„In der Freiheit bin ich ein Gefangener gewesen, in der Gefangenschaft bin ich frei geworden nach den Worten des Herrn: So euch der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei!”
Zweimal hat der junge Kommunist Alfred Rabofsky in der neunmonatigen Dauer unserer ständigen Begegnungen in seiner Todeszelle das Wort Jesu Christi im Johannesevangelium, Kapitel 8, Vers 33, ausgesprochen, das erste Mal am Anfang unserer Beziehungen als ein ihm völlig unverständliches und dunkles Wort, das er kopfschüttelnd aus meinem Losungsbüchlein las, das zweite Mal am Ende unseres Beisammenseins, kurz vor seinem Tode, als ein Wort persönlich erlebter Gottesgewißheit.
Wie es anfing? Wie es zur Wendung kam? Wie aus der Wendung die Vollendung wurde?
Als ich eines Tages in der Zelle Nr. E 25 einen evangelischen Gefangenen besuchte, traf ich denselben nicht mehr als Einzelhäftling an. Ein „Neuer” war in seiner Zelle angekommen, der bei meinem Eintritt sofort eine stramme Haltung einnahm. Offenbar vermutete er in mir eine hohe Persönlichkeit des Gerichtes oder der Gefangenenhausdirektion. Aber sofort wich die stramme Haltung des Körpers einer natürlichen Lockerung der Glieder, als mich der alte Insasse mit den Worten: „Grüß Gott, Herr Pfarrer”, willkommen hieß. „Also ein Pfarrer ist jetzt da!” Rabofsky sprach diesen Satz nicht aus, aber ich las ihn in seinen Augen geschrieben. Und ich las noch mehr in seinen Augen, und zwar so ziemlich die richtigen Gedanken, wie mir Rabofsky viel später einmal zugab. „Der ist uns noch abgegangen!” Vom Aerger getrieben, rannte er in der engen Zelle hin und her und sah mich bald von rechts, bald von links an, als könnte er auf diese Weise irgend etwas Wissenswertes über meine Person erfahren. Nach einer Begrüßung meines alteingesessenen Beichtkindes wurde in einem günstigen Moment auch Ra- bofskys vorbeischlenkernde Hand schnell erhascht und herzhaft gedrückt. Er hielt überrascht einen Augenblick still, ich löste den Drück unserer Hände; und als hätte der Hände- drtick eine zusätzliche motorische Kraft in Gang gesetzt, verdoppelte jetzt der Losgelassene das Tempo seiner Schritte. Ich aber überreichte meinem alten Bekannten eine Handausgabe des zweiten Teiles der Bibel. Wie auf ein militärisches Kommando blieb Rabofsky ruckartig vor mir stehen und mit einer verächtlichen Miene, die man nicht mit Worten, sondern nur mit der Kamera wiedergeben kann, rief er: „Was haben Sie uns da gebracht? Ein Neues Testament? Hätten Sie uns lieber ein Maschinengewehr gebracht, da war’ uns mehr geholfen gewesen!” Ich pflichtete ihm bei: „Wenn ich mich so ganz in Ihre Lage hineindenke, kann ich Ihren Wunsch. schon verstehen.” Er sah mich verdutzt an und, des Wanderns müde geworden, setzte er sich auf einen Strohsack.
„Wir wollen jetzt einmal das Wort Gottes zu uns reden lassen!” Ich schlug das Markusevangelium auf und begann laut im 6. Kapitel zu lesen.
„Liebe Freunde”, nahm ich dann das Wort, „es kommt mir nicht in den Sinn, euch über diesen Bibeltext eine Predigt zu halten.” Und indem ich aus meiner Tasche einen Brief hervorzog, setzte ich fort: „Auch interessiert euch eine Nachricht von der Front viel mehr als eine Predigt.”
Den Feldpostbrief hatte meine Schwester vorige Woche von ihrem einzigen Kind, dem Unteroffizier August Rieger, erhalten. Die beiden Todeskandidaten richteten erwartungsvoll ihre Augen auf mich und ich begann zu lesen.
Als ich mit der Vorlesung zu Ende war, sprach niemand von uns dreien minutenlang ein Wort. In dieser Stille kam mir das Wort des Herrn in den Sinn: Wo zwei oder drei versammelt sind in Meinem Namen, da bin Ich mitten unter ihnen. Ich erhob mich: „Gott befohlen, liebe Brüder, und auf Wiedersehen!” Rabofsky begleitete mich bis zur Türe.
Das Losungsbüchlein
Nicht lange nach diesem ersten Besuch wurde der evangelische Zellengenosse Rabofskys enthauptet. Wie mochte jetzt dem völlig Einsamen auf Zellt E 25 zumute sein? Von dieser Frage getrieben, betrat ich tags darauf Rabofskys Zelle.
„Der Evangelische ist schon fort!” rief mir der Zurückgebliebene entgegen, als ich noch in der Türe stand.
„Aber Sie sind ja noch da”, erwiderte ich und tiat in den kleinen Raum der Zelle ein,
„und da wir uns nun schon einmal kennengelernt haben, will ich Sie gerne weiter besuchen, wenn es Ihnen recht ist.”
„Ja, dürfen S’ das?” gab Rabofsky zurück, „Sie sind doch ein Pastor und ich bin katholisch. Zwar glauben tu ich gar nichts, das dürften Sie schon gemerkt haben, aber immerhin bin ich aus der Kirche noch nicht ausgetreten; und wenn Sie als Pastor zu einem Katholischen kommen, da kriegen S’ am End’ noch a Gewirks mit der Konkurrenz!”
„Nein, das habe ich nicht zu befürchten. Der katholische Priester des Hauses ist mir sehr gut gesinnt und weiß, daß ich die Häftlinge seiner Konfession nicht zur evangelischen Kirche bekehren will. Er hat daher nichts dagegen, wenn ich auch Katholiken besuche. Aber wenn es Ihnen nicht recht ist, werde ich mich Ihnen nicht aufdrängen.”
Ich wandte mich wieder zur Türe, aber schon zog mich Rabofsky mit den Worten zurück: „Also, wenn es Ihnen nichts ausmacht, so nehmen S’ halt, bitte, Platz.”
Und schon war die Zellentüre ins Schloß gefallen, das nur noch der Aufseher auf mein Glockensignal von außen öffnen konnte. Da fiel mein Blick auf das kleine Regal, das an der Wand der Zelle in greifbarer Höhe angebracht war. Es diente zur Aufbewahrung der ganz wenigen Gebrauchsgegenstände, wie Wasserbecher, Zahnbürste, Kamm, Seife und dergleichen. Ueber den Rand des Regales ragte das Neue Testament hervor, das ich bei meinem letzten Besuch mitgebracht hatte.
„Sehen-Sie doch”, rief ich aus „da hatlhnen Ihr Zellengenosse eine Erbschaft vermacht!” Und indem ich das handliche Buch auf den Tisch legte, fuhr ich fort: „Sie haben doch bestimmt dieses Buch noch niemals in Ruhe gelesen. Würde Sie das nicht interessieren?”
„Herr Pfarrer, seien Sie mir nicht böse, aber eine schöne Reiseschilderung wäre mir lieber. Wissen Sie, ein Buch von einem Afrikaforscher oder so etwas. Aber das Neue Testament? Schau’n Sie, über solche Märchen, wie sie da erzählt werden, bin ich hinaus.”
„Da sehe ich wieder einmal, was für ein schlechter Seelsorger ich bin”, fiel ich ein. „27 Jahre stehe ich schon im Seelsorgedienst und mache einen Fehler nach dem ändern! Natürlich können Sie nicht das ganze Wort Gottes auf einmal vertragen! Das ist jä für Sie viel zu schwer verdaulich! Neugeborene Kinder kann man ja auch nicht gleich mit fester. Nahrung füttern. Die kriegen löffelweise die Milch eingeflößt. So werden auch Sie von mir das Wort Gottes nur löffelweise bekommen, abgepaßt in kleinen und kleinsten Mengen.”
Jetzt zog ich ein kleines geheftetes Büchlein aus der Tasche. „Sehen Sie, hier habe ich schon das Wort Gottes in kleinen Mengen, für jeden Tag des Jahres in ganz kleiner Dosis. Sehen Sie, Rabofsky, das ist das Losungsbüchlein! Und nun sagen Sie mir noch schnell: Wann haben Sie Geburtstag? Schauen wir einmal nach, welches Losungswort für diesen Tag im Büchlein steht!”
„Ja”, rief er, und griff mit beiden Händen nach dem Büchlein. So, dachte ich, jetzt ist es richtig. Vor wenigen Minuten hat er das Wort Gottes zurückgewiesen, jetzt greift er mit beiden Händen darnach. Rabofsky aber , formte mit halblauten Lippen den Satz aus dem Johannesevangelium: „So euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei!” (Joh. 8, 36).
Verständnislos sah er zu mir auf. Ich versuchte, ihm die Bedeutung dieses Satzes klar zumachen. Die Zeit drängte. Meine Ausführungen hinterließen offenbar keinen tieferen Eindruck. Mehr aus Gefälligkeit gegen mich als aus innerem Verlangen warf Rabofsky die lässige Bemerkung hin: „Lassen S’ mir halt dieses Büchl da!” Aus der Erfüllung dieser Bitte wurde ein neunmonatiger Religionsunterricht. Neun Monate lang hatte Alfred Rabofsky das rechtskräftig gewordene Todesurteil in der Tasche, ehe es vollstreckt wurde. In dieser langen Wartezeit erhielt er durchschnittlich zweimal in der Woche meinen Besuch.
Seine Mutter kommt zu mir
Eines Tages klopfte es am frühen Morgen an meiner Wohnungstüre. Eine liebe, bescheidene Frau begehrte mich zu sprechen. Es war Rabofskys Mutter.
„‘Herry Pfarrer, mein Sohn hat mir in der Sprechstunde zugeflüstert, daß Sie den Gefangenen Eßwaren bringen. Darf ich Ihnen auch für ihn etwas mitgeben?”
„Ich bin gerne dazu bereit.”
Und schon zog die brave Mutter aus ihrer Einkaufstasche ein kleines Päckchen hervor. Als ich den Inhalt desselben geprüft hatte, äußerte ich: „Also davon wird er nicht satt werden. Das nächste Mal dürfen Sie schon etwas mehr bringen!”
Dem Mütterlein traten jetzt die Tränen in die Augen. Ich lud sie ein, Platz zu nehmen, legte ihr leise meine Hand auf die Schulter und sprach: „Ich verstehe Ihren Kummer, Frau Rabofsky, das ist gewiß für eine Mutter ein großes Leid, wenn der Sohn zum Tode verurteilt wurde!” „Das ist noch nicht das Schlimmste”, war die verblüffende Antwort.
„Ja. was ist denn dann noch schlimmer?” fragte ich beinahe entsetzt.
„Der Wahnsinn!” stieß sie hervor. „Er schreibt in letzter Zeit sehr fromm. Ich erkenn’ ihn gar nicht mehr. Mein Fredi war doch niemals so! Jetzt hat er religiösen Wahnsinn bekommen. Das ist ja auch kein Wunder, wenn man bedenkt, was er seit seiner Verhaftung schon alles mitgemacht hat.”
„Nein, Frau Rabofsky”, rief ich bestimmt aus, „Ihr Sohn ist nicht wahnsinnig geworden (und jetzt schlug ich die Bibel auf), das hat er erlebt, was schon vor etwa 1900 Jahren der Apostel Paulus als sein eigenes Erlebnis an die Gemeinde zu Korinth geschrieben hat. Da, bitte, lesen Sie selbst — es ist sogar fett gedruckt —, im 2. Korintherbrief, Kapitel 5, Vers 16, steht geschrieben: ,Ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden.” An Ihrem Fredi ist durch Gottes Gnade alles so gründlich neu geworden, daß sogar die Mutter ihren Sohn gar nicht mehr wiedererkennt. Aber, Frau Rabofsky, ob Sie an Gott glauben oder nicht: Ich frage Sie nur eines: Was ist Ihnen lieber: Wenn Ihr Sohn ohne Glauben im Kerker trostlos und verzweifelt auf sein Ende wartet oder wenn er Ihnen getrosten Herzens schreibt: „Mutter, sei außer Sorge, ich bin getrost und gefaßt, ich bin als Gefangener ein freier Mensch geworden nach den Worten Christi: ,So euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei.’? Frau Rabofsky, ich frage Sie jetzt noch einmal, unabhängig davon, was Ihnen die Religion bedeutet: Zuversichtlich oder verzweifelt? Was von beiden wünschen Sie Ihrem Sohn?”
„Natürlich wünsche ich ihm nur das, was ihn beruhigt und stark macht.” Mit diesen Worten drückte mir die tapfere Mutter Rabofsky die Hand.
Rabofskys Jüngster Tag
Man schrieb den 19. September 1944. Gott sei Dank war heute früh der telephonische Anruf: „Herr Pfarrer, wir brauchen Sie heute! ausgeblieben. Ansonsten bedeutet dieser Morgengruß aus dem Landesgericht: Heute abend um 18 Uhr hält der Scharfrichter wieder einmal blutige Ernte. Ich bringe dem Leser in Erinnerung, daß ich den doppelten Dienst im Landesgericht und in meinem Pfarramt nur so versehen konnte, daß die Versorgung beider Dienststellen der aufeinanderfolgenden Tage miteinander wechselte. Der Besuch der Gefangenen begann meistens um 8 Uhr, mußte aber spätestens um 16 Uhr beendet sein. Nun war gerade der 19. September für den Dienst im Pfarramt fällig. So hielt ich denn vormittags meine Amtsstunden im Pfarramt ab. Da aber für Nachmittag keine Funktionen angesetzt waren, begab ich mich um 14 Uhr, in ausnahmsweisem Gegensatz zu meiner Diensteinteilung, ins Landesgericht, um noch zwei Zellenbesuche zu erledigen, die mir am Vortag wegen längeren Aufenthaltes in anderen Zellen abzustatten nicht mehr möglich gewesen waren. Ich begab mich zunächst in die Aufnahmekanzlei und erkundigte mich, ob ein neuer Häftling evangelischen Bekenntnisses eingeliefert worden sei. „Das nicht”, gab mir der Beamte zur Antwort, „aber einen schwarzen Tag haben wir heute wieder.” Was soviel bedeutete, daß abends wieder Hinrichtungen stattfinden werden.
„Ja warum wurde ich da heute früh nicht gerufen?” fragte ich bestürzt.
„Da wird eben heute kein Evangelischer dabei sein. Sehen Sie, bitte, einmal selbst nach!”
Mit dieser Aufforderung reichte mir der Wachebeamte die Liste. Schrecklich! Da war auch der Name Alfred Rabofsky zu lesen. Jetzt wußte ich: Seit 9 Uhr hatte Rabofsky die Gewißheit, daß um 18 Uhr sein Kopf unter dem Beil der Guillotine fallen werde. Und jetzt war es bald 15 Uhr. Aber, nun schnell zu ihm! Im Gang zu den Armensünderzellen stieß ich auf den diensthabenden Wachtmeister.
„Was, Sie sind schon da?” empfing er mich mit erstaunten Augen. „Das gibt’s doch gar nicht! Wir haben ja erst vor fünf Minuten in Ihrer Wohnung angerufen. Da hat sich eine Damenstimme gemeldet und gesagt: Der Herr Pfarrer ist vor einer halben Stunde fortgegangen. Wohin er gegangen ist, weiß ich nicht. Und jetzt stehen Sie auf einmal vor mir!”
„Ich bin eben, wie die Menschen so sagen, .zufällig’ hier. Aber warum wollten Sie mich eigentlich rufen?”
„Das hat der katholische Seelsorger, unser Oberpfarrer Köck, veranlaßt. Er war da bei einem Raboflky und hat ihm beistehen wollen. Er war auch lange bei ihm. Dann kam er zu mir und sagte: Telephonieren Sie dem Herrn Pfarrer Rieger, er soll sofort zum Rabofsky kommen. Der sitzt bereits in der Armensünderzelle und will ihn unbedingt noch einmal sehen.” Zwei Minuten’später stand ich vor Rabofsky. Bei meinem Eintritt in die Zelle sprang er auf und eilte mit den Worten auf mich zu: „Gott sei Dank, daß Sie gekommen sind. Ich habe schon befürchtet, daß man Sie nicht erreichen wird.”
„Man hat mich auch nicht mehr erreicht”, gab ich zurück, „als man meine Wohnung anrief, war ich bereits unterwegs zu Ihnen. Aber gerade die Tatsache, daß wir jetzt ohne menschliches Zutun beisammen sind, ist uns ein Beweis dafür, daß wir nach einem höheren Willen jetzt zusammengehören!”
„Ja”, pflichtete mir Rabofsky bei. „Und jetzt können Sie mir meine Bitte auch nicht mehr abschlagen. Heute müssen Sie mir das evangelische Abendmahl reichen!”
Schon einmal hatte Rabofsky in der letzten Zeit seiner Gefangenschaft diesen Wunsch geäußert. Da er aber gesetzlich der katholischen Kirche angehörte und in ihr auch bis zu seinem Tode verblieb, begriff er meine Ablehnung. „Ich will nicht an einem Bruch des konfessionellen Friedens in diesem Hause schuld sein.” Mit dieser Erklärung beugte er sich damals meinem Widerstand. Aber jetzt beharrte er darauf.
„Ich werde vor allem einmal mit Ihrem zuständigen Priester reden”, ergriff ich wieder das Wort.
„Aber der Herr Pfarrer Köck hat ja mit mir schon darüber gesprochen Der hat nichts dagegen. Er selbst hat Sie doch sogar rufen lassen.”
„Trotzdem bringt mich Ihre Bitte in eine arge Verlegenheit”, fuhr ich fort, „denn ich war ja auf diese Situation gar nicht gefaßt. Ich habe keinen Talar mit, ich habe keine Hostie und keinen Abendmahlskelch zur Hand …”
„Aber, Herr Pfarrer”, unterbrach mich Rabofsky, „das alles brauchen wir doch nicht! Hat der Herr Jesus einen Talar gehabt, als Er Seinen Jüngern das heilige Abendmahl gespendet hat? Das Gewand, das Er täglich getragen hat, war Sein Talar. Und eine Hostie? Die hat es doch damals noch gar nicht gegeben. Das ist doch erst viel später in der Kirche aufgekommen. Ich habe in der Bibel gelesen: Er nahm das Brot und gab es Seinen Jüngern und sprach: Das ist Mein Leib. Das Brot, Herr Pfarrer, das dort auf dem Tische lag, hat Er genommen! Und schauen Sie, wieviel Brotstückerl unserer letzten Mahlzeit da auf dem Tisch liegen. Nehmen Sie so ein Bröckerl Brot und wir haben das heilige Abendmahl, wie es der Herr Jesus selbst gehalten1 hat; Und das Ladkėrl Wein, das wir brauchte, gibt Ihnen bestimmt oben im Spital die Schwester. Und wenn Sie statt dem goldenen Kelch ein Wasserglaserl nehmen, wird der Heiland drüber bestimmt nicht bös sein!”
„Rabofsky, wenn Sie solchen Glauben haben, dann bekommen Sie heute von mir das heilige Abendmahl so, wie Sie es sich jetzt gewünscht haben: ohne Talar, ohne Hostie, und doch den wahrhaftigen Leib und das wahrhaftige Blut unseres Erlösers “
Als ich auf den Flur trat, um das Glas mit Wein zu besorgen, stand Oberpfarrer Köck vor mir. Mit einer abwehrenden Handbewegung schnitt er mir jedes Wort ab und erklärte mit gütiger Stimme:
„Ich weiß schon alles!”
Jetzt zog er einen kleinen dosenförmigen Behälter aus der Tasche: „Hier schenke ich Ihnen eine Hostie.” Und mit den Worten: „Bei euch kriegen ja die Kommunikanten auch ein Schluckerl Wein”, drückte er mir ein kleines Fläschchen mit Wein in die Hand. Nur die heiligen Gefäße, die darf ich Ihnen nicht geben!”
„Aber, Herr Oberpfarrer, ich bin ja auch so tief gerührt darüber, daß Sie in Ihrer brüderlichen Liebe schon so weit gegangen sind. Ich danke Ihnen für dieses Entgegenkommen von ganzem Herzen!”
„Sie brauchen sich bei mir gar nicht zu bedanken!” wehrte er ab, und mit rührender Offenherzigkeit entschuldigte er sich wohl auch vor seinem eigenen Gewissen ob seiner wohl sehr großzügigen Handlungsweise mit den Worten:
„Ich habe mir halt gedacht: evangelisches Abendmahl ist immerhin noch besser als gar nichts. “
Nun suchte ich noch im Wachzimmer ein Wasserglas und für die Hostie einen Teller. Frsteres stand griffbereit auf dem Tisch. Ein Teller aber war nicht vorhanden. Da langte der Beamte eine kleine, kreisrunde Käseschachtel vom Fenstergesims herab, hob den Deckel ab und reichte ihn mir: „Herr Pfarrer, da haben Sie einen tadellos sauberen Papierteller, da können Sie ruhig die Hostie darauflegen. Das macht sich immerhin besser als der bloße Tisch.” Mittlerweile hatten die Aufseher in der Todeszelle Kruzifix und Kerzen aufgestellt. Ich stellte das Glas mit Wein dazu und legte den umgedrehten Deckel der Käseschachtel daneben. Bevor ich noch die Hostie darauflegte, hob Rabofsky den Deckel auf, besah ihn von der anderen Seite und las darauf die Etikette der Käsefirma. Ich sehe heute noch sein müdes Lächeln, mit welchem er die eigentliche Bestimmung dieses Deckels erkannte, und höre ihn noch immer sagen, während er denselben wieder zurücklegte:
„Wenn unser Heiland bei Seiner Geburt mit einem Stall zufrieden war und sich in eine Krippe legen ließ, dann hat Er auch nichts dagegen, wenn Sie Ihn jetzt auch auf diesen Deckel legen.”
Nach der Feier des heiligen Abendmahles, unmittelbar nach dem Empfang des Segens, erhob sich Rabofsky von seinen Knien und sprach:
„Ich danke Ihnen, lieber Herr Pfarrer, für alles, was Sie mir in den letzten Monaten wollte, habe ich mir vorgestellt, wenn i c h jetzt der Herrgott wäre und sehen würde, daß unten auf der Erde der Alfred Rabofsky zum Beten anfängt, dann möchte ich zu ihm sagen: Du bist doch ein ganz ehrloser Lump. Als es dir gut gegangen ist, hast du mich geleugnet und verfolgt und verachtet, und jetzt, wo es dir schlecht geht, jetzt kommst du zu mir? Und da ist eine Art Schamgefühl über mich gekommen. Ich habe die Hände wieder sinken lassen. Ich hab’ nicht beten können. Und Sie, Herr Pfarrer, haben zu mir gesagt: Aber, mein lieber Freund, das ist doch gar nicht wahr, was Sie mir da erzählen! S i e sind doch nicht zum Herrn gekommen, sondern das Umgekehrte war der Fall: der Herr ist doch zu Ihnen gekommen! Oder haben Sie mich jemals gerufen? Nein! Eines Tages stand ich ohne Ihren Wunsch vor Ihnen aufging. Rabofsky stand mit gefesselten Händen völlig ruhig da. Sein Gesicht verriet nicht die geringste Spur von Verzweiflung oder Todesangst. Er glich eher einem seltsam glücklichen Menschen, von dem alle Last des Lebens, alle Last der Verantwortung vor Gott und den Menschen abgefallen war. Es waren heilige Minuten des Schweigens. Etliche Male nickte er nur mit dem Kopfe und freundlichem Lächeln, als wollte er liebe Menschen grüßen, die jetzt in seiner Zelle an ihm vorüberiogen und die nur er allein zu sehen vermochte. Da näherten sich der Türe von draußen her wieder die schweren Schritte der Gerichtsdiener.
„Jetzt wird es ernst, Herr Pfarrer!” stellte Rabofsky fest.
Wir traten auf den langen Gang hinaus, ich ging an seiner Seite. Während seines Todesganges sprach er.
„Eines tut mir leid. Wenn ich am Leben geblieben wäre, hätte ich dem Herrn gedient. Ein Pfarrer hätte ich ja nicht’werden können, aber Sie hätten bestimmt einen Platz für mich gewußt, wo auch ich dem Herrn hätte dienen können. Daß das nicht mehr möglich ist, kränkt mich.”
„Das soll dich nicht kränken, mein lieber Bruder, auch drüben werden wir berufen sein, dem Herrn zu dienen, nur mit viel größeren Möglichkeiten, als sie uns hier geboten sind. Und wenn du das erfahren wirst, dann denke auch zurück an die schöne Freundschaft, die uns beide hier auf Erden noch zuletzt verbunden hat!”
„Herr Pfarrer”, rief jetzt Rabofsky, an der berüchtigten schwarzen Eisentüre angelangt, hinter der der Tod auf ihn lauerte, „so wie Sie mir in dieser Welt geholfen haben, so werde ich Ihnen drüben helfen!”
Das waren Alfred Rabofskys letzte Worte. Wenige Minuten später stand ich vor seinem geschlossenen Sarge.
(Die Berichtfolge wird fortgesetzt)