sie schweigend um die Schüssel mit den Schmalzkrapfen. Die Mutter nahm nur einen Löffel Suppe und suchte sich dann eine Arbeit am Herd, der Vater aß hastig einen Krapfen, langte dann nach dem Brixnerischen Schreibkalender und trat damit ans Fenster. Die kleine Leni würgte an dem ersten Bissen und äugte ängstlich zum Vater hinüber, nur die Kathi schmauste behäbig und hatte somit allen Grund, gleich den anderen zu schweigen. Peter aß zwei Krapfen rasch hintereinander, er wollte nicht der Schuldige sein, dessentwillen die anderen so betrüblich schwiegen. Als er fertig war und sich den Mund abwischte, kehrte sich der Vater rasch um und sagte: „Die Kathi geht jetzt melken und die Leni kriecht ins Bett, sie hat es not. Die Mutter aber will vielleicht im Stall helfen. Wir machen heut zeitiger Schluß, haben He den Schlaf nötig.“

„Es wird gut sein *u schlafen“, sagte die Mutter darauf und ging langsam den Mädchen nach.

„Du kannst gehn, wohin du wfJltt“, jagte der Vater, „auf der Stelle kannst du gehn. Aber wenn du dann wieder heimkommst, weil sie draußen einen Menschen, der die ganze Nacht auf dem Kirchturm hockt und die Stern angafft, nicht gebrauchen, oder wenn du daheimbleibst, weil dir mit deinen neunzehn Jahren doch am Ende der Verstand kommen will, dann jag ich dir nur eins: von heut ab hat das kindische Wesen ein End. Auch die Drechselbank ist nicht mehr für dich. Das Brett auf dem Birnbaum verschwindet, die Kalender nimmt die Mutter zum Feuermachen, und wenn du noch ein dummes Wort darüber redest, dann Übergeb ich diesen unseren Hof lieber der Marie samt ihrem dahergelaufenen Mannsbild. Es wird aber nicht dazu kommen. Deine Hand darauf, Peter.“

Peter hockte noch immer auf der Bank, nur ein wenig aufrechter saß er da, so wie das erste harte Vaterwort ihn aufgerissen hatte. Auch stand ihm der Mund vor Erstaunen weit auf. Als er jedoch begriff, daß der Vater ihn nicht etwa schlug, sondern dies alles so ruhig hinsagte, als ginge es um einen Fremden, einen Knecht, und sonst kein Wort, da brachte er die Hand nicht über den Tisch herauf. Der Vater aber, der ihm die seine vergeblich entgegengestreckt hatte, sagte kein Wort und verließ die Küche.

Am ehesten, erzählte Peter später einmal, sei damals sein Zustand dem eines Menschen ähnlich gewesen, der durch eine Kugel oder einen Stich gefährlich verletzt, dennoch im Augenblick weder den Schmerz noch die Gefahr spüre, sondern irgendwelche gewohnten Verrichtungen mache, als habe sich an seinem Körper nichts geändert. Auch er sei damals nach des Vaters Weggang aufgestanden, habe die Kalender wieder auf den Spind gelegt, einen Schmalzkrapfcn angebissen und schließlich das Haus an der Futterkammer vorbei verlassen. Einen besondern Schmerz oder auch nur Zorn habe er dabei nicht verspürt.

Als er dann im Garten stand und zu den wenigen Sternen aufblickte, die als erste mit ihrem reicheren Lichte die immer noch helle Dämmerung durchbrochen hatten, und als nun den Gestirnen, den schuldigen Boten des Himmels gegenüber ein rauher, ja all sein Leben auslöschender Schmerz ihn überfallen wollte, da trat die Mutter aus dem Stall.

Sie ging sogleich auf ihn zu und ergriff seine Hand.

„Ich soll den Hof verlassen auf des Vaters Geheiß“, sagte er, „und ich will es noch in dieser Nacht tun.“ Er spürte aber sogleich, daß er zu rasch und zu viel geredet hatte, und die Angst um die Mutter war plötzlich gewaltiger als alles andere. Er hörte kaum ihren Atem. „Der Vater will mich aus dem Haus jagen, wenn ich ihm nicht ein Versprechen abgebe“, setzte er hinzu, „und ich habe es nicht gegeben. Ich verspreche nichts, was ich nicht halten kann “

Es war ihm aber, als sähe er ein Lächeln auf der Mutter traurigem Antlitz. Dann hörte er ihre weiche Stimme wie von weitem her. „Wenn der Vater so schnell mit dem Schelten fertig ist, dann steht es bös. Ich habe es gleich gedacht. Und was für ein Versprechen hat der Vater verlangt?“

Peter konnte nun bereits um vieles ruhiger berichten, was sich zwischen ihm und dem Vater zugetragen hatte, und wenn ihn auch die Schrecknis mit jedem Wort würgte, er ließ sie nicht ausbrechen, denn r wußte, daß er dann noch erbärmlicher heulen würde denn irgendein unseliger Mensch irgendwo auf der Welt. Die Mutter hörte ihn ruhig an, dann sagte siet „Wir wollen weiter in den Garten hineingehen, es braucht niemand hören, was wir beide nun einander zu sagen haben.“

„Ja, gehn wir“, sagte er, „es redet sich leichter;“

Es lag aber in der Mitte des Gartens da Haufen von kurz geschnittenen Birken-itämmen übereinander, die der Vater hier austrocknen ließ, ehe er sie zu leiner Arbeit gebrauchte. Zu diesen Stämmen gingen sie nun und ließen sich darauf nieder. Noch nie war die, Mutter hier gesessen, gar ru dieser nächtlichen Stund.

„Du bist doch kein Kind mehr“, tagte sie jetzt, „und sollst deshalb den Vater doch schon besser begreifen als irgendein kleiner Bub. Denk an die Zeit, du weißt sie nicht, da er noch kein Bauer wa, er hat dir ja oft genug davon erzählt, sondern ein Kohlenbrenner, ein Hirte, ein Schneider. Er hat bei all diesen Beschäftigungen sein gutes Brot gefunden, denn er war auch damals ein tüchtiger und rechtschaffener Mann, aber die rechte Ruhe hat er bei jenen Verrichtungen nicht gefunden, und ohne die rechte Ruhe kann der Mensch nicht glücklich leben, auch wenn er genug Brot und einen Überfluß an Gulden hat. Du weißt doch schon selber, wie das ist, wenn der Mensch die rechte Ruhe nicht findet.“ „Ja, das weiß ich, Mutter.“

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