6571272-1950_21_07.jpg
Digital In Arbeit

Die Eine der Frau X

Werbung
Werbung
Werbung

Die Postkutsche schaukelt langsam durch die Landschaft Frankreichs. Noch sind es Stunden, bis das Ziel — der kleine Ort Ars — erreicht sein wird. Ein Teil der Reisenden schläft, ein Teil dämmert dahin. In einer Ecke sitzt Frau X neben ihrem kleinen Söhnchen Erich. Erichs Mutter schläft nicht und träumt nicht. Denn es heißt nicht träumen, wenn im Herzen Bilder sich wenden und wechseln, die wirkliche, tatsächliche, harte Dinge sind, und es durchdringen wie Schwerter; eine Vergangenheit, die nicht weichen will, die die Gegenwart verdüstert und auf der Zukunft lastet.

Frau X — achten wir ihr Inkognito — ist über das Geländer am Saöneufer gebeugt. Das Wasser ist stürmisch und schwer von Lehm; es hat. stark geregnet und ist sehr windig. Da fällt etwas oder jemand. Ein weiter Wellenkreis bildet sich. Das ist alles. Die Ufer sind verlassen. Kein Schrei. Drei Stunden später wird man den Unglücklichen herausziehen.

Er hat getan, was er wollte. Nein. Was sie wollte, daß er tue. Was sie seit fünf Jahren unaufhörlich gewollt, Tag für Tag, Stunde um Stunde. Frau X hält eine Kette; an ihrem Ende hängt ein Ertrunkener.

Man will nicht immer bewußt, was man will. Das ist nur um so erbärmlicher. Vor allem will man nicht immer die Folgen dessen, was man will. Man überlegt nicht, oder man will nicht überlegen. Und weil das arme Geschöpf zu wenig überlegt hat, ist's nun dem Schrecken preisgegeben und sieht alles nur mehr im Lichte der Folgen.

Sie hat diesen Mann gewollt; sie kann es nicht leugnen. Wie sie drei Jahre vorher einen anderen gewollt hatte. Sie hat sich gefürchtet, sitzenzublaiben. Ihre Mutter drängte, aber sie hätte sie nicht zur Heirat gezwungen. Der erste kam nicht mehr. Er gründete eine Bank in China. Man kann nicht auf die Treue eines Mannes bauen, der in die Welt zieht. Der zweite hatte alles, um zu gefallen. Sie radierte im Notizbuch ihrer Gefühle etwas aus. Sie heiratete ihn zu schnell.

Sie hätte es ihm nicht verheimlichen sollen; er war bereit, sich zu gedulden. Er hätte alles getan, daß mit der Zeit der andere vergessen würde; er hätte sich bemüht, sich allmählich nach ihr zu formen, sie nach sich zu formen und den Einklang zu schaffen, der für ein Leben hätte dauern sollen. Aber wie ein Kind, das ein Spielzeug verlangt, wollte sie es sofort haben oder gar nicht. Als die Ehe geschlossen war, meinte er, es sei alles getan, man brauche es nun nur mehr gehen lassen, wie es ging.

Sie hätte ihn seinem Irrtum entreißen müssen. Schon nach einem Monat merkte-sie, daß das Spiel nicht gespielt wurde, daß der Bund n'cht besiegelt war. Sie fand es bequem, das angefangene Werk liegenzulassen, und hinreichend — im Rahmen der Moral —, „miteinander zu leben“. Sie blieb sie, er blieb er. In einer so verstandenen Ehe ist Platz für einen dritten.

Und der dritte ist wiedergekommen.

Herr X war ein häuslicher Mann. Wenn er zwölf Stunden in seinem Büro gearbeitet hatte, durch die Werkstätten gegangen war, sich mit den Werkführern besprochen hatte, war sein einziger Wunsch, Ruhe zu haben, die Füße am Kamin auszustrecken und gemütlich mit seiner jungen Frau zu plaudern. Er war nur Weltmensch geworden, um einen Rock für seinen Rücken zu haben, und hatte seiner Zukünftigen gegenüber kein Hehl gemacht aus der Ehrbarkeit und der wirklich lyonischen Friedlichkeit seiner Neigungen. Frau X aber nahm keine Rücksicht darauf, vergaß, daß sie nicht mehr erst geheiratet werden sollte, und folgte weiterhin allen Einladungen in die Gesellschaft. Er begleitete sie gehorsam und bemühte sich, seine Mißstimmung zu verbergen. Sie las sie -war in seinen Augen, wollte sie aber nicht tragisch nehmen. Er sah, wie begehrt sie war, und fühlte sich mehr geschmeichelt als zur Eifersucht bewogen.

Man erwiderte die Abendgesellschaften, die Bälle. Man erweiterte den Kreis der Beziehungen, und die Gelegenheiten, auszugehen, mehrten sich. Als der kleine Erich zur Welt kam, nahm man ihm eine Amme; der Trubel war bloß für kurze Zeit unterbrochen. Im Laufe einer dieser Abendgesellschaften war es, daß Frau X den dritten wiederfand, der aufgehör! hatte, zu reisen.

Frau X hielt sich für eine anständige Frau. Bis dahin hatte auch in der Tat nichts ihren Ruf getrübt. Von koketter Weiblichkeit sind doch alle Bälle voll, und niemand entrüstet sich über sie als etwa alte Jungfern. Als der Reisende sie erkannte, tat er, was er konnte, um ihr aus dem Weg zu gehen. Obzwar er genügend Abenteuer mitgemacht hatte und bereit war, noch manche zu erleben, hatte er doch wenig Lust, eine Rolle in einer bürgerlichen Komödie oder Tragödie zu spielen. Er zog die exotischen vor. Aber Frau X warf sich ihm an den Hals. Sie stellte ihm ihren Gatten vor.

Zwei Monate später war der Reisende — nennen wir ihn Herrn Z — der Hausfreund geworden. Man gab kein Fest mehr ohne ihn und ging nur noch mit ihm aus. Und natürlich gingen auch die ärgerlichsten Gerüchte um.' Sie waren zwar falsch; Frau X hielt sich noch immer für eine anständige Frau. Aber sie war es schon nicht mehr.

Von jetzt an waren drei Plätze in ihrem Herzen. Der ihres Gatten, nicht größer und nicht kleiner als am ersten Tage. Der Erichs, ein bescheidener nur, das Mindestmaß dessen, was einem Kinde von seiner Mutter gebührt. Und der des Reisenden; dessen Ausmaße zu bestimmen, unterließ sie lieber. Sie gestand sich nicht ein, daß er auf Kosten der beiden andern wachsen könnte. Sie liebte ihren Gatten, sie liebte ihr Kind; sie liebte nicht Herrn Z. Er war ihr Begleiter, ihr Ritter; hatte sie nicht in Romanen von untadeligen Damen gelesen, di mit solchen versehen waren, wie es Ingres auf seinen Genrebildchen aus dem Mittelalter so reizend darstellt? Sie hätte ihm keine Fingerspitze zum Kuß überlassen; aber seine Gegenwart konnte sie nicht entbehren. Eine wunderbare Versöhnung ihrer Neigung und der Pflicht.

Herr Z aber verstand es anders. Gab er sich dazu her, mit ihr zu gehen, so nur unter der Bedingung, daß es vorwärtsging. Für die junge Frau stand das außer Betracht. Sie rechnete nicht mit der wachsenden Fallgeschwindigkeit der Liebe. Ein Händedruck zuerst, eine gewagtere Artigkeit, ein kühnerer Blick, ein schwindelnder Walzer warben um Vertraulichkeit. Und dann war es zu spät, sich zu widersetzen.

Man gewährte heute das, morgen jenes. Nichts erscheint mehr beleidigend, wenn die Beleidigung abgestuft wird. Bis schließlich Frau X alles gewährte. Eines freilich ausgenommen; in diesem Punkt blieb ihre Tugend unnahbar. Sie glaubte sich quitt mit ihrem Gatten, indem sie ihm dieses Vorrecht oder, wie man heute sagt, die Ausschließlichkeit wahrte. Dieses Opfer kostete sie, wie es schien, 6ehr wenig; vielleicht, daß ihre Sinne noch nicht erwacht oder daß sie nicht sinnlich war. Worüber konnte ihr Gatte sich also beklagen? Sie sparte die Hauptsache für ihn.

Indessen klatschte man in den Salons in allen Tonarten. Frau X bot dem Klatsch die Stirn. Sie wußte sich untadelig. Man bedauerte Herrn X und ließ es ihn fühlen. Aber seine Gelassenheit machte die mitfühlenden Seelen unsicher. Je weiter sich seine Frau von ihm entfernte, desto mehr glaubte er an sie: desto mehr litt er aber auch an dieser Liebe und diesem Glaubenmüssen. Um sich und der Welt seine vollkommene Sicherheit zu beweisen, ließ er sie absichtlich allein auf den Ball und ließ er sie allein mit dem Freunde ausgehen, wenn sie Lust hatte. Aber je ruhiger er sich nach außen gab, desto mehr zehrte eine innere Angst an ihm.

Ob Herr Z tiefer beteiligt war? Wir bezweifeln es. Er war vom Schicksal verwöhnt worden. So lange Vorspiele war er nicht gewöhnt. Und da sich keine Gelegenheit fand, das Ganze zu erzwingen, und die junge Frau eigensinnig auf diesem ihrem letzten- bürgerlichen Vorurteil, wie er es nannte, beharrte, schützte er eine Krankheit vor. Nicht, um sie zu rühren oder zu beunruhigen, sie zu reizen, sie an sich zu ziehen, sondern einfach, um die Beziehungen zu lockern und in schicklicher Form ohne Drama zu lösen. Sie war durch nichts darauf vorbereitet, daß er sie - verlassen würde, und doch verstand sie gleich: die Liebe ist da hellseherisch. Allen Geboten der Schicklichkeit trotzend, erschien sie bei ihrem Freunde und suchte sich mit Gewalt Zutritt zu ihm zu verschaffen. Vergebens. Sie schrieb Brief auf Brief. Sie suchte ihn, verzieh ihm, beschwor ihn, wieder zu kommen — aber versprach nichts Wesentliches. Wenig geneigt, sich so ohne Bedingungen zu ergeben, antwortete er ihr, er gehe wieder auf Reisen, sei schon abgereist; sein Arzt habe ihm Luftveränderung angeraten.

Am Tage nach diesem Abschied, der ihm ganz unerklärlich vorkam, lernte Herr X die ganze Tragweite seines Unglücks kennen. Die Verzweiflung seiner Frau sagte genug. Weit entfernt, sie zu verbergen, breitete sie sie vor ihm aus. Sie sagte ihm alle Schande ins Gesicht, sie machte ihm Vorwürfe-, kein Wort gegen den Treulosen; alle Wut der verlassenen Geliebten richtete sich gegen den Unschuldigen.

Wer schuld sei, daß er gegangen war? Wer sich zwischen sie gestellt habe wie eine Mauer... mit der trägen Macht erworbener Rechte... eine berechtigte Leidenschaft zu unterdrücken? Konnte man wissen ... vielleicht hatte Herr X in plötzlich erwachter Eifersucht dem andern zu verstehen gegeben, daß er sofort die Stadt verlasse... Er, der Gebieter. Und mit welchem Recht? Ihrer beider Liebe sei rein gewesen, in keiner Weise ein Unrecht gegen ihn. Dieser furchtbare Verdacht gegen eine anständige Frau hätte hundertmal verdient, daß sie es sich angelegen sein ließe, ihn zu rechtfertigen. Die Worte, die Gebärden, das Schweigen der jungen Frau würden in Hinkunft nur mehr den einen Sinn haben: „Ihn liebe ich. ich kann mir nicht helfen.“

Herr X bezwang seinen Schmerz, er sagte sich, Liebesleid könne heilen, besonders bei einer launenhaften Frau und wenn cjer geliebte Gegenstand fern ist. Er umgab seine Gefährtin mit Vertrauen, mit Mitleid, mit tausend kleinen Rücksichten. Nichts entwaffnete sie merksamkeit war ihr unangenehm. Sie erhob einen unversöhnlichen leeren Blick zu ihm, der unverhüllt zu sagen schien: .Was willst du noch von mir? Er hat alles genommen.“

Wenn sie früher vor dem Fehltritt zurückgeschreckt war, so bereute sie heute ihre Feigheit. Jetzt wünschte sie die Schande und ihren Druck herbei. Schamlos bedauerte sie, nicht ihr Mal an sich zu tragen. Und sie beschloß, ihre Rache so weit zu treiben, daß sie ihren Gatten an den Fall glauben ließ, den sie versäumt hatte, und beging in der Vorstellung die Sünde in sejnen Armen.

So war es geschehe. Das Trugbild hatte Gestalt angenommen. Sie war wirklich eine Ehebrecherin. Herr X brauchte nur in ihren Augen zu lesen.

Die folgenden Tage erschien sie ihm wie wahnsinnig. Entweder floh sie Ihn, weil sie sich schämte, oder sie starrte ihn schamlos an.

.Lies doch, lies dochl Getraue dich, zu lesenl“

Stundenlang saß sie am Fenster, seufzte, schien zu träumen, nahm in seiner Gegenwart irgendeinen alten Brief zur Hand, den er am Papier erkannte, und las ihn mit sichtbarem Genuß. Schließlich schob sie ihn unter das Kleid auf die bloße Haut.

Es kam zu keiner Aussprache zwischen Ihnen. Fragte er sie so behutsam und zart wie möglich um die Ursache ihrer üblen Laune, so lenkte sie die Frage ab. Sie fürchtete nur zu sehr, nicht standhalten zu können vor seiner Beständigkeit, seinem Verzeihen oder einfach vor seinen Tränen. Sie mauerte ihn in seine Verzweiflung ein und verfolgte sein fortschreitendes Ersticken aus seinem Gesicht. Sie wünschte nicht seinen Tod — man stirbt nicht an Liebe, sonst wäre sie schon gestorben —, aber es war gerecht, daß er das quälende Leid teilte, welches er verursacht hatte.

Zwischen ihnen stand ein dreijähriger Knabe, den das Kindermädchen morgens und abends ins Zimmer der Erwachsenen brachte. Die Mutter nahm ihn sofort in Beschlag und zeigte ihm irgendein Spiel. Zum Vater sagte sie nur: „Küsse ihn nicht so viel... das ist nicht gesund.“ Dann übergab man ihn wieder dem Mädchen. Die angefangene Partie vertrug keinen Aufschub.

Frau X wird nie wissen, was der Mann gelitten, den sie getötet hat. Er hatte verzichtet auf das Fragen und auf das Wissen, hatte darauf verzichtet, seine Frau zu heilen und sich selbst zu heilen, sich zu bedauern und sogar sie zu bedauern. Wenn er zufällig den Reisenden getroffen hätte, würde er ihn gebeten haben, wieder zu ihr zurückzukommen: einen andern Weg sah er nicht mehr. Er trug seinen Kummer am Morgen mit sich; er ließ ihn den ganzen Tag nicht von sich, und wenn er ihn abends wieder nach Hause brachte, war er nur schwerer geworden. Er drehte und wendete ihn nach allen Seiten und schien fast mit ihm eins zu werden. Er wurde für ihn allmählich unbestimmbar wie seine Milz, seine Leber, die irgendwo in seinem Körper lag, aber wie eine Leber, von der man weiß, daß sie krank ist und einem eines Tages einen Streich spielen kann. Hatte er sich drein-gefunden? Oder würde das Drama eine plötzliche Wendung nehmen?

Frau X erinnerte sich nicht mehr genau der Gründe, die sie bewogen haben, die Ereignisse ihrem geheimnisvollen Ausgang zuzutreiben. Eines Abends im Herbst, ehe ihr Gatte zu Tisch nach Hause kam, nahm sie ein Tuch und ihren Hut und kritzelte auf ein Blatt Papier:

„Lebe wohl. Ich gehe zu meinem Geliebten. Verzeih mir.“

Das Blatt legte sie auffällig mitten auf den Tisch im kleinen Salon und eilte die Treppe hinunter. Ihr Kind zu umarmen, vergaß sie.

Sie ging übrigens nirgends hin. Sie war ohne Gepäck weggegangen und wußte die jetzige Wohnung des Geliebten nicht. Einen Augenblick dachte sie daran, in der früheren Wohnung zu fragen, aber die Hausmeisterin würde wie gewöhnlich sagen, sie wisse nichts. Da ging sie zum Bahnhof.

Sie suchte eine Weile auf dem Fahrplan, konnte sich aber offenbar nicht entschließen, einen der Züge zu benützen, denn sie verließ die Halle und setzte sich draußen auf eine Bank. Da blieb ie wie verloren zwei Stunden lang sitzen, ohne den Schatten eines Gedankens; das Gehirn in ihrem Kopf war wie aus Holz. Dann weinte sie lange. Schließlich ging sie wieder in die Halle hinein, kehrte aber endlich schleppenden Schritte nach Hause zurück.

Ob sie hoffte, das Blatt Papier wieder an sich nehmen zu können? Sie hatte kein Gefühl für die Zeit und stellte sich offenbar vor, sie sei eben nur gegangen und wiedergekommen. Aber es war bereits zehn Uhr, und das Blatt lag nicht mehr auf dem Tisch. Herr X war gleich nach dem Heimkommen ohne Hut wieder fortgegangen.

Die Angst jener Nacht dauert noch an. Es muß so sein, daß sie immer andauert. Seit jener Nacht hegt sie keinerlei Zweifel mehr. Die äußeren Umstände ändern nichts an der vollendeten Tatsache. Auf welche Weise er sich auch getötet hat, jedenfalls lebt der Unglückliche nicht mehr. Das Schicksal hat seinen Lauf genommen. Als die Mörderin wieder zu Bewußtsein gekommen ist, hält sie ein Ende der schweren Kette in beiden Händen.

Sie hat diesen Tod nicht gewollt. Aber sie hat alles gewollt, was ihn unvermeidlich machte. Sie hat diesen Mann gewollt und hat seinen Nebenbuhler gewollt. Sie hat die Verzweiflung des einen gewollt, um sich für die Treulosigkeit des andern zu rächen, um sich zu rächen für ihre beschworene und gehaltene Treue, ihre Treue zum gegebenen Versprechen, zum Gesetz und zum Sakrament.

Sakrament, das ist ein Wort, das sie nicht gesucht hat, und jetzt tritt es urplötzlich aus einer höheren Welt vor sie. Sie hat es nicht gehört seit dem Tage ihrer Trauung an den Stufen des Altars. Sie hat es nicht ernst genommen, obgleich sie sich für eine gute Christin hielt. Sie hat es in der Folge stets vermieden, ihren Zufallsbeichtvater in das Geheimnis einer Schwäche einzuweihen, die sie nicht für Sünde hielt; oh, er brauchte sie nicht an ihre Pflichten zu erinnern! Aber das Sakrament hielt sie nun fest, jetzt zweifelte sie nicht mehr daran; das Sakrament war es, wogegen sie sich vergeblich auflehnte; und das Sakrament ist es, das bewirkt, daß sie ihr Opfer beweint und daß der verhaßte Gatte mit dieser Kette an ihren Armen zerrt.

Als man ihr den Leichnam bringt — aufgequollen und unkenntlich —, schließt sie die Augen; aber sie wird nie mehr aufhören, ihn zu sehen.

Es ist noch nicht genug Strafe für sie, daß am andern Ende der Kette ein Toter hängt. Tiefer als das Wasser, daß sich wieder schließt, tiefer als der Grund des Wassers, weiter als der Tod, der seine Beute erfaßt hat, sinkt der Mann hinunter und verliert sich im Abgrund. Das Gesetz der Folgen lastet unaufhörlich. Im Zweifel und aus Rücksicht auf die Familie hat die Kirche die Annahme, es handle sich um einen Unfall, gelten lassen. Dem Leibe wird ein kirchliches Begräbnis zuteil. Aber die Seele des Verstorbenen? Wer sich selber das Leben nimmt, stirbt ganz und gar. Der Tote ist so tief hinuntergesunken, wie er hinuntersinken konnte; unter dem Wasser, unter dem Grabe ist die Hölle.

„Die ewige Hölle! Welch sinnverwirrendes Grauen! Zweifach Mörderin: sie hat den Leib und mit ihm die Seele getötet.“ Die verwitwete Dame zieht die schweren Schleier enger um das Geheimnis, das sie zermürbt: alle Einzelheiten sind ihr gegenwärtig, zu einem Dickicht verflochten wie das Astwerk in einem Walde, und kein Pfad, keine Lichtung. Das Kind erwacht, lächelt. „Ob sie wieder zu leben beginnen soll? Sie sorgt sich um nichts mehr als um die Ewigkeit.“ Aus dem Roman: „Die Spiele des Himmels und der Hölle“; mit Bewilligung des Verlages A. Pustet, Graz.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung