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Die Kanonade von Dresden

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Ein denkwürdiger Auftritt: Hans Jaray, der Grandseigneur des österreichischen Theaters, spielt die Rolle des Kaisers Franz Joseph I. Anlaßlich der Premiere veröffentlichen wir ein bisher ungedrucktes Kapitel zum großen Entwicklungsroman, den der Künstler während seiner Emigration verfaßt hat.

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Ein denkwürdiger Auftritt: Hans Jaray, der Grandseigneur des österreichischen Theaters, spielt die Rolle des Kaisers Franz Joseph I. Anlaßlich der Premiere veröffentlichen wir ein bisher ungedrucktes Kapitel zum großen Entwicklungsroman, den der Künstler während seiner Emigration verfaßt hat.

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Der Krieg ging in den dritten Winter, der Kohlenvorrat dem Ende entgegen. Kaiser Wilhelm, beispielgebend, ließ sich im feldgrauen Mantel, am Schreibtisch sitzend, fotografieren. Demnach durften auch die Zöglinge des Friedberg Instituts in Dresden in den Studiersälen ihre Mäntel anbehalten. Trotzdem nahmen die Influenza- und Anginafälle zu, nicht zuletzt infolge der mangelhaften Ernährung. In den Bankreihen mehrten sich die Lük-ken. Die Krankenabteilung dagegen war überfüllt. Doch der Patriotismus der Zöglinge, ob gesund oder krank, war intakt. Der Endsieg war ihnen versprochen. Daran konnte auch der verzweifelte Widerstand der Franzosen vor Verdun nichts ändern. „Deutschland verliert keinen Krieg! Man denke bloß an den glorreichen Einzug der preussischen Regimenter in Paris Anno 1871! „Professor Walcher, Geographie- und Geschichtslehrer, seit dem Vormarsch in den Vogesen um ein Bein ärmer, verstand es dennoch, seine jüngste Klasse in vaterländischer Begeisterung zu halten. Umsomehr fiel es ihm auf, wenn einer nicht so recht mitmachen wollte. „Was ist los mit Dir, Stellenheim? Ihr Österreicher seid wohl weniger kriegsbegeistert? Verständlich. Bei Königgrätz haben wir euch tüchtig versohlt. Aber keine Angst, diesmal seid ihr auf unserer Seite. Wir ziehen euch schon aus dem Dreck.“

Der urwüchsige Historiker hatte die Lacher auf seiner Seite.

„Na, na, brauchst nicht beleidigt zu sein. War nicht bös gemeint.“

„Ich bin nicht beleidigt, Herr Professor.“

„Warum schaust du dann so ernst drein?“

Der neunjähre Junge stand auf. „Bitte, ich hab' Halsweh.“

„Hab' ich auch!“ rief Marich aus der vorletzten Bank.

„Aber, bitte, ich kann kaum mehr schlucken und mir rinnt's auch kalt über den Rücken.“

„Komm' mal her, Junge.“ Professor Walcher trat ans Fenster. „Mach' mal den Mund auf... ja, ja, man sieht's... man sieht den Belag auf beiden Seiten. Und einen heißen Kopf hast Du auch. Wahrscheinlich hast du Fieber. Geh' auf die Krankenabteilung und melde Dich beim Herrn Chefarzt.“

Chefarzt Dr. Kempf, ein behaglicher Sachse, schüttelte bedenklich den Kopf: „Der Belach gefällt ma gar nich. Da werdn wa wohl'n Abstrich machen müssen. Schwester Emilie, legen Sie ihn auf jeden Fall ins Infektionszimmer, sonst steckt er uns am Ende noch die andern an. Ich komm' dann gleich riber.“

In dem kahlen, weißgetünchten Infektionszimmer, wo es stark nach Karbol roch, hing eine Glühbirne von der niedrigen Decke und ergänzte das winterlich trübe Tageslicht.

In Ermangelung eines Kastens hängte Mathias seinen grauen Flanellanzug ordenlich über den Sessel:

„Was für eine Krankheit hab' ich eigentlich, Schwester?“

„Das wird Dir der Herr Chefarzt sagen, wenn er es für richtig befindet. Dort auf dem Bett liegt ein Nachthemd für Dich.“

Als er ins Bett stieg, fröstelt es ihn heftig. Schwester Emilie schrieb 39,8 auf die Fiebertabelle.

„Keene Angst, Junge, das tut nicht weh.“ Dr. Kempf nahm einen Abstrich vom Halsbelag, der sogleich ins Johannesspital zur Untersuchung gebracht werden sollte. „So, und nu kriecht er zwee Aspirintabletten und een heißen Tee. Appetit haste wohl keen?“

„Nein, bitte.“

„Kann ich verstehn. Er soll efter mit Wasserstoff gurgeln. Das kann auf keen Fall schaden. Morchen frieh, wenn der Befund vorliecht, werdn wa kliecher sein. Hoffentlich kannste gut schlafen.“

Das konnte er nicht. Zu viele Fragen überstürzten sich unter seiner heißen Stirn. Warum lag er allein in diesem kahlen Raum, abgesondert von den übrigen, kranken Kameraden? Hatte Dr. Kempf einen bestimmten Verdacht oder keine Ahnung, was ihm fehlte? Werden sie im Johannesspital an dem Abstrich am Ende eine ganz tückische Krankheit entdecken, eine, für die es keine Heilung gibt? Gott läßt so viele Soldaten im Krieg sterben, warum sollte Er nicht wieder einmal einen Zögling aus dem Friedberg Institut abberufen, so wie den Limburg aus der Vierten, der vor kaum einem Monat an Typhus gestorben war? Gott ist gerecht. Er macht keinen Unterschied zwischen alt und jung, arm und reich. Wie oft hatte die Großmutter, auf sein Seelenheil peinlichst bedacht, ihm das versichert. Sollte es ihm nun wirklich nicht mehr schlagen, wo wird man ihn dann begraben? Hier in Dresden unter lauter Fremden und überdies Protestanten? Der Grabstein mit der Inschrift Familie Stellenheim stand auf dem katholischen Hitzinger Friedhof in Wien, dorthin gehörte auch er. Bestimmt werden sie den Sarg mit seiner irdischen Hülle im Sonntagsanzug per Eisenbahn nach Wien befördern. Das kostete zwar sicher eine Menge Geld, aber das wäre schließlich die letzte Ausgabe, die er verursachte.

Nachdem Schwester Emilie ihm den Schweiß abgetrocknet und ihm ein frisches Nachthemd angezogen hatte, verweilte er nicht lange in der Gegenwart. Rasch trieb es ihn zurück zu seiner letzten Fahrt: Hoffentlich wird Gott den Heimkehrer rechtzeitig bemerken und seine Seele zu sich berufen,noch bevor sie ihn hinunterkurbeln zu Tante Josefine und dem Großvater. Denn sobald sich der schwere, steinerne Deckel wieder gesenkt hat, dürfte es selbst eine Seele nicht leicht haben, der Finsternis zu entkommen und sich in Uchte Höhen zu erheben, mag sie noch so federleicht und unsichtbar sein. Daß der Teufel sich seiner bemächtigen könnte, zog er kaum in Erwägung, denn er hatte, den Erwartungen seiner Großmutter entsprechend, für alle seine Sünden reuig gebüßt. Nur eines war ihm nicht ganz klar: Wenn die Seele tatsächlich gleich nach dem Tod in den Himmel kam, wozu bedurfte es dann noch des jüngsten Gerichtes? War das eine Art Matura, bei der man durchfallen konnte, selbst wenn man die früheren Prüfungen bestanden hatte?

Am dritten Morgen war Mathias zum ersten Mal fieberfrei. Gegen zehn Uhr vormittag vernahm man aus heiterem Himmel dumpfe Schläge, wie Donner, aus der Ferne. Ein Gewitter an einem klaren Dezembertag? Sollte Kiesaus Seelenreise am Ende von einem Naturereignis begleitet sein? Kaum anzunehmen. Das wäre vielleicht der Fall beim Tode eines Bischofs oder des

Papstes. Aber doch nicht bei dem eines zwölfjährigen Jungen. Da hätte der Himmel viel zu tun.

Die seltsamen Donnerschläge aus der Ferne wiederholten sich in kürzeren und längeren Zeitabständen und mischten sich mit helleren Detonationen, gleich aufsteigenden and berstenden Raketen. Die Kinder hatten sich in den Betten aufgerichtet oder standen neugierig an den Fenstern, was Schwester Franziska nicht lange duldete. Doch über die Ursache des eigenartigen Gewitters wußte sie ebensowenig wie ihre Pfleglinge.

Kurz vor dem Mittagessen kam der schmächtige Dr. Gollwitz und klatschte in die Hände, bis es still wurde: „Paßt mal auf Kinder. Die merkwürdigen Geräusche, die ihr hört, brauchen euch nicht zu erschrecken. Im Arsenal ist eine Explosion. Aber das ist weit weg von hier, mindestens eine Stunde zu Fuß. Und dazwischen hegt die Elbe. Es kann euch also nichts geschehen, selbst wenn das Gekrache vielleicht noch etwas lauter werden sollte.“

Das wurde es im Laufe des Tages. Das Dresdner Arsenal, eines der größten Deutschlands, lagerte Munition für sämtliche Waffengattungen, von Gewehren bis zu schweren Geschützen. Löschversuche erwiesen sich rasch als unmöglich. Die Gebäude im weiten Umkreis wurden geräumt. Kleinere Häuser riß es auseinander. Der Himmel, rot bei Einbruch der Dämmerung, flammte grell auf bei jeder neuen Explosion.

Der spärlich beleuchtete Diph-teriesaal, ohne Gardinen, lag im Zwielicht. Das Abendbrot der jungen Patienten blieb unberührt. Sie saßen mit Herzklopfen in den Betten oder drängten sich an den Fenstern, trotz wiederholtem Einspruch der Schwestern. Der katholische Seelsorger spendete in alle Richtungen Worte der Ermutigung. Der Donner der aufflammenden Geschosse wurde zunehmend gewaltiger, doch die Zeitabstände länger.

„Das kommt davon, weil's nu an die ganz schweren Granaten geht. Da dauert's länger bis so 'n Ding hochsaust.“ Ein arg verstümmelter Korporal saß auf Mathias' Bett und verspeiste dessen Abendbrot mit Genuß. Dem Mann fehlten ein Arm und ein Auge. Sein Gesicht war ein jämmerlicher Uberrest frischvernarbter Brandwunden, seine Nase ein kurzer Stumpf. Ähnlich sahen auch andere der etwa zwanzig Soldaten aus, die in den Saal eingedrungen waren, auf dem Boden lagen, auf den Betten saßen und einen gemischten Gestank von Karbol, Tabak und Branntwein verbreiteten. Viele Hunderte Invaliden aus den evakuierten Militärspitälern nahe dem Arsenal überfüllten Korridore und Säle der Zivilkran-.kenhäuser, ungeachtet der Infektionsgefahren. Krankenwärter, Pflegerinnen und Ärzte standen dem Ansturm hilflos gegenüber. Was tun mit der feldgrauen Meute, die in Lastwagen angefahren kam? Auf der Straße konnte man die ausgedienten Helden des Vaterlandes nicht lassen.

Die Kinder wußten nicht, was sie mehr erschreckte, die Feuergarben, die donnernd zum Himmel stiegen, oder die feldgrauen Krüppel, die teils gröhlend, teils stumm die übriggebliebenen Portionen der jungen Patienten verspeisten.

„Was guckste mich so an? Ich gefall Dir wohl nicht.“

Der verstümmelte Korporal auf Mathias' Bett beendete die Mahlzeit mit einem kräftigen Schluck Branntwein aus seiner Feldflasche.

„Wieso ... wieso gefallen Sie mir nicht? Wie... wie meinen Sie das?“ stammelte der Junge und rückte unwillkürlich von seinem Besucher ab.

„Brauchst keene Angst haben. Ich tu Dir nischt. Gott verdamm' mich, was kann ich dafür, daß ich so ausseh'?! Glaubste mir macht das Spaß, daß ich herumlaufe wie so'n Kadaver? ! Wülste sehn, wie ich frier ausge-sehn habe?“ Mühsam zog er ein Photo aus seiner zerschlissenen Brieftasche. „Da, guck Dir das mal an!“

Mathias blickte auf ein junges Brautpaar: sie weiß gekleidet, ländlich hübsch, ein wenig drall, er in schwarzem Anzug mit weißer Masche, groß, breitschulterig, rundliches Gesicht, Bürstenfrisur. - Was war er wohl damals? Mechaniker? Tischler? War das derselbe, der als Schreckgestalt hier auf dem Bett saß und nach Karbol und Fusel stank?

„Da guckste, was? Und das alles für Kaiser und Vaterland!“

Er deutete auf seine vernichteten Körperteile. Mathias fielen keine Worte ein. Sollte er das Photo noch länger betrachten oder es wortlos dem Eigentümer zurückgeben?

Wieder barst eines der schweren Geschoße und tauchte den rötlichen Abendhim-fnel in grelles Licht. Die Kinder schrien auf. Die Nonnen und einige Soldaten beschwichtigten sie. Die ehemaligen Krieger, abgestumpft gegen Granatfeuer, schnarchten auf dem Boden, spielten Karten oder unterhielten sich geräuschvoll miteinander. Infolge ihres Gestankes, sowie des mißachteten Rauchverbots, mußte immer wieder gelüftet werden, trotz der feuchtkalten, von Pulverdampf durchsetzten Abendluft.

Mathias gab dem Korporal sein Hochzeitsbild zurück und fragte, um etwas zu sagen:

„Wo ist Ihre Frau jetzt?“

„Meine Frau?! Dieses Luder, dieses verdammte?! Weg ist sie mit einem anderen!“ Darauf folgte ein langer Schluck Branntwein.

„Wieso... wieso wissen Sie das?“

„Sie hat mir's geschrieben, weil sie zu feich war, mir's ins Gesicht zu Sachen. Mistvieh verdammtes. Een Mal hat sie mich im Spital besucht. Das hat ihr genicht.“

„Lassen Sie den Jungen in Frieden“, unterbrach Schwester Agathe.

„Er soll sich ruhig verhalten.“

„Kann er ja. Ich erzähl ihm bloß ne Geschichte.“ Er setzte sie fort, nachdem die Nonne gegangen war. „Merk Dir eenes, Junge, alle Weiber sind Ludern!

Wehe, wenn Du im Dreck bist! Dann haun sie ab!“

Kurz vor neun erschütterte die letzte, gewaltigste Explosion sogar das ferngelegene Johannesspital. Die mächtigen Feuersäulen schienen so nahe, als gingen sie knapp vor den Fenstern hoch. Die Kinder sprangen aus den Betten, warfen sich schreiend auf den Boden oder rannten hilfesuchend im Saal umher. Sogar die Soldaten waren aufgesprungen. Schwester Clementine faltete zitternd die Hände und forderte zum Gebet auf.

Nach zehn Stunden des infernalischen Feuerwerks war es wieder still geworden. Über der Hauptstadt Sachsens zogen dicke Rauchschwaden unter dem roten Firmament. Die Ruinen des Arsenals und der umliegenden Gebäude brannten, unnachgiebig gegen die begonnenen Löscharbeiten. Feuerwehr und Sanität standen in vollem Einsatz.

Die^ Soldaten waren aus dem, Johannesspital abtransportiert worden. Dr. Gollwitz hatte den jungen Diph-teriepatienten eine leichte Dosis Brom verordnet. Die Nachtschwester überzeugte sich von Bett zu Bett, daß alle schliefen.

Nur einer stellte sich schlafend. Seine Gedanken kreisten in neuen, verwirrenden Regionen. Die vielfältigen Erfahrungen des ehemaligen Zimmerkellners - nicht Mechanikers oder Tischlers - hielten ihn erbarmungslos gefangen. Sie zertrümmerten seine Kindeswelt Hatte der Kellner-Korporal ihm die Wahrheit gesagt oder im Branntweinrauech phantasiert? Waren die Menschen, von denen er erzählt hatte, dieselben Männer und Frauen, die gesittet durch die Straßen gingen, in den Kirchen beteten, auf die Reinheit ihrer Kinder achteten und jedes häßliche Wort verabscheuten? Hatten die Menschen zwei Gesichter?

Der Zimmerkellner hatte ganze Arbeit geleistet und seinen jungen Freund nichts verschwiegen. Was der Knabe bisher nur nebelhaft, naiv harmlos geahnt und immer wieder von sich geschoben hatte, stand nun in allen Einzelheiten, unfaßbar, doch erschreckend lebendig vor ihm, vermischt mit der entmenschten Fratze des Korporals und den Feuergarben berstender Granaten. - So also wurden Kinder erschaffen! So war wohl auch er entstanden! Und so sollte später einmal auch er Kindern zum Leben verhelfen! Es lief ihm kalt über den Körper. War das alles das Werk Gottes, des Allmächtigen? Oder hatte er Kiesau und Limburg aus der Vierten so früh zu sich gerufen, um sie vor solch schauerlichen Sünden zu bewahren?!

Erst im Morgengrauen, als das rote Firmament sich allmählich entfärbte, schlief er ein.

Bald danach rüttelte ihn die Nachtschwester: „Was hast Du? Warum schreist Du so fürchterlich?“

„Ich... ich hab'... ich hab' was geträumt.“

„Mir scheint, Du hast wieder Fieber. Kein Wunder, nach diesem Tag. Beruhige Dich und schlaf weiter.“

Sie deckte ihn zu. Dann kehrte sie zu ihrem Stuhl zurück und griff wieder nach dem Rosenkranz.

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